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Zitiervorschlag

"Weg mit den Erzieherinnen, her mit Kleinkindpädagoginnen und Betreuungskräften!" Wege und Irrwege zwischen Bildung und Dienstleistung

Martin R. Textor

 

Historisch gesehen, war Kindertagesbetreuung zunächst für solche vernachlässigten oder in ihrer Entwicklung ungenügend geförderten Kleinkinder gedacht, hatte also eine kompensatorische Funktion. In den Anfang des 19. Jahrhunderts gegründeten Kinderbewahranstalten wurden vor allem unbeaufsichtigte und von Verwahrlosung bedrohte Kinder aus den untersten sozialen Schichten aufgenommen. Da deren Mütter ihren Erziehungsaufgaben nicht nachkamen bzw. wegen ihrer 10 bis 12 Stunden am Tag dauernden Erwerbstätigkeit nicht nachkommen konnten, sollten die Kinder nun von "Ersatzmüttern" betreut, erzogen und sozialisiert werden.

Fröbels Kindergarten war hingegen für andere, eher aus dem Bürgertum stammende Kinder gedacht. Aber auch hier spielte die Vorstellung eine Rolle, dass diese Kinder zu Hause nicht die beste Erziehung erhalten würden. Friedrich Fröbel schrieb: "Der deutsche Kindergarten wurde aus dem tiefgefühlten Bedürfnis entsprechender Pflege der Kinder ... als ein gemeinsames deutsches Erziehungswerk gestiftet. Er ruht auf der Überzeugung, daß die Einzelerziehung der vorschulfähigen Kinder in der Familie, wie sie im Ganzen jetzt ist und unter den bestehenden Verhältnissen sein kann, für die Forderungen der Zeit nicht mehr ausreiche. Seine Absicht geht darum dahin, den Familien und den Gesammtheiten dafür die nöthige Hilfe zu bringen". Deutlich wird, dass Fröbel die Familienerziehung zu seiner Zeit für ergänzungsbedürftig ansah. So war der Kindergarten als eine familienunterstützende und -ergänzende Einrichtung gedacht.

Rund 110 Jahre später hatte sich die Sozialisationsfunktion von Familien stark verbessert: In den 1960-er Jahren - einer Zeit mit sehr hoher Geburtenrate - waren die meisten Mütter Hausfrauen und kümmerten sich intensiv um ihre Kinder. Medizinische, psychologische und pädagogische Erkenntnisse über das Wesen und die Entwicklung von Kindern sowie eine gute Pflege und Erziehung waren in den vorausgegangenen Jahrzehnten Allgemeingut geworden und wurden nun von den Eltern berücksichtigt. So entwickelten sich die meisten Kinder in ihren Familien positiv.

In Westdeutschland setzte sich der Halbtagskindergarten durch, den die meisten Kinder nur ein Jahr oder zwei Jahre lang besuchten. Da Erziehung und Bildung in den meisten Familien "funktionierten", bekam der Kindergarten die Funktion, Kinder gruppenfähig zu machen, so dass sie sich nach der Einschulung leichter in den Klassenverband integrieren können. Dementsprechend stand die Sozialerziehung im Vordergrund - und dies ist auch heute noch in den meisten Kindertageseinrichtungen der Fall. Wohl wurde in den 1960-er Jahren in Zusammenhang mit der Problematisierung der "Klassengesellschaft" nochmals die kompensatorische Funktion der Kindertagesbetreuung betont, wurden entsprechende Programme in Kindergärten eingeführt, diese verloren aber schon anfangs der 1970-er Jahren an Bedeutung und verschwanden bis zum Ende dieses Jahrzehnts aus den Einrichtungen. Die großen pädagogischen Bewegungen der folgenden Jahrzehnte, insbesondere zur interkulturellen Erziehung und zur Integration Behinderter, fokussierten dann vor allem auf der Sozialerziehung.

Die Gegenwart: Bildung versus Betreuung

Seit rund fünf Jahren wird die Bildungsfunktion von Kindertageseinrichtungen besonders thematisiert - allerdings unter negativen Vorzeichen: Vor allem Wissenschaftler/innen beklagen, dass Kleinkinder in Kindergärten zu wenig "gebildet" würden. Das Buch von Donata Elschenbroich (2001) über das, was Siebenjährige an Weltwissen haben sollten, wurde sogar zu einem Bestseller - und verdeutlichte der Öffentlichkeit, wie wenig davon Kinder im Kindergarten lernen. Nach Veröffentlichung der PISA-Studie, die von den Medien groß herausgebracht wurde, fordern jetzt auch die meisten Politiker/innen "mehr Bildung" in Kindertageseinrichtungen.

In diesem Kontext wird auch eine bessere Qualität der pädagogischen Arbeit eingefordert. Damit sind eine ganze Reihe "neuer" "Unter"-Aufträge an Kindertageseinrichtungen verbunden: So sollen z.B. mehr Angebote in den Bereichen der mathematischen, naturwissenschaftlichen und technischen Bildung gemacht werden. Die Sprachförderung sei zu intensivieren; Kinder sollten möglichst schon eine Fremdsprache im Kindergarten lernen. Der Medienerziehung, insbesondere der Heranführung an den Computer, ist ein größerer Wert beizumessen. Da Musik und Musizieren u.U. positive Auswirkungen auf die Hirnentwicklung zeitigen, sei die musikalische Früherziehung zu verstärken. Hochbegabte Kinder sollten identifiziert und entsprechend gefördert werden. Schließlich sollte seitens der Kindergärten die Vorbereitung auf die Schule und insbesondere seitens der Horte die Kooperation mit der Schule verbessert werden.

Zugleich erleben wir alle, dass unsere Arbeitsplätze unsicherer geworden sind und dass unsere Qualifikationen immer schneller veralten, wenn wir z.B. wegen Kindererziehung oder Arbeitslosigkeit eine Zeit lang nicht erwerbstätig sind. Ferner sinkt bei vielen Berufstätigen und ihren Familien das letztlich verfügbare Haushaltseinkommen - also das, was nach Steuern, Sozialabgaben, Versicherungsprämien, privater Altersvorsorge usw. übrig bleibt. So ist es nicht verwunderlich, dass beispielsweise immer mehr Mütter mit Kleinkindern erwerbstätig bleiben wollen oder müssen.

Dementsprechend wird parallel zur Forderung nach mehr Bildung im Kindergarten eine Ausweitung der Betreuungszeiten angestrebt. Ein Beispiel hierfür ist Pressemitteilung Nr. 18 des Bundesfamilienministeriums (BMFSFJ) vom 15.01.2003. Die Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Renate Schmidt, erklärte: "Der Ausbau von Kinderbetreuung bringt jedenfalls auf lange Sicht mehr als er kostet. Er ist eines der wichtigsten gesellschaftspolitischen Projekte in dieser Legislaturperiode. Vor allem Westdeutschland liegt im Vergleich zu anderen europäischen Ländern weit hinter den dort üblichen Standards der Kinderbetreuung zurück. Gleichzeitig gehört Deutschlands Geburtenrate zu den niedrigsten in Europa. Wir können es uns nicht leisten, in Sachen Kinderbetreuung weiterhin Entwicklungsland zu bleiben. Deshalb unterstützt die Bundesregierung die Länder mit 4 Milliarden Euro beim Ausbau von Ganztagsschulen; für die Ausweitung des Betreuungsangebots für Kinder unter drei Jahren stehen künftig 1,5 Milliarden Euro jährlich bereit". Bundesministerin Schmidt stellte in diesem Zusammenhang das Gutachten "Abschätzung der (Brutto-) Einnahmeneffekte öffentlicher Haushalte und der Sozialversicherungsträger bei einem Ausbau von Kindertageseinrichtungen" des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) vor. "Das Gutachten untersucht die drei wichtigsten Einnahmen- und Einspareffekte der öffentlichen Haushalte und Sozialversicherungsträger bei einem Ausbau von Kindertageseinrichtungen:

  1. Einkommensteuereinnahmen und Beitragseinnahmen für die Sozialversicherungsträger, wenn die Erwerbswünsche von arbeitslosen Müttern und Müttern in der so genannten Stillen Reserve realisiert werden können, deren jüngstes Kind zwischen zwei und zwölf Jahre alt ist. Der Untersuchung liegen verschiedene Szenarien zugrunde: Eine Maximalvariante berechnet die möglichen Mehreinnahmen für den Fall, dass alle erwerbswilligen Mütter mit Kindern ohne bisherige ganztägige Betreuung ihren Wunsch infolge des Ausbaus der Kinderbetreuung auch umsetzen können. Eine Minimalvariante stellt die möglichen Mehreinnahmen vor, wenn allein akademisch ausgebildete Mütter mit Kindern ohne ganztägige Betreuung einer Erwerbstätigkeit nachgehen können. Die sich insgesamt daraus ergebenden Einnahmeneffekte bewegen sich im Bereich der Einkommensteuer zwischen 1,1 und 6 Milliarden Euro, im Bereich der Sozialversicherungen zwischen 1,4 und 8,9 Milliarden Euro.
  2. Einsparungen der Kommunen über Erwerbstätigkeit allein erziehender Mütter, die Sozialhilfe beziehen. Ein bedarfsgerechter Ausbau der familienergänzenden Kinderbetreuung ermöglicht allein erziehenden Müttern die Erwerbstätigkeit, die bislang wegen mangelnder Betreuungsmöglichkeiten für ihre Kinder auf Sozialhilfe angewiesen sind. Das Gutachten ermittelt ein mögliches Einsparpotential für die Kommunen von insgesamt rund 1,5 Milliarden Euro für den Fall, dass alle allein Erziehenden mit Kindern unter 13 Jahren, die Sozialhilfe beziehen, eine Berufstätigkeit aufnehmen.
  3. Einkommensteuereinnahmen und Beitragseinnahmen für die Sozialversicherungsträger durch zusätzliches Personal in den Kindertageseinrichtungen. Bei der Abschätzung der entlastenden Faktoren beim Ausbau der Kindertageseinrichtungen spielen neben den potentiellen Mehreinnahmen durch die Erwerbstätigkeit der Mütter auch die Steuer- und Beitragsmehreinnahmen durch die Beschäftigung zusätzlichen Personals eine Rolle. Das Gutachten beziffert die Zahl der Arbeitsplätze, die auf diese Weise maximal geschaffen werden könnten, auf rund 430.000. Dies entspräche zusätzlichen Einkommensteuereinnahmen in Höhe von 1,3 Milliarden Euro und zusätzlichen Beitragseinnahmen der Sozialversicherungsträger in Höhe von 4,4 Milliarden Euro" (a.a.O.).

Durch Ganztagsbetreuung soll also bis zu 2,1 Mio. Müttern - der so genannten Stillen Reserve - eine Erwerbstätigkeit ermöglicht werden. Offen bleibt dabei die Frage, wo bei der hohen Arbeitslosigkeit die entsprechenden 2,1 Mio. Arbeitsplätze herkommen sollen. Aber viel wichtiger für uns ist zu erkennen, wie weit die "Ökonomisierung" der Kindertagesbetreuung schon fortgeschritten ist: Nicht das Wohl des Kindes spielt eine Rolle, sondern das "Wohl" von Wirtschaft, Finanzministerien, Sozialversicherungsträgern und Kommunen. Damit alle jungen Mütter (voll-) erwerbstätig sein und ihren Beitrag zum Bruttosozialprodukt leisten können, sollen Kinder weitgehend in Tageseinrichtungen aufwachsen. Und so ist es nicht verwunderlich, dass seitens der Bundesregierung generell eine Ganztagsbetreuung angestrebt wird - auch für mindestens 20% der Kinder unter drei Jahren.

Es stellt sich nun die Frage, ob diese Entwicklung hin zur Ganztagsbetreuung von Kleinkindern zum Wohle der betroffenen Kinder und Familien ist. Lassen Sie mich diese Frage anhand von zwei relativ aktuellen Büchern diskutieren.

Familie und Kindheit heute

Das eine Buch wurde von Adalbert Metzinger (2002) verfasst und trägt den Titel "Kindsein heute: Zwischen zuviel und zuwenig". Der Autor ist promovierter Erziehungswissenschaftler, Lehrer an einer Fachschule für Sozialpädagogik und nebenberuflicher Berater an einer Jugendberatungsstelle. Metzinger behandelt in seinem Buch den Familienwandel, wobei er die Trends zur Kleinfamilie und zur Müttererwerbstätigkeit beschreibt, auf die Einzelkind-Situation eingeht sowie die steigende Scheidungshäufigkeit und die zunehmende Zahl von Alleinerziehenden herausstellt. Er thematisiert die Krise der Familienerziehung, die sich seines Erachtens auf eine Verunsicherung der Eltern, eine durch Berufstätigkeit überlastete und unter Identitätskrisen leidende Mutter, einen am Rande stehenden Vater mit unklarer Rolle, häufig auftretende Ehekonflikte, Scheidung der Eltern sowie Erziehungsunfähigkeit zurückführen lasse. Viele Kinder würden heute von ihren Eltern unter Leistungsdruck gesetzt und überfordert: Sie sollen "perfekte" und "autonome" Kinder sein. So würden sie zu schnell wie Erwachsene behandelt. Aber auch immer mehr Kinder würden von ihren Eltern emotional und sozial vernachlässigt oder würden ihre Eltern "terrorisieren", nur noch sich selbst sehen (Narzissmus) und sich Rechte nehmen, die nicht altersgemäß seien.

Metzinger folgert: "Dieser gesellschaftlicher Wandel hat die Lebens- und Arbeitszusammenhänge unserer Kinder ... verändert und zu neuen Verhaltensmustern und anderem Lernverhalten ... geführt" (S. 5). Beispielsweise habe sich das Spielverhalten geändert - es wird heute z.B. durch das Fernsehen, eine Unmenge kommerzieller Spielsachen, "Horror-" und Kriegsspielzeug sowie Computerspiele geprägt. Improvisation mit Alltagsgegenständen, Spiele in spontan entstehenden Kindergruppen im Wohnumfeld und selbstständige Naturerkundung werden hingegen immer seltener. Dafür halten sich Kinder mehr im Haus und an "kindgerecht" gestalteten Orten wie Spielplätzen, Kindertageseinrichtungen oder Musikschulen auf - Verhäuslichung, Verinselung, Organisiertheit und Verplantheit von Kindheit sind hier die einschlägigen Schlagworte, aber auch Reizüberflutung, Konsumorientierung und Langeweile. An die Stelle des "straßensozialisierten" Kindes trete das "Hochhauskind", das von seiner Mutter zu seinen Freunden bzw. zu Kindereinrichtungen gebracht wird und nach einem Terminkalender lebt.

Ein weiteres zentrales Thema ist die Kommerzialisierung von Kindheit, die zu "Haben-Mentalität" und einer "konsumfixierten" Lebenshaltung führe. Auf der anderen Seite nehme die Armut mit ihren vielen negativen psychosozialen Folgen für die betroffenen Kinder zu. Ferner befasst sich Metzinger mit der Medienkindheit, also dem Einfluss von Fernsehen, Computer, Internet und Werbung auf die kindliche Entwicklung. Er beklagt, dass vor allem kleinere Kinder oft durch Fernsehsendungen verängstigt würden, dass sich der hohe Medienkonsum auf Sprach- und Sozialentwicklung negativ auswirke, dass Kinder ein falsches Weltbild erhielten und von der selbsttätigen Welterkundung abgehalten würden, dass sie zu früh mit Erwachsenenthemen wie Sex konfrontiert würden und dass die vielen Gewaltszenen zu mehr Aggressivität führten. So dürfe man sich nicht wundern, wenn es schon im Kindergarten zu immer mehr Gewalttätigkeit zwischen Kindern käme.

