Mehrsprachigkeit und Bildung in Kitas und Schulen. Eine Einführung

Elke G. Montanari / Julie A. Panagiotopoulou: Mehrsprachigkeit und Bildung in Kitas und Schulen. Eine Einführung. Tübingen: Narr Verlag Attempto 2019, 149 Seiten, EUR 24,99 – direkt bestellen durch Anklicken

„Mehrsprachigkeit und Bildung in Kitas und Schulen“ vermittelt pädagogischen Fachkräften in ihrer Aus- und Weiterbildung praxistaugliches Wissen zum Thema Mehrsprachigkeit. Die Autorinnen Elke G. Montanari, Professorin für Deutsch als Zweitsprache an der Universität Hildesheim und Prof. Dr. Julie A. Panagiotopoulou, Professorin für Bildung und Entwicklung in Früher Kindheit an der Universität zu Köln, berücksichtigen aktuelle Forschungsergebnisse aus Linguistik, Pädagogik und Sprachdidaktik.

Der erste Teil des Buches, „Wer ist eigentlich mehrsprachig?“, gemeinsam verfasst von Montanari und Panagiotopoulou, zeigt, dass es verschiedene Konzepte von Mehrsprachigkeit gibt: gesellschaftliche, institutionelle und individuelle Mehrsprachigkeit. Mehrsprachigkeit in deutschsprachigen Bildungsinstitutionen, so schildern die Autorinnen kritisch, wird unterschiedlich beurteilt, je nachdem, um welche Sprachen es sich handelt: „Einige Sprachen werden als wichtig angesehen, andere nicht“ (Montanari/Panagiotopoulou 2019, S. 19). In Bildungseinrichtungen stellt sich die Aufgabe, zu reflektieren, ob die mehrsprachigen Lebenswelten von Kindern genügend Berücksichtigung finden.

Mehrsprachige Sprecher/innen wechseln oft und reflektiert zwischen ihren Sprachen. Die Autorinnen sehen dieses sprachenübergreifende Handeln („Translanguaging“) unter Berücksichtigung aktueller Forschung nicht etwa als Problem, sondern als Normalität (S. 20ff.). Mehrsprachige und sprachenübergreifende Praktiken werden als Ressourcen angesehen und als „Multikompetenz“ (S. 21) bezeichnet.

Im Kapitel „Mehrsprachigkeit und Bildung in der Kita“ vertieft und ergänzt Panagiotopoulou diese Konzepte für den frühpädagogischen Bereich. Der Abschnitt „Translanguaging: Mehr- und Quersprachigkeit im Erwerb und Gebrauch“ zeigt auf, wie flexibel mehrsprachige Kita-Kinder in Kommunikationssituationen handeln: „Kinder mischen … ihre Sprachen in der Regel nur dann, wenn sie mit Personen interagieren, die über ein vergleichbares Sprachenrepertoire verfügen“ (S. 29). Einsprachige institutionelle Sprachenpolitiken stehen damit im Widerspruch zum „dynamischen mehr- und quersprachigen Erwerb im Kindesalter“ (S. 32). Eine Didaktik der Mehrsprachigkeit in der Kita sollte daher nicht nur die deutsche Standardsprache fördern, weil dies die Lebenswirklichkeit vieler Kinder ausschließt. An dieser Stelle werden Studien aus den USA, Israel, der Schweiz und Luxemburg angeführt; auf Deutschland bezogene Forschung fehlt noch, wie Panagiotopoulou (vgl. S. 40) kritisch anmerkt. Trotzdem können aus diesen internationalen Arbeiten erste Schlussfolgerungen gezogen werden: Der Gebrauch aller vorhandenen sprachlichen Ressourcen überfordert Kinder nicht und sollte akzeptiert werden, um ihre Identitätsbildung zu fördern. „Best-Practice“-Beispiele hierzu aus deutschen Kitas fehlen leider noch; es wäre wünschenswert, wenn erste Institutionen diese Empfehlungen systematisch berücksichtigen und ihre pädagogische Arbeit wissenschaftlich begleitet wird.

Der Abschnitt „Mehrsprachigkeit und Literacy: gelebte Mehrschriftlichkeit“, ebenfalls von Panagiotopoulou verfasst, zeigt auf, dass vermutlich „alle mehrsprachigen Kinder in Interaktion mit ihren Bezugspersonen auch auf der Ebene der Schriftlichkeit vielfältige Erfahrungen sammeln“ (S. 47), etwa, wenn sie beobachten, dass Familienmitglieder durch soziale Medien schriftlich kommunizieren, Einkaufszettel schreiben etc., und das oft sprachenübergreifend; so wird etwa in einer Sprache kommentiert, was in einer anderen Sprache gelesen wird. Kritisch merkt die Autorin zu Recht an, dass zugewanderten Familien oft unterstellt wird „bildungsfern“ zu sein und wenig Erfahrung mit Lesen und Schreiben zu haben. Dieses Stereotyp ungebildeter Migrantenfamilien ist leider in Forschung und pädagogischen Praktiken noch weit verbreitet (vgl. S. 52ff.), obwohl es wissenschaftlich in dieser Pauschalität nicht belegt ist. Es kann dazu beitragen, dass die Schriftkompetenzen mehrsprachiger Kinder unterschätzt und abgewertet werden.

