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Zitiervorschlag

Inklusive pädagogische Methoden für den Krippen- und Kita-Alltag

Für Vielfalt, Teilhabe und Bildungsgerechtigkeit

Henning Rosenkötter

 

Inklusion in Krippe und Kita umzusetzen ist eine herausfordernde Aufgabe, die mit vielen Fragen und Unsicherheiten verbunden sein kann. Die folgenden Denkanstöße, Hilfsmittel und Anregungen sollen helfen, Inklusion im pädagogischen Alltag Eingang zu gewähren und inklusive Prozesse anzustoßen.

Inklusion bezeichnet den Einschluss aller Kinder in eine Gemeinschaft. Das meint, dass alle gleichberechtigt an allen Tätigkeiten teilhaben und mitgestalten, unabhängig von ihren Fähigkeiten, ihrer nationalen und sozialen Herkunft, ihrem Geschlecht oder ihrem Alter. Inklusion betrachtet den einzelnen Menschen als Teil der demokratischen Gemeinschaft. Sie geht von der Besonderheit und den individuellen Bedürfnissen eines jeden Kindes aus und verlangt den Blick auf dessen ganze Persönlichkeit. Sie strebt an, dass alle Kinder und ihre Fachkräfte miteinander und voneinander lernen.

„Je unterschiedlicher die Kinder in einer Kita-Gruppe sind, umso mehr muss bei der pädagogischen Arbeit differenziert und individualisiert werden“. Befinden sich in derselben Gruppe Kinder mit unterschiedlichem Alter, muss nach dem Alter differenziert werden. Ein Großteil der Kinder mit Migrationshintergrund braucht Sprachförderung, aber auch viele einsprachig aufwachsende Kinder. „Ist ein Kind körperbehindert und ein anderes blind, gebrauchen sie bei vielen Aktivitäten eine besondere Betreuung. Und ist ein Kind intellektuell hochbegabt, findet es oft nur in der Interaktion mit der Fachkraft angemessene kognitive Anregungen“ (Textor, 2012).

Integration oder Inklusion?

Während Integration bemüht ist, alle „auffälligen Kinder“, etwa Kinder mit Behinderung oder Entwicklungsverzögerung, aber auch Kinder mit besonderen Begabungen in eine Gemeinschaft einzubeziehen, bedeutet Inklusion, jeden Menschen als Gleichen und Gleichberechtigten zu sehen, und dabei nicht einzelne als „besondere“ Menschen wahrzunehmen (Rosenkötter & Groschwald, 2021).

Inklusion nimmt keine Unterteilung in Gruppen vor. Die Unterschiede aller Menschen sollen nicht als ein zu lösendes Problem, sondern als ein Teil von Vielfältigkeit („Diversity“) betrachtet werden. Nicht „das Normale“ ist die Norm, sondern die Unterschiedlichkeit und die Gleichwertigkeit des Individuums (Albers, 2011). Nicht das einzelne Kind ist gezwungen, sich an vorhandenen Normen zu beweisen, sondern die Gesellschaft soll Strukturen schaffen, die es jedem Kind ermöglichen, sich in seinen wertvollen Leistungen zeigen und entwickeln zu können.

Neben der Anerkennung und Wertschätzung von Vielfalt nimmt der Begriff der Partizipation (Teilhabe) in der Inklusions-Diskussion einen breiten Raum ein. Voraussetzung für eine gelungene Teilhabe ist es, zunächst die Bedürfnisse eines Kindes zu erkennen. Dazu gehören alle Bedürfnisse in der Pflege und Betreuung, in der Bildung und in der Erziehung sowie die Teilnahme an allen Gruppenprozessen.

Neben guten Rahmenbedingungen, einem vielfältigen Netzwerk oder stabilen Unterstützungssystemen ist die Haltung der pädagogischen Fachkraft zur inklusiven Pädagogik besonders wichtig. Die pädagogische Haltung ist Voraussetzung für die Fähigkeit zur Gestaltung von Situationen und Prozessen, also für das professionelle Handeln. Nur dann werden eine gemeinsame Betreuung, Bildung und Erziehung von Kindern mit und ohne Behinderung, aus verschiedenen Kulturkreisen und sozioökonomischen Verhältnissen im Sinne von Bildungsgerechtigkeit möglich.