Manche Leser/innen werden jetzt sicherlich den Eindruck haben, dass Metzinger ein wahres Horrorszenario entworfen hat. Auch ich halte seine Sichtweise für zu negativ, möchte aber auf der Grundlage seiner Ausführungen folgendes Fazit ziehen: Im Verlauf der letzten Jahre ist die Qualität von Familienleben und Kindheit schlechter geworden. Eltern und Kinder haben es schwerer als früher. Aber ist "mehr Ganztagsbetreuung" wirklich die richtige Antwort auf diese Problemlage? Sollte nicht vielmehr die Familie gestärkt werden?

Wenn der Arbeitsplatz zum Mittelpunkt des Lebens wird

Das zweite Buch wurde von der bekannten amerikanischen Soziologie-Professorin Arlie Russell Hochschild (2002) verfasst und trägt den Titel "Keine Zeit. Wenn die Firma zum Zuhause wird und zu Hause nur Arbeit wartet". Hochschild verbrachte drei Sommer in einer kleinen Pension in Spotted Deer, um während dieser Zeit die Mitarbeiter/innen von Amerco, einem Fortune-500-Unternehmen, zu interviewen. Dieser Betrieb gilt in den USA als besonders familienfreundlich; er bietet Teilzeitarbeit ohne Abstriche bei den Karriereaussichten, Job Sharing, komprimierte Wochenarbeitszeiten, flexible Arbeitszeitgestaltung usw. Noch vor dem ersten Interview ermittelte Hochschild jedoch, dass nur 3% aller Beschäftigten mit Kindern von 13 Jahren und jünger Teilzeit arbeiteten; nur 1% machte Job Sharing; und gerade ein Drittel der Eltern hatte flexible Arbeitszeiten - die Übrigen arbeiteten neun oder zehn Stunden am Tag mit festen Anwesenheitszeiten.

Weshalb nutzten so viele Eltern nicht die großzügigen Angebote von Amerco? In den Interviews kristallisierte sich heraus, dass sie weitgehend dem Bild vom "idealen" Angestellten entsprechen wollten - ein in den USA weit verbreitetes Leitbild, in dessen Zentrum Flexibilität steht: die Bereitschaft, ohne Widerspruch andere Aufgaben in der Firma zu übernehmen, Überstunden zu machen, in Notfällen die Arbeit anderer mit zu erledigen oder jederzeit umzuziehen. Und macht Berufsarbeit nicht mehr Spaß, ist sie nicht sinnvoller und "lohnender", umfasst sie nicht interessantere soziale Kontakte als das, was Erwerbstätige zu Hause erwartet: quengelige Kinder, Kochen und Putzen?

So stellte Hochschild bei Amerco fest, dass die Anziehungskraft der Arbeitswelt stärker wurde, die der Familie und des sozialen Umfeldes schwächer. Damit kommen wir zur zentralen These ihres Buches: Das Unternehmen werde immer mehr zum Zuhause, während die Familie immer mehr an emotionaler Bedeutung verliere: Letztere sei nur noch Treffpunkt von Personen mit unterschiedlichen Interessen und eigenen Zeitplänen, ein Ort zum Essen - immer seltener gemeinsam -, zum Fernsehen - zumeist in getrennten Räumen - und zum Schlafen. Hochschild schreibt: "In diesem neuen Modell von Familie und Arbeitsleben flieht der müde Vater oder die müde Mutter aus der Welt der ungelösten Konflikte und ungewaschenen Wäsche in die verlässliche Ordnung, Harmonie und gute Laune der Arbeitswelt" (a.a.O., S. 56). Die ganze Diskussion um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf sowie alle Angebote familienfreundlicher Unternehmen würden diesen Wandel in der emotionalen Signifikanz beider Lebenswelten noch nicht berücksichtigen.

Die zunehmende Bedeutung der Arbeitswelt wird in den USA besonders deutlich: So sind die Arbeitszeiten der Amerikaner viel länger als die der Beschäftigten in anderen Industrienationen, sogar um zwei Wochen länger in Japan. Bedingt durch die (Voll-) Erwerbstätigkeit von Müttern hatten amerikanische Eltern 1996 durchschnittlich 22 Stunden pro Woche weniger Zeit für ihre Kinder als 1969. Ich wiederhole: Amerikanische Eltern hatten 1996 durchschnittlich 22 Stunden pro Woche weniger Zeit für ihre Kinder als 1969. Aber auch zwei "Zeitfallen" machte Hochschild aus: Hoch qualifizierte Fachkräfte arbeiten länger, weil sie ihre Arbeit lieben; Fließbandarbeiter machen Doppelschichten, weil sie das Geld brauchen. Hinzu kommt, dass Ende der 90er Jahre 8% der amerikanischen Beschäftigten zwei Jobs hatten.

Amerikanische Unternehmen machen heute für ihre hoch qualifizierten Angestellten zunehmend soziale und Freizeitangebote, die man früher eher mit Familienmitgliedern oder in der Gemeinde besucht hätte. Diese reichen von Sport, Ausflügen und Feiern über Schach-, Ahnenforschungs- und Wohltätigkeitsclubs bis hin zu Gruppen für Alleinerziehende oder Krebskranke. Immer mehr Unternehmen haben eigene Geschäfte, Friseure, Banken usw., bieten Fertigmahlzeiten zum Nachhausenehmen an oder gründen Kinderbetreuungseinrichtungen - lauter Angebote, die es den Beschäftigten erleichtern, noch etwas länger am Arbeitsplatz zu verbleiben. Wie heute das Gras von den Bauern zu den nur noch im Stall lebenden Kühen gebracht werde, würden immer mehr Dienstleistungen für Beschäftigte in die Unternehmen geholt - aber in erster Linie nur für die qualifizierten Mitarbeiter/innen, weniger für Arbeiter/innen und andere Beschäftigte in Niedriglohngruppen.

Hochschild berichtet auch vom Privatleben der Beschäftigten von Amerco: das abnehmende Gefühl von Sicherheit in der Familie bedingt durch die hohen Scheidungsraten, die mangelnde Zeit für Partner, Kinder und die eigenen (alten) Eltern, die durch Überstunden und Schichtarbeit verursachten Probleme und die Unzufriedenheit mit dieser Situation. So sind Kinder, Kranke und Alte - oft aber auch die Partner - die Verlierer in diesem System. Hochschild fragt: "Aber warum gingen Amercos berufstätige Eltern, von denen die meisten doch sagten, sie brauchten mehr Zeit für die Familie, nicht auf die Barrikaden, um sie sich zu erkämpfen? Bei vielen von ihnen mag dies eine Reaktion auf einen machtvollen Trend sein, der zu einer Entwertung all dessen führt, was einmal das Wesen des Familienlebens ausmachte. Je mehr Frauen und Männer das, was sie tun, im Austausch gegen Geld tun und je höher ihre Arbeit im öffentlichen Bereich geschätzt und anerkannt wird, desto mehr wird, fast schon zwangsläufig, das Privatleben entwertet und desto mehr schrumpft sein Einflussbereich. Für Frauen wie für Männer ist die marktvermittelte Erwerbsarbeit weniger eine schlichte ökonomische Tatsache als ein komplexer kultureller Wert. Galt es zu Anfang des 20. Jahrhunderts noch als Unglück, wenn eine Frau arbeiten gehen musste, ist man heute überrascht, wenn sie es nicht tut" (a.a.O., S. 212). Heute werden "klassische" Hausfrauentätigkeiten auch weniger nachgefragt: Da gemeinsamer Mahlzeiten immer seltener werden, entfällt das Kochen, werden nur noch Fertiggerichte bei Bedarf aufgewärmt. Das Geschirr- und Wäschewaschen erledigen Maschinen; in Reinigungen wird die Wäsche auch gebügelt. Zunehmend kommt es zu Outsourcing von Hausfrauenaufgaben - also z.B. zur Nutzung von Mahlzeitendiensten, von Agenturen für die Organisation von Kindergeburtstagen, von einem Partyservice usw.

Hochschild überprüfte, ob ihre Erkenntnisse Amerco-spezifisch sind oder verallgemeinert werden können. Dazu konnte sie auf eine Befragung von 1.446 Eltern mit Kleinkindern zurückgreifen, die der (oberen) Mittelschicht angehörten und bei verschiedenen großen amerikanischen Unternehmen arbeiteten. Ein Drittel ließ ihre Kinder jede Woche 40 Stunden und länger in Kindertagesstätten betreuen - je höher das Einkommen, umso länger. Ein Drittel der Eltern bezeichnete sich bzw. den Partner als Workaholic; 89% erlebten Zeitnot; die Hälfte nahm in der Regel Arbeit mit nach Hause. Nur 9% konnten Familie und Beruf miteinander vereinbaren. Viele Eltern erlebten den Beruf befriedigender als die Arbeit zu Hause und bewerteten die dort erbrachten Leistungen eher als "gut oder ungewöhnlich gut" (86%) denn die Leistungen in der Familie (59%). Ganze 47% hatten die meisten Freund/innen bei der Arbeit - nur 16% in der Nachbarschaft. Somit belegen diese Umfrageergebnisse die Tendenz der kulturellen Umpolung von Arbeitsplatz und Zuhause.

Auch andere Studien zeigen laut Hochschild, wie die Beziehungen zu Partner und Kindern unter der Verlagerung des Erwachsenenlebens in die Arbeitswelt leiden: gegen das Zeitkorsett aufbegehrende Kleinkinder, vereinsamte "Schlüsselkinder", mit Ferienlager statt Familienurlaub abgefundene Kinder, unbefriedigende Ehebeziehungen und hohe Scheidungsquoten. Aber auch die Gesellschaft leidet, denn Erwachsene haben immer weniger Zeit, Einfluss auf Kindertageseinrichtungen und Schulen zu nehmen, sich kirchlich, politisch oder gewerkschaftlich zu engagieren, Vereinen und Organisationen beizutreten.

Die Aussagen von Hochschild sind vielleicht etwas übertrieben - aber wir wissen, dass viele Entwicklungen in den USA einige Jahre später in Deutschland nachvollzogen werden. Und schon 1998 lag in der Bundesrepublik die tatsächliche Wochenarbeitszeit von Vollzeitkräften bei 44,4 Stunden - trotz 38,5-Stunden-Woche. Bedenken wir, dass es sich hier um einen statistischen Durchschnittswert handelt, müssen wir davon ausgehen, dass Millionen Erwerbstätige 45, 50 und noch mehr Stunden pro Woche arbeiten. So sind auch in Deutschland Familien zunehmend von der Zeitfalle betroffen. Und Wirtschafts- und Arbeitgeberverbände, Wirtschaftswissenschaftler/innen und Politiker/innen haben in der letzten Zeit immer wieder gefordert haben, dass die Deutschen in Zukunft noch mehr und noch länger arbeiten müssen...

Und erneut frage ich: Ist Ganztagsbetreuung wirklich die Lösung, um Kinder bis zum Alter von 10, 12 Jahren vor einer unglücklichen Kindheit, einer gestörten Entwicklung, einem "Schlüsselkind"-Schicksal und der Einsamkeit in einer Familie mit kaum präsenten Eltern zu schützen? Und brauchen nicht auch ältere Kinder eine Art von außerfamiliärer "Betreuung"? Schließlich haben sie ebenfalls in der Familie keine Ansprechpartner mehr: So gaben bei der PISA-Studie nur 41% der 15-jährigen Schüler/innen an, dass ihre Eltern regelmäßig mit ihnen persönliche Gespräche führen; nur etwas mehr als 40% gaben an, dass ihre Eltern regelmäßig mit ihnen über ihre schulischen Leistungen reden, und gerade einmal 16%, dass sie mit ihnen mehrmals pro Woche über Bücher, Filme oder Fernsehen sprechen...

Bei der zunehmenden Müttererwerbstätigkeit, den immer länger werdenden Arbeitszeiten und dem wachsenden Stress werden in Deutschland Zeit und Energie wie in Amerika immer mehr schrumpfen, die Eltern ihren Kindern widmen (können). Gelingt es nicht, diese Entwicklung zu stoppen, indem z.B. die Vereinbarkeit von Familie und Beruf verbessert, Eltern mehr Zeit für Kinder ermöglicht und die Erziehungsfunktion der Familie gestärkt wird, muss Ganztagsbetreuung an die Stelle der Familienerziehung treten. Und diese muss von einer sehr hohen Qualität sein, um dem immer mehr gefährdeten Kindeswohl gerecht zu werden. Aber ist dies der Fall, wenn Kindertagesbetreuung in erster Linie als Dienstleistung gesehen wird?

Die Kindertagesstätte als Dienstleistungsunternehmen

Die erwähnte Pressemitteilung des Bundesfamilienministeriums und viele andere Verlautbarungen der letzten Jahre zeigen, dass die Kindertagesstätte als eine Art Dienstleistungsunternehmen definiert wird, das den Bedürfnissen und Erwartungen ihrer Kunden - der Eltern - Genüge tun soll. Diese Entwicklung führte zu einer Verlängerung von Öffnungszeiten, die in der Regel nur durch eine Verkürzung von Verfügungszeiten und/oder durch Schichtbetrieb erreicht werden konnte. Die Erzieher/innen sind die Dummen - sie müssen nun länger am Kind arbeiten, haben unterschiedliche Zeiten des Arbeitsbeginns und -endes, sind häufiger alleine in der Gruppe und haben weniger Zeit zur Vorbereitung, für Verwaltungsaufgaben, Teamsitzungen und Elterngespräche.

Hier ist der Vergleich mit der Schule aufschlussreich: Auch sie soll die Vereinbarkeit von Familie und Beruf sicherstellen, also z.B. verlässliche Öffnungszeiten haben. Die Schule bestand jedoch im Gegensatz zur Kindertagesstätte darauf, dass sie eine reine Bildungseinrichtung sei und die vorrangige Aufgabe der Lehrer/innen das Unterrichten ist. Ergebnis: Die Kinderbetreuung vor und nach dem Unterricht übernehmen Hausmeister, Eltern, Hilfskräfte auf 325-Euro-Basis usw. Die Lehrer/innen haben weiterhin den ganzen Nachmittag als Vorbereitungszeit und dieselben Arbeitszeiten wie zuvor.

Die Kindertagesstätte als Dienstleistungsunternehmen - keine Schule würde sich so definieren oder definieren lassen. Seitdem dieser Begriff eingeführt wurde, wird im Kita-Bereich nur noch gekürzt. Ökonomisch gesehen ist nämlich Kunde derjenige, der für die Dienstleistung bezahlt. Das sind weniger die Eltern, sondern Land, Kommune und Träger, die z.B. in Bayern weit über 80% der Kosten aufbringen. Und wie jeder Kunde haben sie Interesse, viel für wenig Geld zu bekommen. Deshalb wurden vielerorts die Öffnungszeiten verlängert, die Gruppengrößen heraufgesetzt und nur noch unqualifizierte Zweitkräfte eingestellt. Das ist schließlich billiger...

Was heißt überhaupt "Dienstleistung"? Der Brockhaus definiert sie als "wirtschaftl. Tätigkeiten, die nicht in Erzeugung von Sachgütern, sondern in persönl. Leistungen bestehen: Handel, Banken, Versicherungen, Transport- und Nachrichtenwesen, öffentl. Verwaltung, freie Berufe (z.B. Steuerberatung)." Für den Duden ist "Dienstleistung" eine "Arbeit in der Wirtschaft, die nicht unmittelbar der Produktion von Gütern dient". Meyers Lexikon unterscheidet zwischen materiellen Dienstleistungen, die die Nutzung eines vorhandenen Produktes gewährleisten, und nichtmateriellen Dienstleistungen zur unmittelbaren Befriedigung von Bedürfnissen der Menschen oder der Gesellschaft. Der Duden bezeichnet das Wort "Dienstleistungsbetrieb" als einen aus der Wirtschaft kommenden Begriff für ein "Unternehmen, das Dienstleistungen erbringt".