Auch das Konzept „Bildungssprache“ wird kritisch untersucht (S. 57); es gibt noch kaum Forschung zu Schrifterfahrungen mehrsprachiger Kita-Kinder in ihren Familien, und dennoch wird ihnen unterstellt, sie hätten einen Mangel an „bildungssprachlichen Fähigkeiten“ (ebd.). In solchen Konzeptionen wird Einsprachigkeit und Sprachentrennung als Norm gesehen, an der gemessen mehrsprachige und sprachenübergreifende handelnde Kinder Defizite hätten. Panagiotopoulou plädiert mit Verweis auf internationale Forschung dafür, mehrsprachige und sprachenübergreifende Literalität in der Kita-Praxis einzuführen. Auch hier fehlen jedoch deutsche Best-Practice-Beispiele, da es eine wissenschaftlich begleitete, systematische Umsetzung dieser Konzepte bislang noch nicht gibt. Dies wäre Aufgabe weiterführender Studien und sicher eine verdienstvolle Arbeit für engagierte Elementarpädagog/innen und Forscher/innen.

Der Abschnitt „Angehende Mehrsprachigkeit: Beobachtung und Dokumentation“, ebenfalls von Panagiotopoulou verfasst, kritisiert sprachdiagnostische Testverfahren für Vorschulkinder, da diese meist einsprachig deutsch verfasst sind und einsprachig Deutsch sprechende Kinder zur Norm erklärt - ein Kritikpunkt, den die Forschung schon seit mehr als einem Jahrzehnt zu Recht immer wieder vorbringt (vgl. ebd., S. 66f.). Als Alternative bieten sich alltagsintegrierte Beobachtungsverfahren an, die auf einen Vergleich zwischen ein- und mehrsprachigen Kindern verzichten (ebd., S. 71) und Ansatzpunkte für ein Bereitstellen gezielter sprachlicher Angebote geben. Der Abschnitt gibt auch wertvolle Hinweise für Elterngespräche: Familien sollen nie unterstellt werden, dass sie ungünstige Bedingungen für das sprachliche Aufwachsen ihrer Kinder bieten; zugleich sind die meisten Familien damit überfordert, „die Sprachentwicklung ihres mehrsprachig (oder auch einsprachig) aufwachsenden Kindes zu diagnostizieren“ (S. 70).

Vielmehr wird empfohlen, ein individuelles Sprachenprofil für alle Kinder im Gespräch mit Familien und aufgrund von Beobachtungen gerade in Interaktionen mit Gleichaltrigen zu erstellen. Eine Möglichkeit für eine solche Dokumentation zeigt Giovanni C. Catanese als Mitarbeiter des Autorinnenteams auf. In seinem Abschnitt „Sprachenbiographische Arbeit im KiTa-Alltag mit dem Europäischen Sprachenportfolio“ erklärt er, wie dieses wissenschaftlich entwickelte Instrument die Sprachenreflexion von Kita-Kindern anregen kann.

Hier eine Anmerkung der Rezensentin: Die Arbeit mit solchen Formen der Dokumentation dürfte für viele Kinder, Eltern und Fachpersonen sehr aufschlussreich sein und Kompetenzen und Entwicklungsmöglichkeiten aufzeigen. In vielen Kitas ist jedoch vorstellbar, dass solche Formate am Personalmangel und der Menge an ohnehin vorhandenen Erziehungs-, Bildungs-, Dokumentations- und Verwaltungsaufgaben pädagogischer Fachkräfte scheitern. Es müssten generell bessere Rahmenbedingungen für elementarpädagogische Arbeit geschaffen werden, um Zeit und Ressourcen für solche Dokumentationen freizuhalten.

Nach diesen Kapiteln über Mehrsprachigkeit in der Kita wird im zweiten Teil des Buches der Bogen zur Schule geschlagen. Montanari stellt dar, wie hier eine Pädagogik aussehen kann, die Mehrsprachigkeit anerkennt und fördert, eine anregende Lektüre auch für interessierte Kita-Fachkräfte.

Das Buch bietet nicht zuletzt durch die vielen Fallbeispiele aus Kitas, Schulen und Familien eine angenehme, lehrreiche Lektüre, zentrale Konzepte werden Leser/innen mit oder ohne linguistische Vorkenntnisse einsichtig erläutert. Am Ende jedes Kapitels finden sich praxisnahe Fragen und Aufgaben zur Reflexion, die z.B. in der Aus- und Weiterbildung von Kita-Fachkräften, im Studium der Frühpädagogik oder verwandter Studiengänge oder für das Selbststudium verwendet werden können.

Hier ein Beispiel: „Mein Mann und ich kommen gebürtig aus Bulgarien und leben seit 14 Jahren in Deutschland. Nun kam unser Sohn Alexander zur Welt. (…) In Bulgarien sind die Großeltern. Wir leben in Deutschland. Dazu haben wir ein Haus in Griechenland. Und Englisch muss heutzutage sein. Ich möchte aber das Kind nicht überfordern, deshalb wäre zum Anfang super, wenn es Deutsch und Bulgarisch lernt. Wie machen wir das am besten?“ (Beratungsanfrage an Elke Montanari 2016, in: Montanari/Panagiotopoulou 2019, S. 24). Die Leser/innen des Buches werden aufgefordert, diese Mutter unter Berücksichtigung wissenschaftlicher Erkenntnisse zu beraten.

Das ausführliche Literaturverzeichnis gibt, besonders für fortgeschrittene Studierende oder Dozierende, einen umfassenden Überblick über aktuelle deutschsprachige und internationale Forschung zu Mehrsprachigkeit in Bildungseinrichtungen.

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