Ein wichtiges Ziel ist, dass die Kinder selbst erkennen, dass sie zusammen mehr erreichen als jedes allein, und dass jedes Kind etwas zur Gemeinschaft beitragen kann. Auf diese Weise lernen alle Kinder frühzeitig, sich selbst und andere in ihrer Individualität zu achten und zu akzeptieren. Durch die Motivation zum gemeinsamen Spiel werden die Leistungsbereitschaft und die Selbstwirksamkeit aller Kinder als bedeutsamer Teil der Gruppe gestärkt.

Vorurteilsbewusste Bildung

Mit dem Ansatz der vorurteilsbewussten Bildung und Erziehung (Derman-Sparks, 2022) wurde vom Berliner Institut für Situationsansatz ein Praxiskonzept im Rahmen von „Kinderwelten“ entwickelt und erprobt. Lernen und Arbeiten mit der vorurteilbewussten Bildung und Erziehung heißt, sich der Verknüpfung des Rechtes eines jeden Kindes auf Bildung und des Rechts auf Schutz vor Diskriminierung bewusst zu sein. Damit wird deutlich: Unterschiede sind gut und wichtig, diskriminierende Vorstellungen und Handlungen nicht! Vorurteilsbewusste Bildung und Erziehung bezieht alle Aspekte ein, die im Leben von Kindern bedeutsam sind.

Der Ansatz orientiert sich an vier Zielen (Wagner, 2022):

  1. Alle Kinder in ihrer Identität stärken,
  2. Allen Kindern Erfahrungen mit Vielfalt ermöglichen,
  3. Kritisches Denken über Gerechtigkeit, Gerechtigkeit und Diskriminierung anregen,
  4. Aktivwerden gegen Unrecht und Diskriminierung.

Vorurteilsbewusste Bildung und Erziehung (Prengel, 1995) bedeutet praktisch

  • einen langwierigen Prozess, in dem ein individuelles und ein institutionelles Lernen rund um Inklusion eingeleitet wird,
  • den Anspruch, Ziele und Prinzipien systematisch auf die eigene Kindertagesstätte zu beziehen,
  • Partner und alle Verantwortungsebenen in die Arbeit einzubinden,
  • einen Zeitaufwand für eine kontinuierliche Selbst- und Praxisreflektion,
  • zum Abbau von Hierarchien beitragen,
  • sprachlich alle Kinder zu stärken und niemanden herabzusetzen,
  • alle Lebenslagen gleichwertig einzuschätzen,
  • vorurteilsbewusstes Denken bei allen Kindern zu entwickeln.

Einführung der Inklusion in der Einrichtung

Ein wichtiges Hilfsmittel bei der Einführung der Inklusion in Kindertageseinrichtungen stellt der Index für Inklusion (GEW, 2015) dar. Dieser Index ist eine offene Sammlung von Indikatoren und Fragen. Er ist in mehrere Abschnitte („Dimensionen“) gegliedert, die nach und nach und modular in beliebiger Reihenfolge von jedem Team einer Einrichtung bearbeitet werden kann. Die Ziele sind:

  • inklusive Kulturen schaffen,
  • inklusive Strukturen etablieren,
  • inklusive Praktiken entwickeln.

Dieses Hilfsmittel sollte allen Einrichtungen zur Verfügung stehen. Der Träger oder Berater*innen können zur Bildung von Index-Teams ermutigen und in der Anwendung beraten. Ein erster Schritt könnte diese Aufgabe sein: Sammeln und diskutieren Sie in ihrem Team alle wichtigen Fragen, die sich aus dem Thema „Inklusive Krippe oder Kita“ ergeben.