Sind Kindertageseinrichtungen jetzt auf einmal Teil des Wirtschaftssystems? Erbringen sie wirtschaftliche Tätigkeiten? Werden hier menschliche Bedürfnisse unmittelbar befriedigt? Sind Erziehung und Bildung vergleichbar mit dem Verkauf eines Mantels, mit einem Haarschnitt oder der Installation einer Wasserleitung? Sind Erzieher/innen nun gleich gestellt mit Verkäuferinnen, Friseusen und Handwerkern? Berücksichtigen die letztgenannten Dienstleister etwa das Wohl ihrer Kunden? Nein, eher das eigene Wohl: Sie wollen ihre Dienstleistung für möglichst viel Geld an den Mann oder die Frau bringen! Für Erzieher/innen ist hingegen das Kindeswohl und nicht der eigene Gewinn vorrangig: Sie sollen das Recht eines jeden jungen Menschen "auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit" gewährleisten (§ 1 Abs. 1 SGB VIII). Sie sollen das Kind in seiner "individuellen und sozialen Entwicklung fördern und dazu beitragen, Benachteiligungen zu vermeiden oder abzubauen", es vor Gefahren für sein Wohl schützen und für ihn positive Lebensbedingungen schaffen (vgl. § 1 Abs. 3 SGB VIII). Hier geht es nicht um eine genau definierbare Dienstleistung, für die man einen bestimmten Geldbetrag einfordern kann. Hier geht es um mehr als in einer kurzfristigen Dienstleister-Kunden-Beziehung vonstatten gehen kann. Hier geht es um Erziehung und Bildung innerhalb einer auf mehrere Jahre hin angelegten pädagogischen Beziehung.

Frühkindliche Bildung

In der wissenschaftlichen Pädagogik spielt der Betreuungsbegriff keine nennenswerte und der Dienstleistungsbegriff überhaupt keine Rolle. Dafür wurden Hunderttausende von Seiten über Bildung und Erziehung gefüllt. Was heißt nun aber für den Kindergarten "Bildung"? Was umfasst sie? Was sollte sie beinhalten?

Diese Fragen können in Deutschland nicht zufrieden stellend beantwortet werden. Es ist noch nicht einmal der Bildungsbegriff in der Frühpädagogik annähernd geklärt, geschweige denn der Bildungsauftrag von Kindertageseinrichtungen. Auch fehlten bis Mitte dieses Jahres Curricula, in denen Bildungsziele, -inhalte und -methoden festgelegt sind. Das bedeutet, dass in Deutschland Bildung in das Belieben der einzelnen Erzieherin gestellt ist - es gibt für sie keine Richtlinien, an denen sie sich orientieren kann, und für die Gesellschaft keinen Maßstab, mit dem sie die bildende Leistung von Kindertagesstätten messen kann. Da hilft auch die vom Bundesfamilienministerium finanzierte Nationale Qualitätsinitiative nicht weiter, denn wie will man Bildungsqualität bestimmen, wenn der Bildungsauftrag nicht definiert ist und bis vor kurzem Curricula fehlten?

Erst im Jahr 2000 erschien ein Buch für Erzieher/innen, in dem "Bildung" Teil des Titels ist: Irmgard Maria Burtschers "Mehr Spielraum für Bildung. Kindertagesstätten als Bildungseinrichtungen der Zukunft". Die Autorin will Erzieher/innen Argumentationshilfen liefern, damit diese "in der Öffentlichkeit mit Vehemenz ihren Bildungs-Kindergarten" (S. 8) vertreten können. Zunächst konstatiert Burtscher, dass Bildung im Elementarbereich nichts mit schulischer Wissensvermittlung zu tun habe. Vielmehr soll sie einen Beitrag zur Entwicklung von Persönlichkeit, Identität und Selbstbewusstsein leisten, "Lebensführungshaltungen", Einstellungen zum Lernen, soziale Umgangsformen, Schlüsselqualifikationen, Denkgewohnheiten, Wissensgrundlagen, Weltverständnis, Lebenssinn u.v.a.m. vermitteln. Dabei muss vom "frühkindlichen Lerncharakter" ausgegangen werden, der durch Neugier und vielfältige Interessen geprägt ist. Auch sollte die frühkindliche Wahrnehmungs- und Fantasiewelt berücksichtigt werden. Dann listet Burtscher kindgemäße Bildungsinhalte aus den Bereichen Naturwissenschaften, Arbeitsleben, Kunst und Gesellschaft auf. Ferner stellt sie dar, wie Erzieher/innen auf den Bildungserfahrungen der Kinder in ihren Familien aufbauen können. Jedoch wird der Begriff "Bildung" nicht definiert, fehlt eine Systematik der Bildungsziele und -inhalte ("Didaktik"), wird die Methodik kaum thematisiert. Auch wird davon ausgegangen, dass Kindertagesstätten bereits "Bildungs-Kindergärten" wären - was sicherlich so nicht zutreffend ist.

Inzwischen gibt es auch einige eher wissenschaftlich fundierte Ansätze, die vielleicht bei der Bestimmung eines frühpädagogischen Bildungsbegriffs und -auftrags weiterhelfen. Sie sollen im Folgenden kurz skizziert werden.

A. Der historische Ansatz

In einer früheren Publikation habe ich die Bildungsbegriffe berühmter und zumeist längst verstorbener Pädagog/innen analysiert und die folgenden zentralen Aspekte gefunden (Textor 1999):

Bildung umfasst sowohl die Entwicklung und Schulung 'innerer Kräfte' (formale Bildung) als auch die Aneignung von Kenntnissen und Erschließung der Welt (materiale Bildung).

Bildung beinhaltet sowohl Selbstbildung, einen Prozess der Selbstgestaltung und Eigenaktivität (der sich über das ganze Leben erstrecken kann), als auch einen Prozess der Bildung und Wissensvermittlung durch Dritte (insbesondere durch planmäßigen Unterricht; zumeist auf die ersten zwei oder drei Lebensjahrzehnte beschränkt).

Bildung ist sowohl die Übernahme und der Erwerb von Bildungsgütern wie Sprache, Kulturtechniken, (Natur- und Geistes-) Wissenschaft, Technik (einschließlich neuer Informationstechnologien) und Kunst als auch die kritische Auseinandersetzung mit diesen, deren Veränderung und Abwandlung aufgrund eigener Denkprozesse und Handlungen.

Bildung dient sowohl der Entfaltung des inneren Menschseins und der eigenen Individualität (Bildung als Selbstzweck) als auch zur gesellschaftlichen Nützlichkeit (was durchaus eine kritische Haltung zur Gesellschaft und die Handlungsbereitschaft zu deren Weiterentwicklung beinhaltet).

Bildung umfasst sowohl Allgemein- als auch Berufsbildung, Schul- bzw. Hochschulbildung als auch betriebliche Ausbildung.

Bildung bedeutet sowohl einen Prozess des kognitiven, moralischen, sozialen und emotionalen Lernens als auch das Resultat eigener 'Studien'.

Bildung im Kindergarten umfasst viele dieser Aspekte: In Bildungsprozessen erlernen Kleinkinder die Sprache und entwickeln immer mehr Verständnis für deren Begriffe, Symbole, Bedeutungen und Kategorien - eine differenzierte Sprache fördert ein differenziertes Verstehen. In Bildungsprozessen werden ihre körperlichen und geistigen Anlagen geweckt, Fähigkeiten und Fertigkeiten ausgebildet. In Bildungsprozessen werden sie in Gesellschaft, Arbeitswelt und Wirtschaftsleben, Kunst und Kultur, Religion und Ethik, Sitten und Bräuche eingeführt - sie werden von den Erzieherinnen und anderen Menschen gebildet. In Bildungsprozessen setzen sie sich mit neuen Erfahrungen, Beobachtungen und Erkenntnissen auseinander, erkennen Zusammenhänge, nehmen kritisch Stellung und ziehen Folgerungen für ihr Handeln. Durch Eigenaktivität und Selbsttätigkeit, aus eigener Motivation heraus, erkunden und erschließen sie ihre Welt, nehmen Kontakt zu anderen Menschen auf und lernen von ihnen - sie bilden sich selbst. In Bildungsprozessen entwickeln sich ihre einzigartige Persönlichkeit, ihr Charakter, ihre Identität, ihre Individualität.

Dieser Textauszug verdeutlicht, dass uns ein Blick in die Geschichte der Pädagogik und auf die für andere Altersgruppen entwickelten Bildungsbegriffe durchaus bei der Definition des Bildungsauftrags von Kindertagesstätten weiterhelfen kann.

B. Frühkindliche Bildung als Kompetenzförderung

Das vom Bundesbildungsministerium geförderte Projekt "Konzeptionelle Neubestimmung von Bildungsqualität in Tageseinrichtungen für Kinder mit Blick auf den Übergang in die Grundschule" unter der Leitung von Professor Wassilios E. Fthenakis (in Vorb.) befasst sich mit dem Bildungsauftrag von Tagesstätten für Kinder von null bis etwa zehn Jahren. Kleinkinder werden als aktive, kompetente Wesen gesehen, die ihre eigene Entwicklung mitgestalten. Bildung wird nicht - wie bislang - primär als individuumzentrierter bzw. als Selbstbildungsansatz definiert, sondern als ein sozialer Prozess in einem bestimmten Kontext, an dem das Kind und andere Personen aktiv beteiligt sind. Bildung wird somit als ein ko-konstruktiver Prozess verstanden.

Im Rahmen dieses Projekts werden aber auch Anforderungen von Wirtschaft und Gesellschaft an das Individuum berücksichtigt. Dementsprechend kommt dem Erwerb von Basiskompetenzen eine große Bedeutung zu: So sollen sich Kinder bereits im frühen Lebensalter lernmethodische Kompetenzen aneignen - also lernen, wie man lernt, wie man Wissen erwirbt, wie man es organisiert und wie man es zur Lösung komplexer Problemstellungen einsetzt. Andere zu fördernde Basiskompetenzen sind Resilienz als die Fähigkeit, sich an akut oder chronisch belastende Lebenssituationen effektiv anzupassen, und Transitionskompetenz, mit deren Hilfe Entwicklungsherausforderungen bewältigt werden können, die mit Übergangsprozessen im familiären oder institutionellen Bereich verbunden sind. Andere wichtige Kompetenzen sind Körperbewusstsein, Frustrationstoleranz, emotionale Stabilität, Autonomie, Selbstregulation, Selbstbewusstsein, Kreativität, Kommunikationsfähigkeit, Empathie, Medienkompetenz und Kooperationsfähigkeit.

Kritisch angemerkt: Der Ansatz erschöpft sich in der Aufzählung von Kompetenzen, ohne dass deutlich wird, wieso gerade diese Fähigkeiten ausgewählt wurden, in welchem Verhältnis sie zueinander stehen und welche wichtiger bzw. weniger wichtiger sind (Hierarchie). Es bleibt weitgehend offen, auf welche Weise die Kompetenzförderung erfolgen soll und an welchen Inhalten Fähigkeiten ausgebildet werden sollen - es fehlen also eine Methodik und Didaktik der Frühpädagogik.

C. Bildungskanon

Im bereits erwähnten Buch "Weltwissen der Siebenjährigen" geht Donata Elschenbroich (2001) einen anderen Weg: Sie hat nach Auswertung von 150 Gesprächen mit Menschen aller Schichten - Eltern, Hirnforschern, Pädagoginnen, Unternehmern, Psychologinnen, Arbeitslosen usw. - einen Bildungskanon zusammengestellt. Das Weltwissen, das sich Siebenjährige in Familie, Kindertageseinrichtung und anderen Lebensbereichen angeeignet haben sollten, umfasst lebenspraktische, soziale, motorische, kognitive und ästhetische Elemente. Einige Beispiele:

  • gewinnen wollen und verlieren können...
  • die Erfahrung machen können, dass Wasser den Körper trägt...
  • einen Schneemann gebaut haben. Eine Sandburg. Einen Damm im Bach. Ein Feuer im Freien anzünden und löschen können. Windlicht, Windrad erproben
  • Butter machen. Sahne schlagen. (Elementare Küchenchemie, Küchenphysik kennen: Schimmel, schädlicher und pikanter...
  • in einer anderen Familie übernachten. Mit anderen Familienkulturen, Codes in Berührung kommen. Einen Familienbrauch kennen, der nur in der eigenen Familie gilt...
  • Wunderkammer Museum: die Botschaft der Dinge. Ihre Aura, ihr Altern, ihr Fortbestehen nach unserem Tod. Eine Burg kennen. Ein Gefühl haben dafür, dass sich die Welt verändert. Dass die Großmutter anders aufgewachsen ist. Ein Ding aussondern zum Behalten und Weitergeben, an die eigenen Kinder
  • eine Sammlung angelegt haben (wollen)
  • eine Ahnung von Welträumigkeit, von anderen Kontinenten haben...
  • den Unterschied zwischen Markt und Supermarkt kennen...
  • in einem Streit vermittelt haben. Einem Streit aus dem Weg gegangen sein...
  • einige Blattformen kennen, wissen, was man in der Natur essen kann und was nicht

(Elschenbroich 2001, S. 28-32). Ein solcher Bildungskanon ist prinzipiell offen und unabgeschlossen. Er dient in erster Linie als Verständigungsbasis darüber, welche Bildungserfahrungen Kleinkinder machen sollten. Erst dann kann ein interessantes und anregendes Bildungsmilieu geschaffen, können entsprechende Anregungen gemacht und das Vorwissen, die Fähigkeiten und Stärken der Kinder gesteigert werden. Damit bekommt der Kindergarten einen Bildungsauftrag, den Elschenbroich (2001a) an anderer Stelle andeutet: "Zeit für Experimente, Zeit für Fehler, fürs Üben, für Wiederholungen - der Kindergarten bietet das alles. Elementare Zugänge zu Naturwissenschaften, der Schrift, den Künsten. Im Kindergarten kann ihnen die Welt ein Labor werden, ein Atelier, eine Werkstatt. Oder ein Wald. Oder der Mond."

Zu problematisieren ist, dass der von Elschenbroich vorgestellte Bildungskanon unsystematisch ist und letztlich willkürlich erscheint. Er kann Erzieher/innen nur begrenzt als Orientierung für ihre pädagogische Arbeit dienen. Hinzu kommt, dass diesem Bildungskanon jegliche Legitimation durch Ministerien, Kommunen und Trägerverbände fehlt.

D. Bildung als Selbstbildung

Von 1997 bis 2000 wurde das Projekt "Zum Bildungsauftrag von Kindertageseinrichtungen" durchgeführt, das seitens des Bundes und mehrerer Länder gefördert wurde und dessen Ergebnisse vor einigen Monaten veröffentlicht wurden. Der Projektleiter Hans-Joachim Laewen (2002) zeigt auf, dass Bildung bisher einseitig entweder als Wissenserwerb entsprechend eines "Wissenskanons" oder aber als Erwerb von Kompetenzen entsprechend eines "Kanons von Schlüsselkompetenzen" verstanden wurde. Bildung würde damit von außen, von der Seite der (Arbeits-) Welt aus definiert. Für Laewen hingegen ist Bildung Sache des Subjekts und damit Selbstbildung. So geht er vom Kind aus, von dessen Eigenaktivität und Selbsttätigkeit, dessen Bemühen um Weltverständnis und Handlungskompetenz. Auf diese Weise rückt Laewen den Eigenanteil des Kindes an der eigenen Bildung ins Zentrum, wobei Bildung sowohl Welt-Konstruktionen - d.h. Weltaneignung durch Erforschen, Erfahren, Nachdenken usw. - als auch Selbst-Konstruktionen - d.h. Bildung des Selbst als Kern der Persönlichkeit - umfasst. Letztlich können Kinder nicht gebildet werden, sondern müssen sich selbst bilden, wobei sie aber auf die Hilfe der Erwachsenen angewiesen sind. Bildung wird somit zu einem kooperativen Projekt zwischen Kindern und Erwachsenen, wobei letztere vor allem über die Gestaltung der Umwelt der Kinder - z.B. räumliche Umgebung, Situationen, Zeitstrukturen - und der Interaktionen mit ihnen - z.B. Förderung von dialoghafter Kommunikation, Auswahl von Themen, Eingehen auf die Themen der Kinder - erzieherisch wirken. "Erziehung" wird damit zu einer Tätigkeit von Erwachsenen, durch die die Bildungsprozesse beim Kind gefördert werden.

