Dieter Isler (Hrsg.): Frühe Sprachbildung in pädagogischen Einrichtungen. Am Beispiel mehrsprachiger Kinder in Deutschschweizer Spielgruppen. Mit Beiträgen von Dieter Isler, Achim Brosziewski, Claudia Hefti, Katharina Kirchhofer, Sibylle Künzli, Judith Schönberger und Betül Usul. Weinheim Basel: Beltz Juventa, 192 Seiten. Kostenloser Download als Ebook unter https://doi.org/10.57668/phtg-000480
Als Softcover: EUR 35,00
Das Buch «Frühe Sprachbildung in pädagogischen Einrichtungen» dokumentiert eine innovative Studie mit Videoanalysen des Alltags mehrsprachiger Kinder in Spielgruppen und bietet praxisrelevante Schlussfolgerungen zur alltagsintegrierten Sprachbildung. Die Studie bezieht sich auf die Deutschschweiz, die Befunde sind aber für den gesamten deutschsprachigen Raum hoch relevant. Das Buch ist kostenlos als Ebook erhältlich und für Fachpersonen in Institutionen früher Bildung, Verantwortliche in Kita-Leitung und Bildungsplanung sowie Auszubildende, Studierende und Dozierende im Bereich Frühe Kindheit und Sprache geeignet.
Spielgruppen, wie Kap. 1 ausführt, sind staatlich kaum regulierte und unterstützte Institutionen in der Deutschschweiz, in denen Kinder unter 4 Jahren wenige Stunden bzw. Halbtage pro Woche verbringen. Der Beruf der Spielgruppenleiterin ist schlecht bezahlt und gesellschaftlich wenig anerkannt, die Qualifikation ist wenig geregelt, was im Gegensatz zu den hohen gesellschaftlichen Erwartungen an Deutschförderung in Spielgruppen steht. Dieser Kontrast zwischen schlechter Bezahlung und Anerkennung und hohen gesellschaftlichen Ansprüchen ist für frühkindliche Bildung im gesamten deutschsprachigen Raum typisch.
Das Forschungsprojekt (vorgestellt in Kap. 2) untersucht anhand von Videoanalysen dreier Fokuskinder im Abstand von 8-9 Monaten in drei Spielgruppen die Fragen: Wie verbringen diese mehrsprachigen Kinder ihren Alltag dort? Wie sprechen sie? Wie gehen die Spielgruppenleiterinnen mit der Sprachenvielfalt in ihren Spielgruppen um? Wie können sie mehrsprachige Kinder unterstützen, und welche Bedingungen sind dafür erforderlich?
Antworten auf diese Fragen werden von einem interdisziplinären Team aus Soziolog:innen, Sprachwissenschaftler:innen und Deutschdidaktiker:innen formuliert.
Kommunikative Formen (definiert in Kap. 3) werden verstanden als sprachliche und nichtsprachliche Muster, die in wiederkehrenden Kommunikationssituationen realisiert werden. In diesem Buch werden Spiel, Kreisaktivitäten, Znüni (Zwischenmahlzeit am Vormittag) und Geschichtenerzählen (Kap. 4-7) vorgestellt. Kap. 4 zum Thema Spiel erläutert aus soziologischer Perspektive Spiele mit Spielsachen und mit Sprache und erklärt, was ein Spiel zum Spiel macht - dieses Kapitel ist nicht nur in Bezug auf Sprache, sondern auch als innovativer Blick auf einen zentralen Aspekt frühkindlicher Bildung relevant. Kap. 5 zu Kreisaktivitäten zeigt aufschlussreich, wie die räumliche Inszenierung von Kreisen und die Möglichkeit der Kinder zur Teilhabe von Spielgruppe zu Spielgruppe unterschiedlich sind. Kreise werden zum Disziplinieren, aber auch zur Gestaltung von Übergängen und zur Herstellung von Zugehörigkeit verwendet. Kapitel 6 zum «Znüni» zeigt ebenfalls eine Vielfalt von Ausprägungen: In einer Spielgruppe gibt es eine starre, hierarchisch nach Kindern und Erwachsenen geordnete Struktur, die an Essen in einem Kloster erinnert, in einer anderen ein Restaurant-ähnliches Setting und in der dritten ein «Picknick», bei dem Erwachsene und Kinder auf Augenhöhe sitzen.
Das «Geschichtenerzählen» (Kap. 7) erläutert ebenfalls sehr unterschiedliche Ausgestaltungen in den verschiedenen Gruppen: ein monologisches «Kino» ohne Beteiligung der Kinder und stärker dialogisch orientierten Settings, die an Lesezirkel bzw. eine Zirkusnummer erinnern. Ob und wie die Kinder die Gelegenheit erhalten, selbst mündliche Texte zu produzieren, wird durch die Planung und das Handeln der Spielgruppenleitung massgeblich mitbestimmt . Die Kapitel 4-7 sind zugleich eine Fundgrube für Fallbeispiele, mit deren Hilfe Fachpersonen reflektieren können: Wie gestalte ich diese kommunikativen Formen sprachförderlich?
In den folgenden Kapiteln werden die Sprachproduktionen aller Fokuskinder (Kap. 8) bzw. eine Detailanalyse der Sprache eines Türkisch und Deutsch sprechenden Fokuskindes (Kap. 9) aufgezeigt. Bei allen Kindern zeigt sich eine Zunahme komplexer situationsübergreifender Sprachhandlungen und die Bedeutung von Peergesprächen. In Kap. 9 wird gezeigt: Ein Kind, das erst kurze Zeit Deutsch lernt, hat dieselben kommunikativen Bedürfnisse wie einsprachig mit Deutsch aufgewachsene Kinder. Das Verbieten der Erstsprache erscheint daher kontraproduktiv. Es sollte vielmehr Gelegenheit zum Deutschsprechen gegeben werden. Die Analysen vermeiden sehr geschickt eine Defizitperspektive auf mehrsprachige Kinder und bieten detaillierte Einblicke in mehrsprachige Sprachproduktion.
Das Fazit (Kap. 10) formuliert Empfehlungen: Gespräche unter Kindern, auch in nicht deutschen Erstsprachen, sollten ermöglicht werden; Sprache sollte vielfältig, auch in Form von herausfordernden Sprachhandlungen wie Berichten, Erzählen oder Erklären verwendet werden; bei Begegnungen mit Geschichten sollten die Kinder die Möglichkeit erhalten, diese mitzuerzählen und zu erweitern. Mehrsprachigkeit sollte nicht nur im Fall von Prestigesprachen integriert werden. Zudem sollte die Rolle der Spielgruppen von der Politik geklärt und aufgewertet werden; stärkere Investitionen in die Bezahlung, Aus- und Weiterbildung von Spielgruppenleitungen sind dringend notwendig. Vorschulische Sprachförderung sollte generell alltagsintegriert gestaltet werden. Diese Empfehlungen seien - wie auch das gesamte Buch - allen Akteur:innen im Feld frühkindlicher Bildung ans Herz gelegt.