  • Reicht unsere Ausbildung aus, um die besonderen Bedürfnisse aller Kinder zu erkennen und mit Kindern anderer Kulturen oder aus schwierigen sozialen Bedingungen auszukommen?
  • Wie soll ich einem Kind mit Entwicklungsstörungen angemessen begegnen, wenn ich nach dem Gleichheitsprinzip keine Unterschiede machen soll?
  • Braucht ein Kind mit einer Behinderung nicht andere Fördermaßnahmen als ein „normales“ Kind?
  • Kann ich alle Kinder gleich behandeln und fördern, wenn sie doch so unterschiedliche Ausgangspositionen haben?
  • Darf ich Angst vor dem Anblick eines kranken oder behinderten Kindes haben?
  • Wer hilft mir und wer nimmt mir Arbeit und Verantwortung ab?
  • Wie kann ich alle Kinder gleich behandeln und wertschätzen, ohne Herkunft, Geschlecht oder Entwicklungsstand zu betrachten und auch ohne dabei die Unterschiede zu negieren?
  • Wie kann ich Kindern, die sich unterschiedlich entwickeln, gleiche Spiel- und Lernangebote machen? Ein kognitiv schwächer entwickeltes Kind wäre damit überfordert und würde womöglich abwehrend oder scheinbar gleichgültig reagieren.

Um eine gefestigte Haltung zum Thema Inklusion zu entwickeln, eignen sich gezielte Fragen zur Reflexion. Über die folgenden Punkte könnten die Fachkräfte in Kleingruppen diskutieren:

1. Biografische Kompetenz & Selbstreflektion

Pädagogische Kompetenz erfordert in besonderem Maße, dass Sie sich mit den eigenen Erfahrungen, Werten und Normen auseinandersetzen, die im familiären, beruflichen und gesellschaftlichen Kontext vermittelt wurden und die Einfluss auf Ihre Entscheidungen und Handlungen haben. Nehmen Sie eigene Vorurteile ehrlich in den Blick. Überprüfen Sie die eigene Sprache auf Stereotype und Vorurteile.

2. Aktive & forschende Haltung

Ihr Alltag ist nicht von Konstanz und Vorhersehbarkeit geprägt. Natürlich gibt es Strukturen und feste Rituale, doch das wirklich Herausfordernde ist, dass man nie genau weiß, was einen erwartet. Sie müssen oft spontan und situativ entscheiden, was zu tun ist, und sich dabei auf Ihr Erfahrungswissen verlassen. Klar, sicher und authentisch zu sein sowie eine aktive und forschende Haltung zu haben, sind Voraussetzungen für ein gelingendes pädagogisches Handeln. Beschäftigen Sie sich mit dem Konzept der vorurteilsbewussten Erziehung.

3. Empathie, Responsivität & Feinfühligkeit

Empathie ist die emotionale Fähigkeit, sich in andere Menschen einfühlen zu können. Dabei ist die Erkenntnis wichtig, dass die wahrgenommenen Gefühle nicht die eigenen sind, sondern die einer anderen Person. Kinder brauchen Fachkräfte, die sie verstehen, Interesse an ihrer Entwicklung zeigen, ihnen Orientierung geben und sie wertschätzen. So entwickelt das Kind Interesse an sich und seiner Umwelt, sammelt Wissen und Erfahrungen. Benennen Sie möglichst viele Gefühle und überlegen Sie, wie Sie Kindern zeigen, welchen Ausdruck, welche Wirkung und welche Worte Gefühle haben.

4. Netzwerkarbeit

In den vergangenen Jahren sind die Anforderungen an die Arbeit frühpädagogischer Fachkräfte ständig gestiegen. Trotz Ihres hohen Engagements ist zu erkennen, dass Sie allein die Aufgaben der Inklusion nicht bewältigen können. Die Zusammenarbeit verschiedener Institutionen ist hier eine notwendige Voraussetzung. Diskutieren Sie, wie Sie mit möglichen Netzwerkpartnern in Kontakt kommen wollen und wie Sie Verabredungen zur Zusammenarbeit treffen werden.

Regeln & Strukturen schaffen

Folgende Hilfsmittel können Sie dabei unterstützen, allen Kindern Regeln und Strukturen zu vermitteln, die ihnen Sicherheit und Geborgenheit vermitteln.