Zusammenfassend schreibt Laewen (2002): "Bildung als Selbstbildung der Kinder und Erziehung als Aktivität der Erwachsenen stehen so in einem Wechselverhältnis zueinander. Die auf den frühen Bindungen der Kinder basierende Bereitschaft zur wechselseitigen Anerkennung bildet die Brücke, über die Erziehungsziele der Erwachsenen zu Bildungszielen der Kinder werden können. ... Der Bildungsauftrag der Kindertageseinrichtungen würde in seiner allgemeinsten Formulierung also lauten, die Bildungsprozesse der Kinder durch Erziehung zu beantworten und herauszufordern und durch Betreuung zu sichern" (S. 92). Wichtige Rahmenbedingungen für gelingende Bildungsprozesse sind der Zugang zu komplexen Sinneswahrnehmungen und damit verbundenen Erfahrungen einerseits und die Entwicklung sicherer Bindungen an Erwachsene andererseits.

Auch der Kölner Professor Gerd E. Schäfer vertritt diesen Ansatz. Er spricht sich dagegen aus, dass frühkindliche Bildung sich an den Anforderungen der Gesellschaft oder Schule orientieren und bestimmte Kompetenzen vermitteln sollte. Schäfer (2002, S. 25) schreibt: "Teilen wir die Kinder in Kompetenzen auf - sinnliche, soziale, kognitive, emotionale, moralische usw. - dann ignorieren wir, dass die Alltagserfahrungen nicht nach solchen Kompetenzbereichen geordnet vorliegen. Keine Alltagssituation trägt die Aufschrift: Hier handelt es sich um eine soziale, emotionale oder ästhetische Lernaufgabe. Jeder muss selbst herausfinden, welche Fähigkeiten er einsetzen kann, um Lösungen für alltägliche Aufgaben zu finden". Schäfer kritisiert, dass der Kompetenz-Ansatz von einem defizitären Bild vom Kind ausgehen würde - nicht aber von dem Bild des Kindes als "Forscher" bzw. als "Entwerfer und Gestalter seines Weltbildes in der Auseinandersetzung mit der Kultur". Kleinkinder erforschen ihre Um- und Mitwelt; sie lernen, indem sie ihre Umgebung zu "begreifen" versuchen, nachdenken, sich selbst und anderen Fragen stellen, Probleme lösen, konkrete Erfahrungen auf der Grundlage eigener Wahrnehmungen machen, kreativ sind usw.. "In diesem Sinne muss man sagen, dass frühkindliche Bildung in erster Linie Selbst-Bildung ist und dass diese Bildung entlang den Erfahrungen gewonnen wird, die Kinder in ihren Lebenszusammenhängen machen. Und die wichtigste Erfahrung, die Kinder dabei machen, ist die, welche Bedeutung das hat, was sie da erleben oder erfahren" (Schäfer 2002, S. 24). Daraus ergeben sich für Schäfer (2002, S. 27-28) folgende Bildungsziele:

Inhaltlich gesehen umfasst Bildung in den ersten drei Lebensjahren vier grundlegende Bereiche:

  1. Bildung der Sinne,
  2. Bildung von Imagination, Phantasie und szenischem Spiel,
  3. Bildung einer symbolischen Welt, insbesondere einer Sprachwelt.
  4. Dies alles ist eingebettet und unmittelbar verknüpft mit einer Bildung der zwischenmenschlichen Beziehungen.

Darauf bauen drei weitere Bildungsbereiche auf, die ab dem dritten Lebensjahr zunehmend an Bedeutung gewinnen:

  1. Der Bereich der ästhetischen Bildung. Er setzt die Bildung der Sinne, der Imagination, der Phantasie und des Spiels fort. Dieser Bereich darf nicht als Basteln oder Kinderkunst missverstanden werden, sondern ist als Schule des differenzierten und sensiblen Wahrnehmens zu begreifen. Er umfasst die Bereiche der Außen- und der Innen- (Körper-) Wahrnehmung sowie der emotionalen Wahrnehmung.
  2. Der Bereich von Sprache(n) und Kultur(en). Dabei geht es nicht in erster Linie um Sprachkompetenzen oder den Ausgleich von Defiziten, sondern vornehmlich darum, dass Kinder über das sprechen können, was ihnen etwas bedeutet; sodann um Gelegenheiten, mit Sprache zu spielen, um ihre Möglichkeiten und Grenzen zu erfassen. Mit der Sprache gewinnt das Kind einen Zutritt zu den kulturellen Mustern, die eine Gesellschaft zur Deutung der Wirklichkeit angesammelt hat. Der Erwerb einer zweiten Sprache setzt eine gelungene Qualität im Erwerb der Muttersprache voraus. Diese dient dazu, in einer zweiten Sprache über Bedeutungen sprechen zu lernen und Zutritt zu einer anderen (Sprach-) Kultur zu gewinnen.
  3. Die Welt der Natur, zu der man eine Beziehung aufbauen, die man kennenlernen muss, bevor man sie in physikalische, chemische, biologische oder technische Zusammenhänge aufspalten kann. Das ist die Voraussetzung, dass der Bereich Natur für ein Kind subjektive Bedeutung gewinnen kann. Die Zeit vor der Schule ist wichtig für dieses Kennenlernen und für die Entwicklung erster (kindlicher) 'Weltbilder'.

Aber - so möchte ich kritisch fragen - geht es bei Sinnesschulung, emotionaler Wahrnehmung, Spracherwerb, Ausbildung zwischenmenschlicher Beziehungen, Kennenlernen kultureller Muster und Entwicklung von Weltbildern nicht um den Erwerb von Kompetenzen und Kenntnissen? Ist das Kleinkind nicht überfordert, wenn Bildung als Selbstbildung nur in seine eigene Verantwortung fällt? Ist die Diskrepanz zur Schule mit ihrem ganz anderen Bildungsbegriff (s.o.) nicht zu groß? Darf man wirklich die Anforderungen von Schule, Familie und Gesellschaft ignorieren?

E. Der zukunftsorientierte Ansatz

In einer früheren Publikation (Textor 2001) habe ich versucht, den Bildungsauftrag von Kindertageseinrichtungen davon abzuleiten, wie Kleinkinder von heute in ca. 20 Jahren leben werden, - also von den zukünftigen Anforderungen. Werfen Sie zunächst mit mir einen Blick in die Zukunft:

Morgens weckte ihn leise Musik, die der Radiosender nach seinen Vorlieben speziell für ihn zusammengestellt hatte. Die Jalousie ging in die Höhe, und das erste Sonnenlicht schien in das Zimmer. Er blieb noch einige Minuten liegen und hörte, wie sich die Kaffeemaschine einschaltete. Köstlicher Kaffeeduft kam aus der Küche. Er stand auf und ging in das Badezimmer. Als er Wasser ließ, meldete die Toilette: 'Urin in Ordnung; keine Keime'. Nachdem er den Schlafanzug ausgezogen hatte, trat er in die Körperwaschmaschine und schloss sie hinter sich. Warmes Wasser, zuerst mit Schaum versetzt, glitt an seinem Körper herunter. Dann trocknete ihn warme Luft, die aus vielen kleinen Düsen kam. 'Schade, dass das Gerät mich noch nicht rasieren kann', dachte er, als er erfrischt aus der Körperwaschmaschine trat. Im Bademantel betrat er die Küche, wo Hausi, sein Haushaltsroboter, schon den Tisch gedeckt und das Frühstück vorbereitet hatte. Er setzte sich und schaltete mit der Fernbedienung den großen flachen Bildschirm an der Wand ein. 'Heute hätte ich Lust auf die Süddeutsche', dachte er und wählte sie aus der Liste aus. Titelseite und Seite 2 erschienen auf dem Bildschirm. Während er frühstückte, 'blätterte' er gelangweilt die Zeitung durch. Dann ließ er sich noch die E-Mails zeigen, die in der Nacht eingetroffen waren. Es schellte. An der Tür stand ein Bote mit einem Pappkarton voller Lebensmitteln und sagte nach dem Gruß: 'Ihr Kühlschrank hat durchgegeben, welche Lebensmittel ausgegangen sind und dass Sie jetzt zu Hause angetroffen werden können'. Er nahm den Karton, brachte ihn in die Küche und kehrte mit seiner Geldkarte zurück. Der Betrag für die Lebensmittel wurde sofort abgezogen. Nachdem er sich angezogen und Hausi beauftragt hatte, Schlafzimmer, Bad und Küche zu putzen, fuhr er mit dem Lift in die Tiefgarage. Die Tür seines Autos öffnete sich, nachdem sein Fingerabdruck überprüft worden war. Er ließ sich auf den Sitz fallen und gab in den Bordcomputer 'Arbeit' ein. Der Wasserstoffmotor sprang leise an, und das Auto fuhr los. Der Sitz begann, leicht zu vibrieren und seinen Rücken zu massieren. Der Bordcomputer kannte den Weg, und die Sensoren sorgten dafür, dass er sicher ankommen würde. So hatte er Zeit, in seinem Organizer die Termine für den heutigen Arbeitstag aufzurufen und gedanklich durchzugehen. In der Tiefgarage seiner Firma angekommen, stieg er aus seinem Auto aus, dessen Tür sich automatisch schloss und verriegelte. 'Mein Schreibtisch müsste noch in 7A stehen', dachte er und fuhr mit dem Lift bis in den siebten Stock. Im Großraumbüro ließ er sich auf einem Stuhl fallen, der sich automatisch seiner Sitzhaltung anpasste. Er roch den Frühlingsduft, der über die Klimaanlage in den Raum strömte. Der Computer schaltete sich erst ein, nachdem sein Fingerabdruck überprüft wurde. Die Zeit reichte gerade, um die eingegangenen E-Mails zu lesen. Dann traf er sich mit zwei Kollegen in Besprechungsraum 7F; ein anderer Mitarbeiter war per Videokonferenz zugeschaltet. Sie riefen auf dem die halbe Wand verdeckenden Bildschirm die Arbeitsergebnisse vom Vortag auf - die Pläne für eine neue Fabrikhalle. Zunächst wurde die Position der Pfeiler überprüft. Einige Tastendrucke genügten, um das Innere der Halle dreidimensional auf der einen Hälfte des Bildschirms abzubilden. Auf der anderen erschienen die Roboter und Fertigungsbänder. Mit dem Finger wurden die Objekte verschoben und in der Halle platziert. Bald wurde deutlich, dass der Abstand zwischen den Pfeilern vergrößert werden musste. Dem Computer wurden die neuen Vorgaben diktiert, und er veränderte die Pläne in Sekunden. ... Nach fünf Stunden verließ er ausgelaugt seinen Arbeitsplatz. 'Nur gut, dass die 25-Stunden-Woche eingeführt wurde, länger hätte ich diesen Stress nicht ausgehalten', dachte er. Sein Auto brachte ihn zu den Skilanglaufhallen auf dem alten Fabrikgelände. Hier war eine künstliche Skipiste von fünf Kilometer Länge entstanden. Bildschirme entlang der Wände zeigten immer wieder neue Berglandschaften, und so war die Strecke nie langweilig. 'Ob ich am Wochenende nach Katmandu jetten soll?', dachte er. In vier Stunden wäre er mit dem Überschallflugzeug dort und könnte schon am Samstagmittag mit der Treckingtour beginnen...

Kindertageseinrichtungen sollten ihren Beitrag dazu leisten, dass Kinder die für ein derartiges Leben benötigten Kompetenzen erwerben. Je rasanter der technologische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Wandel wird, umso wichtiger wird die Vorbereitung auf die Zukunft. Wir sollten deshalb solche Szenarien wie das gerade vorgestellte entwickeln und daraus die von Kindern benötigten Qualifikationen ableiten - Fähigkeiten wie lernmethodische Kompetenz, Kommunikationsfertigkeiten, Technikverständnis, Medienkompetenz, Teamfähigkeit, Selbstmanagement usw., Persönlichkeitscharakteristika wie Selbstbewusstsein, Neugier und Offenheit, Kenntnisse wie Allgemeinwissen und Fremdsprachen, Einstellungen wie Toleranz und Wertorientierung. Bildung für die Zukunft darf aber nicht bedeuten, dass auf Kindorientierung verzichtet wird - und natürlich müssen Kindertageseinrichtungen weiterhin familien-, lebenswelt- und gegenwartsorientiert sein. Aber es muss mehr als bisher an die Zukunft der Kinder und unserer Gesellschaft gedacht werden: Die Welt wird immer komplexer, schwieriger und stressiger werden, und unsere Kinder müssen dafür gewappnet sein.

Wenn wir die fünf skizzierten Ansätze reflektieren, wird die Notwendigkeit von Selbst- und Fremdbildung sowie der Entwicklung und Vermittlung von Kompetenzen, Kenntnissen, Einstellungen und Eigenschaften (von formaler und materialer Bildung) deutlich. Bildung sollte immer sowohl dem Individuum (Bildung als Selbstzweck) als auch der Gesellschaft dienen (Berücksichtigung der Anforderungen von Wirtschaft, Politik usw.) und zu deren positiven Weiterentwicklung beitragen.

Der Erziehungsbegriff

Auch der Erziehungsbegriff hat im Verlauf der Geschichte viele Bedeutungen erfahren; oft sind Überschneidungen mit dem Bildungsbegriff festzustellen. Erziehung erfolgt aufgrund der "Erziehungsbedürftigkeit" des Menschen und ist nur aufgrund seiner "Erziehbarkeit" möglich. Sie ist somit eine notwendige Hilfe zur Menschwerdung. Erziehung bezieht sich im Gegensatz zur Bildung mehr auf das (soziale) Verhalten und die diesem zugrundeliegenden Einstellungen, Werthaltungen, Regeln und sittlichen Grundsätze - somit also auch auf den Charakter und das Gewissen des Kindes ("Sozialerziehung", "moralische Erziehung"). Das Kind soll das Normengefüge und die Sitten seiner Gesellschaft weitgehend übernehmen und sich den vorherrschenden Rollenerwartungen anpassen.

Das bedeutet aber nicht, dass Werte und Regeln aufgezwungen werden sollen. Vielmehr sollte das Kind auch zum kritischen Hinterfragen von Vorgaben erzogen werden, muss es sich mit den Normen seiner Gesellschaft auseinandersetzen. Es sollte Werte und Regeln weitgehend freiwillig übernehmen, weil es sie als vernünftig, sinnvoll und wahr erkannt hat und sich bewusst für sie entschieden hat (Betonung der Entscheidungsfreiheit und der Selbstbindung). Nur dann wird es entsprechend seiner eigenen sittlichen Grundsätzen handeln, sein Verhalten an dieser Richtschnur kritisch überprüfen und bei Abweichungen ändern (Betonung der Eigenverantwortung, der Bedeutung des eigenen Gewissens) sowie motiviert sein, ungerechte Zustände in seiner Gesellschaft zu ändern.

Obwohl man auch vereinzelt von "Selbsterziehung" spricht, ist in der Regel mit "Erziehung" das Handeln erwachsener Menschen an der jungen Generation gemeint. Als "intentionale" Erziehung erfolgt sie absichtlich und direkt, anhand von "Erziehungszielen" oder -leitbildern und mit Hilfe von "Erziehungsmitteln". ... Im weitesten Sinne werden Reife (Befähigung zur Übernahme der "Lebensaufgaben") und Mündigkeit (Autonomie, Selbstverantwortung) des jungen Menschen angestrebt. ...

Von besonderer Bedeutung ist das "erzieherische Verhältnis" zwischen Erzieherin und Kind. Herman Nohl (1879-1960) sprach hier vom "pädagogischen Bezug" und bezeichnete damit eine Lebensgemeinschaft. Prägende Kräfte sind ihr Geist und ihre Atmosphäre. Der pädagogische Bezug ist laut Nohl durch starke positive Emotionen wie "Liebe", Zuneigung und Vertrauen bestimmt, aber auch durch Autorität und Gehorsam. Die Person des Erziehers spielt laut Nohl eine besondere Rolle: Auch seine Persönlichkeit, sein Charakter und sein Verhalten sollen erzieherisch wirken, also vorbildlich sein und zur Nachahmung anregen (Modellernen). Er muss dem Kind Rechte und Freiräume zugestehen; er soll dieses nicht "prägen", sondern seine Entwicklung "fördern". Deshalb benötigt der Erzieher "pädagogischen Takt" - aus der Achtung des Eigenlebens, der Würde und der Spontaneität des Kindes heraus.

In den letzten Absätzen wurde schon angedeutet, dass Erziehung nicht nur intentional (absichtlich, direkt) erfolgt, sondern auch "funktional", "indirekt" bzw. "mittelbar": Die Lebensgemeinschaft, das soziale Milieu, die Gestaltung der Umwelt (z.B. Innen- und Außenräume des Kindergartens), die Auswahl von Medien und Materialien, der "erzieherische Raum", das bloße Sein der Erzieherin prägen die kindliche Entwicklung. Die funktionale Erziehung ist eher die Regel; nur gelegentlich ist im alltäglichen Umgang miteinander intentionale Erziehung nötig.

Der Vorrang von Bildung und Erziehung

Dienstleistung hat nichts zu tun mit der Schulung innerer Kräfte und der Aneignung von Kenntnissen, mit Selbstbildung und Entfaltung des Menschseins, mit dem Machen von Bildungserfahrungen und dem Erwerb von Basiskompetenzen. Bei Bildung geht es nicht um das, was ein Dienstleister dem Kunden tut, sondern was das Kind selbst tut - zumeist nicht direkt beobachtbar in seiner Psyche. Ko-Konstruktion, Interaktion und Kooperation, die Beziehung zwischen Erzieher/in und Kind, die Lebensgemeinschaft stehen im Vordergrund, nicht das einseitige Handeln eines Fachmanns an seinem Kunden oder dessen Besitz. Eine Dienstleistung ist auch nicht vergleichbar mit Erziehung als Hilfe zur Menschwerdung oder als Beeinflussung von Sozialverhalten, Einstellungen und Werten, mit Gewissensbildung und Charaktererziehung. Eine kurzzeitige wirtschaftliche Beziehung zwischen Dienstleister und Kunden ist ganz und gar andersartig als die über Jahre bestehende Beziehung zwischen Erzieher/in und Kind - Zuneigung, Liebe, pädagogischer Takt usw. lassen sich nicht kaufen...

Nur wenn in Kindertageseinrichtungen Bildung und Erziehung das Zusammenleben von Erzieher/innen und Kindern prägen, wird dem Wohl von Kindern Genüge getan, werden sie weitgehend vor negativen gesellschaftlichen Einflüssen geschützt, können Mängel in der Familienerziehung kompensiert werden. Nur dann ist sichergestellt, dass sie im "pädagogischen Bezug" zur Erzieherin das finden, was ihnen mangels Präsenz der Eltern in der Familie fehlt. Und nur dann werden sie sich in der Kindertageseinrichtung die Kompetenzen aneignen, die Kinder früher in ihren Familien entwickelten.

Erzieher/innen sind somit gut beraten, wenn sie den Auftrag von Kindertageseinrichtungen in erster Linie als Erziehung und Bildung von Kindern definieren, und in zweiter Linie als Betreuung. Damit bleiben sie auf der Grundlage des § 22 Abs. 2 SGB VIII, gewichten aber die drei dort genannten Aufgaben analog zur Schule. Dies sollten sie offensiv in der Öffentlichkeit, gegenüber Politik und Wirtschaft vertreten. Das heißt auch, dass sie ihre Kindertagesstätten nicht als Dienstleistungsunternehmen oder Betreuungseinrichtungen bezeichnen, sondern als Bildungsstätten bzw. als Elementarbereich des Bildungssystems.

Gesellschaftliche Anforderungen an Kindertageseinrichtungen

Werden Kindertagesstätten als Bildungseinrichtungen definiert, können sich Erzieher/innen auch leichter gegenüber gesellschaftlichen Anforderungen abgrenzen, die mit der Bildungs- und Erziehungsfunktion nichts zu tun haben. Zu solchen Aufträgen gehören:

1. Der Auftrag seitens der Arbeitsmarktpolitik an Kindertageseinrichtungen ist, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf sicherzustellen, und zwar durch die Aufnahme von mehr Unter-Dreijährigen und Über-Sechsjährigen sowie durch Flexibilisierung und Ausweitung der Öffnungszeiten auf bis zu 10 Stunden.

2. Der Auftrag der Wirtschaft an Kindertageseinrichtungen ist ein ähnlicher: Durch die Ausweitung der Tagesbetreuungsangebote soll erreicht werden, dass die Unternehmen Geld sparen: Wenn beispielsweise (hoch-) qualifizierte Frauen dem Betrieb nach der Geburt eines Kindes nicht für viele Jahre verloren gehen, sondern nach einer kurzen "Babypause" an ihren Arbeitsplatz zurückkehren können, dann sind ihre unter großen betrieblichen Kosten erworbenen Qualifikationen noch up to date. Hinzu kommt, dass aufgrund der in den letzten zwei, drei Jahrzehnten kontinuierlich zurückgegangenen Geburtenzahlen immer weniger junge Arbeitnehmer/innen auf den Arbeitsmarkt kommen und es somit für Arbeitgeber zunehmend schwieriger wird, ausscheidende, Elternzeit nehmende oder aus familiären Gründen auf Teilzeit gehende Arbeitskräfte zu ersetzen - eine Entwicklung, die sich in den nächsten Jahren noch verschärfen wird.

3. Die Aufträge der Finanz- und der Sozialpolitik sind zwei Seiten derselben Münze: Die Finanzpolitik will mehr Geld einnehmen, die Sozialpolitik Geld sparen. Bleiben nämlich dank Kindertageseinrichtungen mehr (junge) Mütter (voll-) erwerbstätig, so erhöhen sie die Steuereinnahmen. Auch zahlen sie weiterhin Beiträge in die Sozialversicherungen ein. Für die Sozialpolitik werden negative Folgekosten vermieden, wenn Mütter dank guter Kinderbetreuungsangebote berufstätig bleiben - beispielsweise werden dann viele Alleinerziehende nicht sozialhilfebedürftig.

4. Sogar die Gleichstellungspolitik mischt mit: Erst die vollständige Vereinbarkeit von Familie und Beruf durch entsprechende Kinderbetreuungsangebote ermöglicht die Gleichberechtigung von Mann und Frau in der Arbeitswelt.

5. Seitens der Bevölkerungspolitik wird von Kindertageseinrichtungen erwartet, dass sie etwas zur Erhöhung der Geburtenfreudigkeit tun. Mehr Frauen bzw. Paare würden sich für ein Kind oder für weitere Kinder entscheiden, wenn sie diese vom ersten bis zum 10. Lebensjahr gut betreut wissen...

6. Bei der Bevölkerungspolitik gibt es noch eine humangenetische Perspektive, die allerdings stark tabuisiert ist: Da vor allem (hoch) qualifizierte Frauen - und damit auch deren zumeist ebenfalls (hoch) qualifizierten Männer - keine Kinder mehr bekommen, gehe der Gesellschaft immer mehr Begabungspotenzial verloren. Wenn z.B. Menschen mit einem höheren IQ weniger Kinder zeugen als solche mit einem niedrigeren, sinke die intellektuelle Leistungsfähigkeit einer Gesellschaft, da der IQ zu etwa 50% genetisch bedingt ist. Und dies sei eine fatale Situation für ein Land wie Deutschland, das mangels Bodenschätze auf die Begabungen ihrer Bürger/innen angewiesen ist, - oder für ein Land wie Singapur, wo vor einigen Jahren das Tabu gebrochen und über die humangenetische Perspektive gesprochen wurde - mit dem entsprechenden Aufschrei der Medien wegen dieses Verstoßes gegen political correctness. Hinsichtlich der Kindertagesbetreuung wird hier davon ausgegangen, dass durch besonders flexible Angebote, die auch abends oder an den Wochenenden zur Verfügung stehen, dem Lebens- und Arbeitsstil hoch begabter und hervorragend qualifizierter Personen entsprochen und die Entscheidung für ein Kind oder mehrere erleichtert werden könnte.

7. Ein Auftrag seitens der Kirchen an Kindertageseinrichtungen ist, die Abtreibungsquote zu senken. Indem Fremdbetreuung von kurz nach der Geburt an sichergestellt würde, werden unerwünscht schwangere Frauen - die ansonsten abtreiben würden - ihr Kind gebären, weil sie es gleich in gute Hände abgeben können. Zur Erinnerung: Der Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz wurde im Jahr 1996 eingeführt, um die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche zu reduzieren.

8. Ein weiterer Auftrag der Kirchen an Kindertageseinrichtungen ist, die eigene Institution zu retten. Da nur ein verschwindend kleiner Teil der Bevölkerung durch Gottesdienste und andere Angebote der Kirchengemeinden erreicht wird, da der Religionsunterricht an Schulen versagt - vor kurzem wurde in den Medien wieder berichtet, dass viele Jugendliche nicht wissen, weshalb Weihnachten, Ostern oder Pfingsten gefeiert werden -, sind Kindergärten neben dem Internet der letzte Strohhalm: Zumindest die Einrichtungen mit einem kirchlichen Träger sollen ein katholisches oder evangelisches Profil entwickeln, großen Wert auf religiöse Erziehung legen und möglichst auch entsprechende Angebote für Eltern machen.

9. Der Auftrag seitens der Behindertenpolitik an Kindertageseinrichtungen lautet, Kinder mit Behinderungen zu integrieren und angemessen zu fördern. Letzteres beinhaltet in der Regel die Zusammenarbeit mit Frühförderstellen und anderen relevanten Diensten. Im Rahmen der integrativen Erziehung sollen auch nicht behinderte Kinder an ein vorurteilsfreies Zusammenleben mit Behinderten herangeführt werden. Vorurteile bei Eltern sind abzubauen.

10. Natürlich sollen - der Auftrag der Ausländerpolitik - auch Kinder aus anderen Kulturkreisen in Kindertageseinrichtungen integriert werden. Sie sollen in unsere Gesellschaft eingeführt werden; besonderer Wert ist - spätestens seit der PISA-Studie - auf die Sprachförderung zu legen. Durch interkulturelle Erziehung sind deutsche Kinder an andere Kulturen heranzuführen und eventuelle Vorurteile abzubauen. Im Rahmen der Elternarbeit sollen Ausländerfamilien integriert werden.

11. In den letzten Jahren wurde aufgrund von UN-Beschlüssen intensiv über "Bildung für eine nachhaltige Entwicklung" nachgedacht. Seitens der Umweltpolitik wird von Kindertageseinrichtungen gefordert, dass sie z.B. Kinder an eine umweltbewusste Haushaltsführung heranführen, Spielmaterial im Hinblick auf Umweltverträglichkeit auswählen, das Konsumverhalten reflektieren und insbesondere Kinder mit der Natur und mit Lebensvorgängen bekannt machen.

12. Seitens der Medizin und Ernährungswissenschaft ergehen folgende Aufträge an Kindertageseinrichtungen: Sie sollen elementare Gesundheitserziehung leisten und Kinder an eine gesunde Ernährung heranführen. Da viele Kinder übergewichtig, unsportlich und motorisch unterentwickelt sind, soll großer Wert auf Bewegungserziehung gelegt werden. Auch Eltern sollen entsprechend informiert und aufgeklärt werden.

13. Im Rahmen der Prävention sollen Kindertageseinrichtungen der Entwicklung von Verhaltensauffälligkeiten, psychischen Störungen, Behinderungen und suchtfördernden Einstellungen vorbeugen. Bei Auffälligkeiten - aber auch bei Erziehungsschwierigkeiten der Eltern oder Familienproblemen - sollen sie beratend tätig werden und den Familien Hilfsangebote erschließen. Dazu müssen sie sich mit Beratungsstellen, Ämtern und psychosozialen Diensten vernetzen.

14. Seitens der Gleichstellungspolitik wird heute von Kindertageseinrichtungen eine geschlechtsbewusste Erziehung verlangt. Erzieher/innen sollen z.B. der Entstehung geschlechtsspezifischer Kommunikations- und Verhaltensmuster entgegenwirken, aber durch eine "Mädchen-" und "Jungenpädagogik" auch geschlechtsspezifische Bedürfnisse anerkennen. Statusbeziehungen zwischen Jungen und Mädchen sind so zu verändern, dass dies zu einer größeren Ausgewogenheit im sozialen Umgang miteinander führt.

15. Last but not least ist auf den Auftrag seitens der Bildungspolitik zu verweisen: Der Wirtschaftsstandort Deutschland ist hinsichtlich seiner Konkurrenzfähigkeit auf dem Weltmarkt in extrem hohem Maße auf die Bildung, Kreativität und Leistungsfähigkeit seiner Bürger/innen angewiesen. Spätestens seit Veröffentlichung der PISA-Studie haben Öffentlichkeit und Politik aber erkannt, dass das deutsche Bildungswesen nicht so leistungsfähig ist wie die Bildungssysteme in vielen anderen OECD-Ländern. Außerdem haben neuere Ergebnisse der Hirnforschung die Bedeutung der ersten Lebensjahre aufgezeigt und offensichtlich gemacht, wie viel durch eine gute Förderung von Kleinkindern erreicht werden kann (Shore 1997). Deshalb wird gefordert, dass Kindertagesstätten einen größeren Beitrag zur Qualifizierung von Kindern leisten und somit verstärkt als Bildungseinrichtungen fungieren sollten.

Deutlich wird, dass die Kindertageseinrichtung mehr, vielfältigere und komplexere Aufträge zu erfüllen hat als die weitaus meisten Institutionen unserer Gesellschaft.

Erzieherinnen im Vergleich zu Müttern

Kindertageseinrichtungen sind also überdeterminiert: Sie müssen mehr Aufträge erfüllen als die meisten anderen Institutionen. Darin ähneln sie Familien, die auch viele, höchst unterschiedliche Funktionen haben: Reproduktion, Sozialisation, Enkulturation, Haushaltsführung, Regeneration usw. Und sowohl in der Kindertageseinrichtung als auch in der Familie sind in erster Linie Frauen für die Aufgabenerfüllung zuständig.