  • Gestalten Sie ein Plakat für den Eingangsbereich, in dem ein Willkommensgruß in den verschiedenen Sprachen der Familien steht, evtl. eine Landkarte, Fähnchen verschiedener Nationen.
  • Versehen Sie alle Räume mit einem leicht erkennbaren Symbol und Namen (Bibliothek, Bauzimmer, Turnhalle). Markieren Sie Wege zu Räumen, die Kinder nicht leicht finden.
  • Kennzeichnen Sie Aufbewahrungsplätze für Spielmaterialien.
  • Erarbeiten Sie gemeinsam mit den Kindern Regeln und machen Sie diese für alle sichtbar (Plakat).
  • Gestalten Sie eine Info-Wand, an der die Kinder erkennen, welche Fachkraft heute in der Kita ist.
  • Halten Sie in der Kinder-Bibliothek mehrsprachige Bücher und CDs über Geschichten, Kinderverse, Geschlechtervielfalt oder Regenbogenfamilien vor.
  • Laden Sie Eltern ein, in ihrer Erstsprache eine kurze Geschichte zu erzählen oder vorzulesen.
  • Legen Sie eine Adressdatei mit Namen und Anschriften von unterstützenden Personen und Einrichtungen an: sonderpädagogische und andere pädagogische Einrichtungen, Frühberatungsstelle, Sozial- und Jugendamt, Psycholog*innen und Psychologische Beratungsstellen, Heilpädagog*innen, Logopäd*innen, Physiotherapeut*innen, Ergotherapeut*innen, Ärzt*innen und Kliniken, Frühe Hilfen, Sozialpädiatrisches Zentrum, Ortsbücherei, Sportvereine, Musikschule.

Vorgeschichte des Kindes

Versuchen Sie, so viel wie möglich über jedes einzelne Kind herauszufinden, um einen Überblick über seinen Entwicklungsstand zu erhalten, um es in seiner Identität zu stärken und ihm eine angemessene Lernumgebung zur Verfügung stellen zu können.

  • Wo ist das Kind aufgewachsen? In welchem Land, in welcher Stadt, in welchem Dorf?
  • Bringt es eine Migrationsgeschichte mit? Hat das Kind Fluchterfahrungen erleben müssen?
  • Was wissen wir über die Gebräuche und Erziehungsstile im Ursprungsland?
  • Hat das Kind Geschwister? Wie viele?
  • Wie sind die sozialen Rahmenbedingungen der Familie?
  • Sind beide Eltern berufstätig?
  • Muss die Familie mit Krankheit und Behinderung umgehen? Hat sie ein soziales Netzwerk?

Nach aller Erfahrung ist es unmöglich, alle Fragen, die sich bei Aufnahme eines Kindes stellen, auswendig zu wissen. Daher hat es sich bewährt, mit den Eltern vor Aufnahme des Kindes ein strukturiertes Aufnahmegespräch zu führen, das möglichst viele Aspekte der kindlichen Bedürfnisse und Besonderheiten berücksichtigt. Eine solche „Checkliste“ (Groschwald & Rosenkötter, 2021) gibt auch den Eltern Gelegenheit, das Verhalten des Kindes zu schildern, Pflegemaßnahmen zu erläutern und ihre Erwartungen zu schildern. Andererseits können die Möglichkeiten der Kita dargelegt werden.

Rahmenbedingungen

Bauliche Maßnahmen und Material sind Aufgabe der Kita-Träger, der die Mittel beim Land und Bund beantragen kann. Personelle Leistungen werden ebenfalls vom Träger erbracht, der seinerseits Leistungen beim Sozial- und Jugendamt beantragen kann. Eine Reduzierung der Gruppengröße wird regional sehr unterschiedlich gehandhabt. Ein Rechtsanspruch besteht nicht. Ebenfalls länderspezifisch können Leistungen der Sozialhilfe in Anspruch genommen werden. Behinderungsbedingte Hilfsmittel (z.B. spezieller Tisch, Rollstuhl) oder Therapien (z.B. Physiotherapie) sind Leistungen der medizinischen Rehabilitation und müssen damit ärztlich verordnet werden. Zu Themen wie Eingliederungshilfe (SGB XII), Pflegegeld (SGB XI), Behindertenausweis, Versorgung des Kindes in Notsituationen (SGB VIII) oder Sozialpädagogische Familienhilfe (SGB VIII) findet man Informationen im Sozialgesetzbuch, beim Sozialamt oder in der Literatur (Groschwald & Rosenkötter, 2021).