Meine Theorie ist, dass Mutterbilder auch heute noch in Erzieherinnen nachwirken. Lassen Sie mich in einem kurzen Exkurs auf zwei relevante Leitbilder verweisen:

  • Das traditionelle Mutterideal: Mutterschaft gilt als Lebenssinn und "Essenz" der Weiblichkeit. Mütter sollen - zumindest so lange die Kinder klein sind - zu Hause bleiben und sich intensiv um ihre Kinder kümmern, da Kinder für eine gesunde Entwicklung die totale Präsenz der Mutter benötigen.
  • Die Supermutter: Sie ist eine attraktive Sexualpartnerin, eine erfolgreiche Berufstätige, eine perfekte Hausfrau und eine gute Mutter. Als "Beziehungsexpertinnen" sichern sie eine befriedigende Partnerschaft mit ihrem Mann und entwicklungsfördernde Eltern-Kind-Beziehungen, ohne dass die eigene Selbstverwirklichung und Persönlichkeitsintegration zu kurz kommen. Trotz ihrer Vollerwerbstätigkeit ist der Haushalt in Ordnung, haben sie genügend Zeit für ihre Kinder, pflegen sie viele soziale Kontakte.

Diese Mutterideale sind mit einer Reihe von Problemen verbunden. Beispielsweise werden an Mütter extrem hohe Erwartungen gerichtet, die leicht zu Überlastung und Stress führen können. Da Mutterschaft aber etwas "Wunderbares" ist, darf diese nicht dafür verantwortlich gemacht werden. Und da sie im Wesen der Frauen liegt und etwas Natürliches ist, sind keine besonderen Qualifikationen für sie notwendig. So haben Mütter nur einen geringen gesellschaftlichen Status, wird Erziehung nicht entlohnt.

Viele dieser Vorstellungen, die damit verbundenen Erwartungen und letztlich auch die Diskriminierungen treffen auch auf Erzieherinnen zu:

  • Die erzieherische Tätigkeit wird als Aufgabe von Frauen festgeschrieben; schließlich ist sie Teil der Weiblichkeit. Erzieher sind dementsprechend in Kindertageseinrichtungen sehr selten anzutreffen.
  • Erzieherinnen werden als "Supermütter" gesehen, die eine Meute von 20 und mehr Kleinkindern bändigen, erziehen und bilden - und eine normale Mutter ist schon bei zwei, drei Kleinkindern überfordert und verzweifelt! Erzieherinnen können jedes der ihnen anvertrauten 20 bis 25 Kinder genau kennen und ihnen Liebe, Zuneigung und Verständnis entgegenbringen. Sie sind in der Lage, Verhaltensauffälligkeiten, Entwicklungsverzögerungen und seelische Behinderungen zu erkennen und auszugleichen. Auch können sie die ganze Kindergruppe im Auge behalten und mit ihr pädagogisch arbeiten.
  • Erzieherinnen finden den Sinn ihres Lebens und eine große Befriedigung in ihrer erzieherischen Tätigkeit.
  • Nach der Arbeit sind Erzieherinnen fit für den Partner und die eigenen Kinder; wie andere Frauen auch können sie Beruf und Familie gut miteinander vereinbaren.
  • Da Erzieherinnen als Frauen über "in ihrer Natur liegende Mütterlichkeit", "Mutterinstinkte", Intuition und "normales Beziehungsexpertentum" verfügen, reicht eine Ausbildung auf einem niedrigen Niveau, das weit unter dem einer Akademikerin liegt.
  • Erzieher/innen haben wie Mütter einen niedrigen sozialen Status und erfahren wenig gesellschaftliche Anerkennung. Auch werden sie für ihre Erziehungstätigkeit schlecht bezahlt.

Wie Mütter sollen Erzieher/innen vielfältige, komplexe und hohe Erwartungen erfüllen. Es wird von ihnen erwartet, dass sie ohne Murren neue Aufgaben übernehmen - und sich mit der Befriedigung zufrieden geben, die sie in der Arbeit mit den "ach so süßen" Kleinkindern finden, die ihnen auch noch so viel Liebe entgegenbringen. Und ist Liebe nicht der höchste Lohn, den Frauen erwerben können?

Erzieher/innen im Vergleich zu Lehrer/innen

Während schon die gesellschaftlichen Erwartungen an "echte" Mütter sehr hoch sind, so sind die Anforderungen an Erzieher/innen noch höher. Dies wird besonders deutlich, wenn man ihre Aufgaben und Arbeitsbedingungen mit denen von Lehrer/innen kontrastiert:

  • Erzieher/innen arbeiten fast den ganzen Tag "am Kind", haben keine nennenswerte Verfügungszeit, um z.B. "bildende Aktivitäten" vorzubereiten. Lehrer/innen steht hierfür der ganze Nachmittag zur Verfügung.
  • In den meisten Kindergärten werden Jahres-, Monats- bzw. Wochenpläne entwickelt. Welcher Lehrer schreibt seinen eigenen Lehrplan oder verfasst sein eigenes Schulbuch als Grundlage für seinen Unterricht?
  • Der Situationsansatz fordert von Erzieher/innen, dass sie für Kinder bedeutsame Situationen ausfindig machen, analysieren und entsprechend ihr pädagogisches Handeln planen - keine Lehrerin käme auf diese Idee.
  • Immer mehr Erzieher/innen nehmen aufgrund des Drucks von Eltern oder aus eigener Überzeugung auch behinderte Kinder in ihre Tageseinrichtungen auf - während das Schulsystem in den meisten Bundesländern immer mehr Sondereinrichtungen schuf, wo diese Kinder von besonders qualifizierten - und gut bezahlten - Fachleuten in kleinen Gruppen "therapiert" werden.
  • Auch die Anforderungen an die Elternarbeit nehmen zu: Es reichen nicht wie an der Schule ein oder zwei Elternabende im Halbjahr, sondern vielfältige Angebote werden verlangt- auch solche, durch die Alleinerziehende, sozial schwache Familien und ausländische Eltern erreicht und in die Gemeinschaft integriert werden.
  • Inzwischen haben fast alle Erzieher/innen Kindergartenkonzeptionen verfasst (und schreiben sie regelmäßig fort). Welche Schule hat denn eine eigene Konzeption?
  • Kindertagesstätten betreiben im Gegensatz zu Schulen zunehmend Qualitätsmanagement. Sie entwickeln z.B. eigene Qualitätshandbücher, überprüfen die Qualität ihrer Arbeit anhand von Skalen wie der KES oder unterwerfen sich aus der Wirtschaft kommenden Normen wie der ISO 9000.
  • Wegen der zurückgehenden Kinderzahl müssen Kindergärten nun vermehrt Säuglinge, Ein- bzw. Zweijährige oder Schulkinder aufnehmen, was ein pädagogisches Arbeiten sehr erschwert. Welcher Lehrer wäre bereit und in der Lage, eine Klasse mit acht Altersjahrgängen zu "bilden"?

Das Fatale an dieser Situation ist Folgendes: Da Erzieher/innen nicht für die vorgenannten Aufgaben ausgebildet wurden, benötigen sie hierfür besonders viel Zeit, Kraft und Energie. Zugleich kam es in den letzten Jahren bei vielen Kindertageseinrichtungen zu einer Verlängerung der Öffnungszeiten, die in der Regel nur durch eine Verkürzung von Verfügungszeiten und/oder durch Schichtbetrieb erreicht werden konnte. Die Erzieher/innen müssen nun länger am Kind arbeiten und haben unterschiedliche Zeiten des Arbeitsbeginns und Arbeitsendes.

Da die Verfügungszeit immer mehr geschrumpft ist, müssen Erzieher/innen die Vorbereitung von Projekten und anderen Aktivitäten mit Kindern, Verwaltungsaufgaben, Teamsitzungen und Elterngespräche entweder in ihrer Freizeit erledigen oder die Fachkraft muss die Gruppe immer wieder ihrer Mitarbeiterin überlassen und sich in ihr Büro zurückziehen, um sich Gesprächen mit ausländischen Eltern oder der Koordinierung von Maßnahmen für behinderte oder sonst wie hilfsbedürftige Kinder zu widmen. Und hier wird deutlich, wie kontraproduktiv diese Situation ist - dass im Grunde das Gegenteil von dem Angezielten erreicht wird: Anstatt die Betreuung, Erziehung und Bildung von Kleinkindern zu verbessern, wird sie verschlechtert. Den Kindern wird die Erzieherin entzogen.

Die überlastete Erzieherin

Die gerade skizzierte Überforderung von Erzieher/innen durch die Vielzahl von Anforderungen wird auch in der Studie "Über die Qualität der Erziehung von Kindern und Jugendlichen in der Stadt Gütersloh" (2002) thematisiert. So heißt es beispielsweise: "Die Arbeitsbelastung durch den erweiterten Aufgabenbereich habe derart zugenommen, dass Syndrome wie 'Burn-Out' prognostizierbar seien" (a.a.O., S. 25). Hier werden noch weitere Ursachen für die Überlastung des Personals genannt: die zunehmende Zahl von erziehungsschwachen bzw. ihre Kinder vernachlässigenden Familien sowie von ihre Kinder überfordernden Eltern. Immer mehr Kinder seien verhaltensauffällig oder in ihrer Entwicklung verzögert, da sie unter der Trennung bzw. Scheidung ihrer Eltern oder unter deren sozialen, finanziellen und persönlichen Notlagen leiden würden, zu denen z.B. Alleinerzieherschaft, Arbeitslosigkeit, Armut, psychische Probleme und Alkoholismus gehörten. Viele Kinder seien von häufigem Wohnortwechsel oder von Migration betroffen, sodass sie viele Beziehungsabbrüche erlebt hätten und zum Teil ohne Freunde seien. Erzieher/innen müssten somit immer mehr Zeit für die individuelle Betreuung einzelner "Problemkinder", für Fallbesprechungen mit Kolleg/innen, die Beratung von Eltern und die Zusammenarbeit mit psychosozialen Diensten bei der Planung bzw. Durchführung besonderer Fördermaßnahmen aufbringen.

Erzieher/innen sind somit gut beraten, wenn sie in Zukunft ihre Grenzen offen benennen und Aufgaben verweigern, die sie von der Bildung, Erziehung und Betreuung von Kindern ablenken, ihnen die hierfür benötigte Zeit rauben oder sie überfordern. Es kann nicht so weiter gehen, dass Erzieher/innen immer mehr aufgehalst wird - nach intensivierter Elternarbeit, Konzeptionsentwicklung, Qualitätsmanagement, interkultureller Bildung, integrativer Erziehung usw. nun noch Sprachlernprogramme, mathematisch-naturwissenschaftliche Projekte, kompensatorische Erziehung etc. Es kann nicht so weiter gehen, dass Erzieher/innen das pädagogisch richten sollen, woran unsere Gesellschaft krankt: Dass sie auf Umweltzerstörung mit Umwelterziehung, auf Einzelkindsituation mit (weiter) Altersmischung, auf Fremdenfeindlichkeit mit interkultureller Erziehung, auf Segregation Behinderter mit Integration reagieren sollen, um nur einige Beispiele zu nennen.

Jedoch müssen Erzieher/innen nicht nur von Arbeiten entlastet werden, die nichts mit den zentralen Aufgaben der Bildung und Erziehung zu tun haben, sondern auch die Rahmenbedingungen müssen verbessert werden. Bedenkt man die aus verlängerten Öffnungszeiten resultierende Zeitnot, ist es nicht verwunderlich, dass die in Gütersloh befragten Kindertagesstätten zur Verbesserung ihrer Situation in erster Linie eine Erhöhung des Personalschlüssels forderten, da zwei Erzieher/innen pro Gruppe in der Regel nicht ausreichen würden. Gleichzeitig wurde eine Reduzierung der Zeit, die in den Kindergruppen verbracht wird, zugunsten einer Präsenzzeit für die zunehmenden Beratungsgespräche und Elternarbeit angestrebt. Aber auch die Gruppengröße müsse reduziert werden, damit die Erzieher/innen den einzelnen Kindern eher gerecht werden könnten.

Natürlich wird all dies Geld kosten, und so wäre zu überlegen, ob nicht ein kleiner Teil der von der neuen Bundesregierung für den Ausbau der Ganztagsbetreuung vorgesehenen Mittel hierfür ausgegeben werden sollte. In diesem Zusammenhang soll auch an die Forderung des Netzwerks Kinderbetreuung der Europäischen Kommission (1996) erinnert werden, dass die Mitgliedsstaaten der EU mindestens 1% des Bruttoinlandprodukts zur Gewährleistung einer qualitativ hochwertigen Kindertagesbetreuung bereitstellen sollten - in Deutschland werden derzeit weniger als 0,5% des BIP hierfür ausgegeben...

Zur Reform des Bildungswesens

Die PISA-Studie und viele Ländervergleiche haben uns in den letzten zwei Jahren gezeigt, dass das deutsche Bildungssystem grundlegend reformiert werden muss. Die anzustrebenden Reformziele sind schnell genannt:

  1. Die finanziellen Ressourcen müssen vom Sekundarbereich auf den Elementar- und Primarbereich umverteilt werden.
  2. Der Elementarbereich muss sich verstärkt der Bildung von Kleinkindern, der Primarbereich mehr der Betreuung von Grundschulkindern und der Sekundarbereich mehr der Erziehung von älteren Kindern widmen.
  3. Aus- und Fortbildung müssen die Voraussetzungen schaffen, damit Erzieher/innen und Lehrer/innen die neuen Aufgaben bewältigen können.

Die Umsetzung dieser Ziele kann auf unterschiedlichen Wegen erfolgen; einen von ihnen möchte ich kurz skizzieren:

(1) Elementarbereich: Die frühe Kindheit ist eine der wichtigsten Phasen im Lebenszyklus des Menschen. Sie ist einerseits gekennzeichnet durch eine große Bildsamkeit und Bildungsbedürftigkeit des Kindes und andererseits durch eine große Erziehbarkeit und Erziehungsbedürftigkeit. Letzteres umfasst auch die Umerziehbarkeit - in keiner anderen Lebensphase kann Verhaltensauffälligkeiten, Entwicklungsverzögerungen, Sprachstörungen usw. so leicht entgegengewirkt werden. Da Kleinkinder immer mehr Zeit in Kindertageseinrichtungen verbringen, nimmt die Bedeutung von Erzieher/innen im Vergleich zu der von Eltern zu: Sozialpädagogische Fachkräfte sind heute mehr denn je gefordert, die große Bildsamkeit und Erziehbarkeit von Kleinkindern wahrzunehmen und auf ihre Bildungs- und Erziehungsbedürftigkeit angemessen zu reagieren. Vorstellungen wie die vom "kompetenten Kind" oder vom sich relevante Situationen suchenden und diese selbsttätig erforschenden Kind haben insofern ihre Berechtigung, dass sie vor einer Verschulung des Elementarbereichs schützen. Sie dürfen uns aber nicht davon abhalten, die Bildung von Kleinkindern mehr als früher planmäßig und allseitig anzugehen und die Erziehung durchdachter und individualisierender zu praktizieren. Das heißt, dass wir:

  • Bildungserfahrungen für die Kinder unserer Gruppe planen müssen. Wir brauchen (wieder) Jahres-, Monats- und Wochenpläne, die aber flexibel gehandhabt werden und viel Zeit für das Freispiel lassen.
  • Die zu vermittelnden Bildungserfahrungen sollten alle Bereiche wie z.B. naturwissenschaftliche, musische, wirtschaftliche, ästhetische, mathematische und kulturelle Bildung umfassen. Die derzeit in vielen Bundesländern entstehenden Bildungspläne können uns helfen, dass wir beim Erstellen unserer Jahres- und Wochenpläne alle Bildungsbereiche berücksichtigen.
  • Die Erziehung sollte noch mehr die Bedürfnisse und vor allem den Erziehungsbedarf jedes einzelnen Kindes beachten. Dies bedeutet, dass wir es systematisch beobachten und unsere Beobachtungen dokumentieren müssen.
  • Anhand unserer Beobachtungen sollten wir für jedes Kind individuelle Erziehungsziele haben und uns Gedanken machen, wie wir diese erreichen können. Dies gilt erst recht für so genannte "Problemkinder".