Formen der Inklusion, Inklusionsassistenz

Es gibt unterschiedliche Formen, wie behinderte und nichtbehinderte Kinder gemeinsam betreut werden können.

  1. Behinderte Kinder besuchen eine allgemeine Kindertagesstätte ohne eine spezielle Betreuung durch eine pädagogische oder therapeutische Fachkraft.
  2. Kinder werden in die Kindertagesstätte aufgenommen und erhalten dort eine zusätzliche Betreuung und Förderung durch eine Fachkraft (Inklusionsassistentin). Die Beratung und Zusammenarbeit durch eine Frühförderstelle und die Reduzierung der Gruppenstärke sind dabei vorgesehen.
  3. In „inklusiven“ Gruppen werden maximal 12-18 Kinder betreut, darunter höchstens fünf Kinder mit zusätzlichem Förderbedarf. Hier findet zusätzliche Betreuung und Beratung durch Therapeut*innen oder Sonderpädagog*innen statt.
  4. „Kooperative Integration“ bedeutet, dass Kinder mit besonderem Förderbedarf eine separate Gruppe bilden, die innerhalb einer Kindertagesstätte besteht.

In jeder Form der Betreuung von Kindern mit besonderem Förderbedarf braucht es Überlegungen zu pädagogischen Maßnahmen und Überlegungen zum sozialen Miteinander. Es sollte auch überlegt werden, wie die Eltern in eine partnerschaftliche Zusammenarbeit eingebunden werden können.

Leistungen der Eingliederungshilfe sind gesetzlich im Sozialgesetzbuch geregelt: für körperlich und geistig behinderte Kinder im SGB XII § 53 und 54, für seelisch behinderte Kinder im SGB VIII § 35a. Einen Antrag auf Inklusionsassistenz stellen die Erziehungsberechtigten eines Kindes in der Regel bei der Sozialhilfe und beim Jugendamt. Wenn sich die Eltern des Kindes an eine pädagogische Einrichtung wenden, sollte zunächst der Unterstützungsbedarf ermittelt werden. Ein ärztlicher Bericht kann ebenfalls hilfreich oder notwendig sein. Am Ende entscheidet das Sozialamt, ob das Kind allein oder zusammen mit anderen Kindern von einer Inklusionsassistent*in mitbetreut werden wird. Förderrichtlinien und Personalschlüssel sind in den Bundesländern unterschiedlich geregelt. Berufliche Voraussetzungen für eine Inklusionsassistenz gibt es nicht. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung hat in der „Weiterbildungsinitiative Frühpädagogische Fachkräfte (WIFF)“ Qualifizierungsansätze erarbeitet (www.weiterbildungsinitiative.de).

Die Förderung und Inklusion von Kindern mit Behinderung oder drohender Behinderung (schwere Entwicklungsstörung) dient in erster Linie einer gelungenen Teilhabe am Gruppengeschehen. Ziel der Teilhabefähigkeit ist z.B.

  • an Gruppenprozessen aktiv oder passiv teilzunehmen,
  • sich individuell in der Gruppe zu entwickeln, sich zu behaupten, sich anzupassen,
  • neue Bindungen einzugehen,
  • sinnvolle Handlungsabläufe zusammen mit anderen Kindern zu entwickeln,
  • Anregungen von Erwachsenen und Kindern aufzunehmen und zu integrieren,
  • Fortschritte in der Kommunikation, im Lernen und in der Motorik zu erreichen,
  • das gegebene Entwicklungspotential auszuschöpfen und auszukosten.