Diese Intensivierung von Bildung und Erziehung ließe sich m.E. am besten erreichen, wenn die Gruppengröße auf ca. 15 Kinder und der Personalschlüssel auf anderthalb Stellen herabgesetzt werden würde. Dies bedeutet eine Erzieherin-Kind-Relation von 1 zu 10 - eine deutliche Verbesserung zur Personalsituation in den meisten deutschen Kindergärten. Bei 15 Kindern reicht die Anwesenheit einer Fachkraft in der Gruppe. Das bedeutet, dass folgender Tagesablauf denkbar wäre: Am Vormittag ist die Erzieherin alleine in der Gruppe; Stuhlkreis/Kinderkonferenz, Freispiel und Bildungsangebote finden statt. Längerfristige Projekte sind weitgehend auf den Vormittag beschränkt. Auch können die Gruppen geöffnet werden, sodass die Kinder zwischen mehreren Bildungsangeboten wählen können.

Am Nachmittag übernimmt die Zweitkraft die Gruppe; neben Freispiel werden auch Beschäftigungen bzw. einfachere Bildungsangebote gemacht. Die Erzieherin ist in der Kindertageseinrichtung anwesend, um sich z.B. auf den nächsten Tag vorzubereiten, Wochenpläne zu erstellen, Elterngespräche zu führen, einzelne Kinder systematisch zu beobachten und Einzelmaßnahmen für verhaltensauffällige, entwicklungsverzögerte oder behinderte Kinder mit Mitarbeiter/innen psychosozialer Dienste abzustimmen. Solche Einzelmaßnahmen sollten vorzugsweise am Nachmittag durchgeführt werden. Die Erzieherin sollte auch ein weiteres Bildungsangebot machen oder zusammen mit der Zweitkraft Exkursionen in die Nachbarschaft leiten.

Unter solchen Rahmenbedingungen sind m.E. eine planmäßige, allseitige und individualisierte Bildung und Erziehung von Kleinkindern realisierbar. Da anstatt von zwei nur noch anderthalb Stellen pro Gruppe benötigt werden, wäre das Absenken der Gruppenstärke mit relativ wenig zusätzlichen Kosten verbunden.

(2) Primarbereich: Von besonderer Bedeutung ist hier die Sicherstellung einer qualitativ guten, bedarfsgerechten Betreuung der Schulkinder vor und nach dem Unterricht. Diese Aufgabe sollte von qualifizierten Fachkräften wie z.B. Erzieher/innen übernommen werden. Sie sollte weniger die reine Beaufsichtigung und Hausaufgabenbetreuung umfassen, sondern die Gestaltung entwicklungsfördernder Angebote. Eine Entflechtung der Unterrichtszeit ist anzustreben.

(3) Sekundarbereich: Die große Herausforderung an Haupt- und Realschulen sowie an Gymnasien besteht darin, dass die Lehrer/innen auch Verantwortung für die Persönlichkeitsbildung, das Erleben und Verhalten von ihren Schüler/innen übernehmen. Das bedeutet, dass sie vor allem erzieherische Kompetenzen erwerben und einsetzen müssen.

Da Bund, Länder und Gemeinden unter den gegebenen fiskalischen Rahmenbedingungen wohl kaum die Bildungsausgaben steigern werden, müsste der Sekundarbereich auch die Kosten für die Verbesserung der Rahmenbedingungen im Elementarbereich, die Ausweitung und Qualifizierung der Betreuung von Schulkindern sowie die - noch zu skizzierende - Verbesserung der Ausbildung von Erzieher/innen erbringen. Ländervergleiche haben gezeigt, dass in Deutschland unverhältnismäßig viel Geld für den Sekundarbereich und insbesondere für die Gehälter von Lehrer/innen an Gymnasien ausgegeben wird. Hier könnten z.B. Mittel eingespart werden, wenn die Einstiegsbesoldung um eine Gehaltsstufe abgesenkt würde und die Aufstiegsmöglichkeiten - mit Ausnahme des Schulleiterpostens - auf A14 beschränkt würden. Auch könnten sicherlich in der Schulverwaltung Stellen eingespart werden, indem den Schulen mehr Verantwortung übertragen wird. Anstelle der Beurteilung durch hoch bezahlte Schulräte könnten Lehrer/innen mehr von Supervision profitieren, insbesondere hinsichtlich ihrer erzieherischen Tätigkeit, und hier vor allem bezüglich des Umgangs mit verhaltensauffälligen Kindern.

(4) Tertiärbereich: Die Ausbildung von Erzieher/innen an Fachschulen ist unbedingt zu verbessern. Vor allem müssen ihnen mehr für ihre pädagogische Arbeit relevante Kenntnisse aus den verschiedenen Bildungsbereichen sowie (fach-) didaktisches und methodisches Knowhow vermittelt werden. Auch sollten Beobachtungs- und Planungsfähigkeiten, heilpädagogische Methoden sowie Kompetenzen im Bereich Gesprächsführung und Beratung von Eltern stärker geschult werden.

Lehrer/innen benötigen hingegen eine Pädagogisierung und Psychologisierung ihrer Ausbildung, um erzieherische Kompetenzen erwerben zu können. Sie könnten sich auch praxisgeeignete didaktische und methodische Fähigkeiten aneignen, wenn z.B. der akademische Mittelbau durch erfahrene Lehrer/innen ersetzt würde, die für maximal fünf Jahre an die Universitäten abgeordnet werden.

Bereits berufstätige Erzieher/innen und Lehrer/innen benötigen eine auf ihre neuen Arbeitsschwerpunkte ausgerichtete intensive Fortbildung. Vermehrt sollte von Möglichkeiten wie Peerberatung und Supervision sowie von Verfahren zur Qualitätssicherung Gebrauch gemacht werden.

In Deutschland gibt es somit einen großen Reformbedarf - nicht nur im Bildungswesen. Zugleich zeigt sich eine große Reformunfähigkeit - in der Sozial-, Wirtschafts- und Finanzpolitik sowie im Bildungsbereich. Mein gerade vorgetragenes Konzept dürfte kaum zusätzliche Kosten verursachen. Dennoch sehe ich wenig Bereitschaft seitens der Politik, z.B. Mittel aus dem Sekundarbereich abzuziehen und den Elementarbereich intensiver zu fördern - zu stark ist die Lobby der Lehrer/innen, insbesondere solcher an Gymnasien. Selbst die 1,5 Mrd. Euro pro Jahr, die seitens der Bundesregierung zusätzlich für Kindertagesbetreuung bereit gestellt werden sollen, dienen nicht der Verbesserung von Bildung und Erziehung, sondern nur der Ausweitung von Betreuungszeiten und der Schaffung von Betreuungsangeboten für Kinder unter 3 Jahren. Ich bin also eher pessimistisch eingestellt, was die Umsetzung der von den weitaus meisten Fachleuten genannten Reformziele betrifft. Aber vielleicht werden sich die Krisen in unserem Land noch so verschärfen, dass ein großer "Befreiungsschlag" gelingt...

Die Aufgaben von Erzieher/innen

In den letzten Jahren sind vermehrt Anstrengungen unternommen worden, die Aufgaben von Erzieher/innen zu definieren. Zum einen geschah dies im Kontext der Qualitätsdiskussion - man kann nur Standards entwickeln, wenn zuvor z.B. festgelegt wurde, für welche Tätigkeiten sie gelten sollen. Zum anderen passiert dies gerade im Zusammenhang mit der Entwicklung von Bildungsplänen, wobei hier die Aufgabenbereiche von Erzieher/innen umfassender und zugleich detaillierter betrachtet werden. Da Sie die entsprechenden Aussagen des Berliner Bildungsplans kennen, möchte ich bei meinen nun folgenden Ausführungen auf dem "Bayerischen Bildungs- und Erziehungsplan für Kinder in Tageseinrichtungen bis zur Einschulung" in der Version vom Oktober 2003 fokussieren (Bayerisches Staatsministerium für Arbeit und Sozialordnung, Familie und Frauen/ Staatsinstitut für Frühpädagogik 2003). Hier werden den Erzieher/innen folgende Aufgaben zugeschrieben:

  • Förderung individuumsbezogener Kompetenzen und Ressourcen bei Kindern, also von personalen, motivationalen, kognitiven und physischen Fähigkeiten,
  • Förderung von Kompetenzen zum Handeln im sozialen Kontext, also von zwischenmenschlichen Fertigkeiten, von Werten und Orientierungskompetenz, von der Fähigkeit zur Verantwortungsübernahme und der Bereitschaft zur demokratischen Teilhabe,
  • Förderung der lernmethodischen Kompetenz, d.h. Kinder sollen lernen, wie man lernt,
  • Förderung von Resilienz (Widerstandsfähigkeit),
  • Begleitung des Übergangs von der Familie in die Kindertageseinrichtung und des Übergangs in die Schule,
  • interkulturelle Erziehung,
  • geschlechtsbewusste Erziehung,
  • Förderung von Kindern mit Entwicklungsrisiken und (drohender) Behinderung,
  • Förderung von Kindern mit Hochbegabung,
  • ethische und religiöse Bildung,
  • sprachliche Bildung,
  • mathematische Bildung,
  • naturwissenschaftliche und technische Bildung,
  • Umweltbildung und -erziehung,
  • Medienerziehung und elementare informationstechnische Bildung,
  • ästhetische, bildnerische und kulturelle Bildung,
  • musikalische Bildung,
  • Bewegungserziehung,
  • gesundheitliche Erziehung,
  • Beobachtung und Dokumentation der Lern- und Entwicklungsprozesse des Kindes,
  • Bildungs- und Erziehungspartnerschaft mit den Eltern,
  • Kooperation und Vernetzung mit anderen Stellen, Gemeinwesenorientierung,
  • Abwendung von Gefährdungen des Kindeswohls.

Diese Auflistung lässt sich noch ergänzen um Aufgaben, die noch nicht in den Bildungs- und Erziehungsplan in der jetzigen Fassung aufgenommen wurden:

  • Entwicklung der Einrichtungskonzeption,
  • Individualisierung des pädagogischen Angebots im Sinne einer inneren Differenzierung,
  • Gestaltung der Innen- und Außenräume,
  • Gestaltung des Tagesablaufs,
  • Kooperation mit Träger, Leitung und Kolleg/innen.

Hieraus ergibt sich ein komplexes, vielseitiges und vielschichtiges Aufgabenprofil für das Berufsbild "Erzieher/in".

Selbst wenn die detaillierte Darstellung der vorgenannten Aufgaben im Bayerischen Bildungs- und Erziehungsplan 250 DinA4-Seiten umfasst und auf den ersten Blick vielleicht den Eindruck vermittelt, daraus könne nur eine totale Überforderung von Erzieher/innen resultieren, muss Folgendes festgehalten werden: Im Grunde werden die weitaus meisten Aufgaben von Erzieher/innen mehr oder minder gut - wie in jedem Berufsfeld - seit Jahrzehnten erfüllt. Neu sind eigentlich nur einige Akzentsetzungen wie beispielsweise:

  • die stärkere Fokussierung auf kognitives Lernen, insbesondere in den Bereichen mathematische und naturwissenschaftliche Bildung,
  • die Intensivierung der sprachlichen Förderung, insbesondere bei ausländischen Kindern,
  • die Betonung der Notwendigkeit, die kindliche Entwicklung genau zu beobachten - auch unter Einsatz von Beobachtungsbögen - und zu dokumentieren,
  • die intensivere Kooperation mit den Eltern, die z.B. mindestens zwei lange Termingespräche pro Jahr umfassen soll,
  • die stärkeren Mitbestimmungsrechte und vermehrten Mitwirkungsmöglichkeiten für Eltern.

Relativ neu ist ferner, dass Bildung mehr als sozialer Prozess gesehen wird - als etwas, was sich beim Kind als Ergebnis ko-konstruktiver Prozesse mit der Erzieherin und anderen Kindern ergibt. Daraus folgt die Notwendigkeit einer Intensivierung bildungsrelevanter Interaktionen zwischen Erzieher/innen und Kindern sowie einer gezielten Initiierung und Förderung von Lerngemeinschaften. Generell werden Kinder als vollwertige Persönlichkeiten mit eigenen Rechten gesehen, die an ihrer Erziehung und Bildung sowie an der Gestaltung des Zusammenlebens in der Kindertageseinrichtung angemessen zu beteiligen sind. Diese Forderung nach mehr Mitbestimmung seitens der Kinder wurde wie einige andere relativ neue Zielsetzungen - z.B. das Erlernen des Umgangs mit dem Computer, die Förderung von Resilienz oder die Identifikation hochbegabter Kinder - in den letzten Jahren bereits mehrfach geäußert.

Zu wenig Berücksichtigung im Bayerischen Bildungs- und Erziehungsplan fand bisher die Erzieherin-Kind-Beziehung. So wissen wir z.B. aus der Bindungsforschung, wie wichtig eine sichere Bindung zwischen Kind und Bezugsperson für die Persönlichkeitsentwicklung, das Verhalten und das Lernen ist. Auch in der Erziehungswissenschaft wird seit Jahrhunderten betont, dass der "pädagogische Bezug" (Nohl) die Grundlage jeder Bildung und Erziehung sei. Erzieher/innen benötigen somit große zwischenmenschliche Fähigkeiten - darüber hinaus aber auch professionelle Kompetenzen für die "Beziehungsarbeit". So ist es in der Regel nicht leicht, beispielsweise zu verhaltensauffälligen oder schon in ihrer Familie unsicher gebundenen Kindern eine positive Beziehung aufzubauen.

Die Ausbildung von Erzieher/innen

Obwohl die Anforderungen an Erzieher/innen eher mäßig ansteigen, wurde in den letzten Jahren immer wieder ihre Ausbildung problematisiert. Zunächst kam - vor allem von den Fachkräften selbst - die Kritik, dass die Ausbildung nicht genügend praxisorientiert sei und dass z.B. Kenntnisse und Fertigkeiten hinsichtlich des Umgangs mit verhaltensauffälligen und behinderten Kindern, der (Sprach-) Förderung ausländischer Kinder oder der Gesprächsführung mit Eltern bzw. deren Beratung nicht in ausreichendem Maße vermittelt würden. Diese Kritik wurde in jüngster Zeit ausgeweitet auf die mangelhafte oder sogar ganz fehlende Ausbildung im mathematisch-naturwissenschaftlichen Bereich und im Umgang mit Computern.

Ferner wird oft an der Ausbildung an Fachschulen kritisiert, dass die Unterrichtsinhalte an den Interessen der Studierenden ausgerichtet und zu "verkopft" seien. Die Studierenden würden nicht lernen, Bildungsinhalte auf die Ebene von Drei-/ Vierjährigen "herunterzubrechen" und interessant anzubieten. Auch würde den Studierenden nicht die Fähigkeit vermittelt, z.B. Märchen und Geschichten zu erzählen (anstatt vorzulesen), aus einem großen Repertoire von Liedern schöpfend mit Kindern zu singen, Theater zu spielen oder Naturphänomene wahrzunehmen und mit den Kindern zu untersuchen. Letztlich bedeutet dies, dass die Studierenden zu wenig über die Didaktik und Methodik von Bildungsangeboten für Kleinkinder lernen würden.

Neben dieser aus der Praxis kommenden Kritik zeigte eine vergleichende Studie mit dem Titel "Kinderbetreuung in Europa" (Oberhuemer/ Ulich 1997) vor einigen Jahren auf, dass in allen entwickelten Ländern mit Ausnahme von Österreich die Ausbildung von Erzieher/innen auf einem höheren Niveau stattfindet als in der Bundesrepublik Deutschland.