Vor Beantragung einer Inklusionsassistenz ist zu klären, ob das Kind vorrangig Hilfe bei der Pflege oder erzieherische Hilfe braucht. Und es bleibt zu klären, ob die Assistenz Vorerfahrung und Wissen über die Behinderungsart und professionellen Umgang mitbringen muss. Die Entscheidung über diese Frage sollte mit den Erziehungsberechtigten abgesprochen werden, weil sie aufgrund des unterschiedlichen Finanzierungsrahmens auch über die Dauer der Betreuungszeiten mitentscheidet.

In den Entscheidungsprozessen geht es darum, den Unterstützungsbedarf eines Kindes zu beschreiben, einen Hilfeplan zu entwickeln und die Umsetzung zu organisieren.

  • Wer ist beteiligt? Wer übernimmt die Fallverantwortung?
  • Gibt es einen oder mehrere runde Tische?
  • Wer sitzt mit uns am Tisch?
  • Welche Ziele werden vereinbart?
  • Wie werden Eltern/Sorgeberechtigte einbezogen?
  • Wer schreibt welche Anträge?
  • Wer dokumentiert den Verlauf?
  • Wer übernimmt die Koordination der Gespräche und bereitet sie vor?
  • Wer protokolliert?
  • Wann treffen wir wieder zusammen?

Abzuwägen bleibt, ob eine zusätzliche Person notwendig ist und ob neben dem vordergründigen „Stellenzuwachs“ und der Arbeitserleichterung auch Konsequenzen bedacht worden sind:

  • Wie können wir die Inklusionsassistenz in unser Team integrieren?
  • Wer von uns übernimmt die Aufgabe, die Inklusionsassistenz über das Team, das Kind, die Eltern und das Netzwerk zu informieren und sie einzuarbeiten?
  • Wird die Anwesenheit einer Assistenz unsere eigenen Bemühungen verringern, uns mit der Entwicklungsstörung des Kindes auseinanderzusetzen?
  • Geben wir neben den Aufgaben auch Kompetenzen ab?
  • Bleibt das Thema Inklusion weiter lebendig oder ist es damit zuerst einmal „abgehakt“?
  • Wird ein so betreutes Kind nicht erst recht mit einem besonderen Ausrufezeichen versehen und damit ungleich und gegenüber den anderen mehr herausgehoben als eingegliedert?
  • Kann ein Kind mit Assistenzbegleitung besser in die Gruppe eingegliedert werden als ohne?

Pro & Contra Inklusion

Was tun, wenn eine Einrichtung eine Anfrage zur Aufnahme eines Kindes erhält, das Hilfe bei der Inklusion braucht? Jedes Team sollte ehrlich sein und klären, ob es die Aufgabe leisten kann. Es gibt Situationen, die Inklusion problematisch machen, denn Inklusion ist ein Prinzip mit Ausnahmen und Argumenten dafür und dagegen. Folgende Gründe können gegen die Aufnahme eines Kindes in Ihrer Einrichtung sprechen:

  • fehlende oder mangelhafte Rahmenbedingungen für Inklusion: räumlich, materiell, personell,
  • schwere gesundheitliche Beeinträchtigung eines Kindes, die Pflege oder Betreuung ohne fachliche Begleitung unmöglich machen, z.B. beatmetes Kind, schwer mehrfach behindertes Kind,
  • schwere Verhaltensstörung mit impulsivem, aggressivem oder destruktivem Verhalten,
  • Kind mit selbstverletzendem Verhalten, mit Fremd- oder Selbstgefährdung
  • schwere Kommunikationsstörung,
  • behindertes Kind, zu dem die Eltern alle Auskünfte verweigern,
  • erhebliche Bedenken oder Ablehnung gegenüber Inklusion im Team,
  • nicht mit dem Team abgestimmte Zusagen zur Inklusion an Eltern durch Teamleitung oder ein Teammitglied.

Zeit für klare Entscheidungen nehmen!