Schließlich wurde vor allem im Kontext der Diskussion über die PISA-Studie betont, dass Erzieher/innen bei weitem schlechter als Grundschullehrer/innen qualifiziert und zu wenig den Herausforderungen gewachsen seien, die sich aus den Ergebnissen dieser Untersuchung ergäben. Sie besäßen zu wenig kinderpsychologische Kenntnisse, würden zu wenig "bildend" tätig sein, würden ausländische, hochbegabte und in Teilbereichen begabte Kinder zu wenig fördern, würden Kindern nicht das Lernen lehren - kurz und gut, sie würden viele der im Kleinkindalter liegenden Chancen von Bildung und Erziehung vertun. Eine ähnliche Kritik kam gleichzeitig aus der Richtung von Hirnforschern bzw. von deren Forschungsergebnissen - nicht immer richtig - wiedergebenden Journalist/innen.

Zur Akademisierung des Erzieher/innenberufs

So wurden Forderungen nach einer Akademisierung der Erzieher/innenausbildung immer lauter. Inzwischen entstehen schon die ersten deutschsprachigen Studiengänge. Zwei davon - der eine auf Universitäts-, der andere auf Fachhochschulebene - möchte ich kurz vorstellen.

(1) Laureatsstudiengang "Bildungswissenschaften für den Primarbereich" an der Freien Universität Bozen in Brixen: In diesem vier Jahre umfassenden Studiengang werden die beiden Studienrichtungen "Ausbildung von Grundschullehrer/innen" und "Ausbildung von Kindergärtner/innen" angeboten, wobei die Studierenden in den beiden ersten Jahren dieselben Veranstaltungen besuchen und sich erst in den letzten vier Semestern in der jeweiligen Studienrichtung spezialisieren. "Die Studienordnung sieht eine praxisnahe Ausbildung vor. Für die Studienrichtung Ausbildung der KindergärtnerInnen ist eine Gesamtzahl von 2080 Stunden vorgesehen; davon werden 1245 Stunden in Form von Vorlesungen und Seminaren, 435 Stunden in Form von Laboratorien und 400 Stunden in Form von Praktika abgehalten. ... Der praxisnahe Unterricht macht in der Studienrichtung Ausbildung der KindergärtnerInnen 835 Stunden ... aus" (Freie Universität Bozen 2003, S. 2). Den Laureat erwirbt, wer während des Studiums 28 Prüfungen besteht und insgesamt 240 Credit Points erwirbt, eine Diplomarbeit verfasst und die Abschlussprüfung bestanden hat. Beispielsweise müssen im 1. Studienjahr Prüfungen in Didaktik, Psychologie, Integrationspädagogik, einer zweiten Sprache, Naturwissenschaften, Mathematik/Informatik und einem Wahlfach absolviert werden. Im 3. Studienjahr stehen in der Studienrichtung "Kindergarten" Prüfungen in Anthropologie, Unterrichtsplanung/ -auswertung, Muttersprache, Zeichnen, Didaktik der Mathematik/ Informatik, Leibeserziehung, Didaktik der Geschichte/ Geographie und in einem Wahlfach an; im 4. Studienjahr in der Beobachtung kindlichen Verhaltens, Spiel/ Animationspädagogik, Didaktik der Naturwissenschaften, Musik und im Wahlfach.

(2) Der "Bachelor of Arts"-Studiengang "Erziehung und Bildung im Kindesalter" soll ab dem Jahr 2004 an der Alice-Salomon-Fachhochschule für Sozialarbeit und Sozialpädagogik in Berlin eingerichtet werden (v. Balluseck 2003). Der 7 Semester umfassende Studiengang bildet für die Arbeit mit Kindern von der Geburt bis zum 12./13. Lebensjahr aus. In insgesamt 142 Semesterwochenstunden sollen die Studienbereiche "wissenschaftliche Grundlagen" (33 SWS), "Pädagogik im sozialen Kontext" (57 SWS), "Bildung und Didaktik" (36 SWS) und "Rechtliche, organisatorische und finanzielle Rahmenbedingungen" (16 SWS) abgedeckt werden. Im 1. Semester haben die Kurse Bezeichnungen wie "Sozialisationsprozesse bei Jungen und Mädchen", "Wissenschaftliches Arbeiten", "Orte für Kinder", "Bildungsbereich Sprache", "Körperliche Entwicklung" und "Spielpädagogik", im 6. Semester wie "Forschungsmethoden", "Arbeitsfelder der Pädagogik", "Bildungsbereich Kreativität", "Bildungsbereich Körper und Bewegung" und "Konfliktmediation". Hinzu kommen fünf Praxisphasen: eine Hospitation von einer Woche im Grundstudium und vier Praktika von je 6 Wochen Dauer im Hauptstudium (ab dem 4. Semester). Während des Studiums müssen verschiedene Arten von Prüfungsleistungen - Klausuren, Referate, Präsentationen, Hausarbeiten, Berichte - erbracht und dadurch insgesamt 210 Credit Points gesammelt werden. Das Studium wird mit einer Bachelorarbeit und einem Colloquium über dieselbe abgeschlossen.

Während der Laureatsstudiengang in Brixen stark an Lehramtsstudiengängen orientiert ist und seinen Schwerpunkt im Bereich "Didaktik und Methodik" hat, ist der geplante Bachelor-Studiengang in Berlin umfassender konzipiert: So soll nicht nur für den Kindergartenbereich ausgebildet werden, sondern für den gesamten Bereich der außerschulischen Kinderbetreuung. Dementsprechend sind die Studieninhalte allgemeiner, wobei der Schwerpunkt auf dem Erwerb von Fachkompetenzen - d.h. von Orientierungs-, Erklärungs- und Handlungswissen - sowie von fachunabhängigen Kompetenzen liegt; zu Letzteren gehören z.B. soziale, ethische bzw. interkulturelle Kompetenz, Selbst-, Gender-, Methoden- und Medienkompetenz. Auch wird ein größerer Wert als in Brixen auf transdisziplinäre Verknüpfungen gelegt, d.h., psychologische, pädagogische und soziologische Kenntnisse werden in übergreifende Fächer bzw. Projekte eingebunden.

Hinsichtlich solcher Reformvorschläge bin ich aber eher pessimistisch eingestellt. Fachhochschulen sind nicht für eine besonders praxisnahe Ausbildung von Sozialpädagog/innen "berühmt", und die Lehrerausbildung an Universitäten wird seit vielen Jahren stark kritisiert. So dürfte eine Verlagerung der Erzieherausbildung an Fachhochschulen oder Universitäten wohl kaum zu einer besseren Berufsausbildung führen. Hinzu kommt, dass derzeit weder an Fachhochschulen noch an Universitäten mehr als 10 bis 15 im Bereich der Frühpädagogik qualifizierte Professor/innen und Assistent/innen zur Verfügung stehen. Schon die Schaffung des einzigen deutschsprachigen Studienganges für Erzieher/innen an der Universität Bozen war mit extremen Problemen bei der Personalsuche verbunden: Ein Großteil der Lehrkräfte reist derzeit für einige Unterrichtsstunden pro Woche aus Österreich und Deutschland an...

Vor allem aber beruht mein Pessimismus auf folgenden Gründen: Akademisch ausgebildete Erzieher/innen haben Anspruch auf ein viel höheres Gehalt. Und ich sehe nicht die geringste Bereitschaft bei Kommunen, Ländern und Wohlfahrtsverbänden, hierfür die finanziellen Mittel aufzubringen. Und was soll mit den derzeit berufstätigen Erzieher/innen passieren? Sollen sie in mehrjährigen Fortbildungsgängen nachqualifiziert werden? Auf den Stand von Fachhochschul- oder Universitätsabsolvent/innen gebracht werden? Und was soll mit den Fachschulen passieren? Sollen sie aufgelöst und die dort tätigen Lehrkräfte in die Arbeitslosigkeit entlassen werden?

So fürchte ich, dass es auf absehbare Zeit nicht zu einer "Akademisierung" des Erzieherberufs kommen wird. Realisierbar scheint nur die Verbesserung der derzeitigen Ausbildung auf Fachschulniveau und der Fortbildung zu sein. Hier kommt es darauf an, Erzieher/innen für die in diesem Referat aufgezählten Anforderungen zu qualifizieren.

Ausbildungsstandards der NAEYC

Zum Schluss möchte ich noch kurz auf relevante amerikanische Vorstellungen eingehen: Die National Association for the Education of Young Children, die größte Organisation von Fachkräften im vorschulischen Bereich, hat im Jahr 2001 die "NAEYC Standards for Early Childhood Professional Preparation: Initial Licensure Programs" verabschiedet (National Association for the Education of Young Children/ National Council for Accreditation of Teacher Education 2001). In diesen Richtlinien wird festgelegt, was ein/e Professionelle/r am Ende ihrer/ seiner (Grund-) Ausbildung wissen und können soll. Eine Kurzfassung mit etwas abweichender Formulierung wurde 2002 im März-Heft von Young Children veröffentlicht. Es folgt eine Übersetzung der fünf Standards:

"1. Die kindliche Entwicklung und das Lernen fördern: Gut ausgebildete Professionelle im vorschulischen Bereich

verstehen, wie Kleinkinder sind;

verstehen, was deren Entwicklung beeinflusst; und

nutzen dieses Verständnis, um großartige Umwelten zu schaffen, in denen sich alle Kinder weiterentwickeln können.

2. Beziehungen zu Familien und Gemeinde aufbauen: Gut ausgebildete Professionelle im vorschulischen Bereich

verstehen und zeigen Wertschätzung für die Familien und Subkulturen der Kinder;

schaffen respektvolle wechselseitige Beziehungen; und

beteiligen alle Familien an der Entwicklung und dem Lernen ihrer Kinder.

3. Beobachten, dokumentieren und beurteilen: Gut ausgebildete Professionelle im vorschulischen Bereich

verstehen den Zweck von Beurteilungen;

setzen effektive Beurteilungsstrategien ein; und

benutzen Beurteilungen verantwortungsbewusst, um die Entwicklung und das Lernen der Kinder positiv zu beeinflussen.

4. Lehren und Lernen: Gut ausgebildete Professionelle im vorschulischen Bereich

bilden enge Beziehungen zu Kindern und Familien aus;

setzen entwicklungsgemäße Lehr- und Lernstrategien ein;

haben ein tief gehendes Wissen in den akademischen Fächern oder Inhaltsbereichen; und

verknüpfen all dies, um Kindern Erfahrungen zu vermitteln, die Entwicklung und Lernen fördern.

5. Ein/e Professionelle/r werden: Gut ausgebildete Professionelle im vorschulischen Bereich

identifizieren sich mit dem Beruf als vorschulische Fachkraft;

werden von ethischen und anderen professionellen Standards geleitet;

sind kontinuierlich, kooperativ Lernende;

denken gründlich und kritisch nach; und

setzen sich für Kinder, Familien und ihre Berufsgruppe ein" (Young Children, March 2002, S. 78).

Deutlich wird, dass in den USA die Schwerpunkte bei der Ausbildung von Fachkräften für den vorschulischen Bereich etwas anders gesetzt werden als in der Bundesrepublik Deutschland. So wird in Standard 1 die Notwendigkeit umfassender entwicklungs- bzw. kinderpsychologischer Kenntnisse betont - die die Fachkräfte vor Ort praktisch umsetzen sollen, zum Wohl eines jeden Kindes. Der Schwerpunkt liegt hier auf dem einzelnen Kind und der Förderung seiner Entwicklung und seines Lernens. Danach folgt in Standard 2 gleich der Fokus auf der Familie und kulturellen Zugehörigkeit des Kindes: Die Fachkraft soll nach Abschluss ihrer Ausbildung fähig sein, zu jeder Familie eine enge Beziehung auszubilden und sie in die Erziehung und Bildung ihres Kindes zu involvieren, also mit ihr eine Erziehungs- und Bildungspartnerschaft einzugehen. Dies bedeutet nicht nur eine intensive Elternarbeit mit starken elternbildenden Komponenten, sondern auch die Einbindung der Eltern in das Lernen ihres Kindes in der Kindertageseinrichtung.

Insbesondere Standard 3 wirkt auf deutsche Fachleute ungewohnt: Nach Abschluss ihrer Ausbildung sollen Fachkräfte fähig ein, die Entwicklung von Kindern genau zu beobachten, anhand wissenschaftlich fundierter Kriterien zu beurteilen und zu dokumentieren. Nur auf dieser Grundlage können sie das individuelle Kind bestmöglich in seiner Entwicklung und in seinem Lernen fördern. Hier geht es also um die Ausbildung diagnostischer Fähigkeiten und das Erlernen entsprechender Techniken (bis hin zum Einsatz von Tests) - schon während des Studiums.

Bei Standard 4 wird erneut die Bedeutung einer guten Beziehung zwischen der Fachkraft auf der einen und dem Kind und seiner Familie auf der anderen Seite betont. Die Studierenden sollen lernen, im Kontext einer engen Bindung zum Kind entwicklungsgemäße Lernerfahrungen kindgerecht zu vermitteln. Hier wird die Bedeutung sowohl der Didaktik - Fachkräfte benötigen umfassende Kenntnisse in den "akademischen Fächern" - als auch der Methodik betont: Die Fachkräfte müssen Lerninhalte elementarisieren und so lehren können, dass es bei Kleinkindern zum gewünschten Lernerfolg kommt. Schließlich sollten die Studierenden lernen, in der Praxis die Elemente "pädagogischer Bezug zum einzelnen Kind", "enge Beziehung zu seiner Familie", "entwicklungsgemäßer Ansatz" und "akademisches Wissen" so miteinander zu kombinieren, dass jedes Kind beste Entwicklungsbedingungen vorfindet.

Auch Standard 5 wird in Deutschland kaum berücksichtigt. In den USA haben Verbände wie die NAEYC hingegen ethische und professionelle Standards entwickelt und dokumentiert. Sie fordern ihre Mitglieder auf, sich an diesen zu orientieren - und so ist es nicht überraschend, dass Fachkräfte sie schon während ihrer Ausbildung kennen lernen und internalisieren sollten. Ferner wird die Professionalisierung der Fachkräfte betont, die die Identifikation mit dem Beruf und eine ständige Lernbereitschaft beinhaltet - die Fachkräfte sollen den Kindern ein Vorbild im lebenslangen Lernen sein. Es wird eine kritische Grundhaltung gefordert, die auch zu einem (familien-, kommunal-, berufs-) politischen Engagement führen soll - analog zum Einmischungsauftrag, wie er in Deutschland für die Kinder- und Jugendhilfe formuliert wurde, aber im Kinderbetreuungsbereich weitgehend unberücksichtigt bleibt.

Vielleicht lassen sich diese Standards der NAEYC auch in Deutschland bei der Ausbildung von Erzieherinnen an Fachschulen bzw. Fachakademien berücksichtigen...

Literatur

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Autor

Dr. Martin R. Textor studierte Pädagogik, Beratung und Sozialarbeit an den Universitäten Würzburg, Albany, N.Y., und Kapstadt. Er arbeitete 20 Jahre lang als wissenschaftlicher Angestellter am Staatsinstitut für Frühpädagogik in München. Von 2006 bis 2018 leitete er zusammen mit seiner Frau das Institut für Pädagogik und Zukunftsforschung (IPZF) in Würzburg. Er ist Autor bzw. Herausgeber von 45 Büchern und hat 770 Fachartikel in Zeitschriften und im Internet veröffentlicht.
Homepage: https://www.ipzf.de
Autobiographie unter http://www.martin-textor.de