Die oben genannten Gründe zur Ablehnung müssen nicht immer unüberwindbar sein. Vielleicht braucht das Team zusätzliche Informationen oder bauliche Veränderungen. Geben Sie einzelnen Teammitgliedern Gelegenheit, ihre Zurückhaltung als Folge eigener biografischer Erfahrungen zu schildern. Manchmal ergibt sich dann eine andere Sicht auf die Schwierigkeiten des Kindes und einzelner Mitarbeitenden.

Wichtig ist: Lassen Sie sich nicht unter Druck setzen;

  • durch Ihr Mitgefühl („Da muss doch bald etwas passieren.“),
  • durch Druck von außen („Der Kinderarzt hat gesagt, dass das Kind schleunigst unter seinesgleichen kommen muss. Sonst versäumt es so viel.“),
  • durch Ihren Träger („Wir müssen den Platz bald belegen. Sonst gehen uns so viele Einnahmen verloren.“),
  • durch die Eltern („Es ist doch schon alles gemacht worden. Verlieren Sie jetzt keine Zeit mehr. Das schadet dem Kind.“).

Eine breite und vorurteilsbewusste Diskussion im Team und gegenseitiges Vertrauen stellen die Basis für eine ehrliche und offene Entscheidung dar. Dabei muss auch klar sein, dass es nicht Aufgabe der Krippe oder der Kita ist, alles über eine Entwicklungsbesonderheit oder über eine Behinderung zu wissen. Inklusion bedeutet nicht, dass die Kita Therapien durchführen soll. Vielmehr ist die Aufgabe der Kita, das Kind in eine Gruppe mit anderen Kindern einzuführen (Teilhabe), also eine soziale Aufgabe.

Jeder kann dazu beitragen, dass unser Bildungssystem und unser Denken inklusiver werden und dass in Zukunft niemand aufgrund seiner Herkunft, seiner Kultur, seiner Sprache, einer Behinderung, seines Geschlechts oder seines Alters benachteiligt wird. Ziel ist es, Zugehörigkeit, gemeinsame Bildung, Erziehung und Betreuung trotz individueller Unterschiede zu ermöglichen und auf diese Weise faire und gleiche Chancen für alle Kinder zu gewährleisten.

 

Literatur

Albers, Timm (2012): Mittendrin statt nur dabei: Inklusion in Krippe und Kindergarten, München: Reinhardt.

Booth, Toni, Ainscow, Mel & Kingston, Denise (2015): Index für Inklusion in Kindertageseinrichtungen. Frankfurt: Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft. www.gew.de/aktuelles/detailseite/index-fuer-inklusion-in-kindertageseinrichtungen-gemeinsam-leben-spielen-und-lernen

Derman-Sparks, Louise (2022). Anti-Bias Education for Everyone: Vorurteilsbewusste Bildung und Erziehung für alle. In: P. Wagner (Hrsg.): Handbuch Inklusion (S. 279-294). Freiburg: Herder.

Groschwald, Anne & Rosenkötter, Henning (2021): Inklusion in Krippe und Kita, Freiburg: Herder.

Prengel, Annedore (1995): Pädagogik der Vielfalt. Verschiedenheit und Gleichberechtigung in Interkultureller, Feministischer und Integrativer Pädagogik. Opladen: VS.

Rosenkötter, Henning (2022): Die Haltung macht´s. in: Praxismappe Inklusion & Vielfalt. Freiburg: Herder.

Textor, Martin R. (2012): Von der Segregation zur Inklusion. https://www.kindergartenpaedagogik.de/fachartikel/kinder-mit-besonderen-beduerfnissen-integration-vernetzung/integration-und-inklusion/von-der-segregation-zur-inklusion/

Wagner, Petra (Hrsg.) (2022): Handbuch Inklusion: Grundlagen vorurteilsbewusster Bildung und Erziehung. Freiburg: Herder.

Vorurteilsbewusste Erziehung: Fachstelle Kinderwelten: www.kinderwelten.de, https://situationsansatz.de

Autor

Dr. Henning Rosenkötter, Kinder- und Jugendarzt, Sozial- und Neuropädiater, Familientherapeut. Ehem. Chefarzt des Sozialpädiatrischen Zentrums im Klinikum Ludwigsburg. www.henning-rosenkoetter.de