Steffi Thon: Kinder mit Fluchterfahrung in der Kindertagesbetreuung. Herausforderungen - Wege - Chancen. DVD. Kaufungen: AV1 Pädagogik-Filme 2016, 50 Min., EUR 32,00 zzgl. Versandkosten. Bestelladresse: AV1 Pädagogik-Filme, Pfalzstraße 10, 34260 Kaufungen, Fax: 05605/70219, Email: pf@av1.de
Seit der großen Flüchtlingswelle im Jahr 2015 gibt es immer mehr Kinder mit Fluchterfahrung in Kindertageseinrichtungen. In Interviews mit sozialpädagogischen Fachkräften, aber auch mit Expert/innen und Eltern, arbeitet Steffi Thon in ihrem Film die Anforderungen, Methoden und Erfahrungen heraus, die mit dieser Entwicklung verbunden sind. Immer wieder bereichert sie die Szenen mit Aufnahmen aus dem Kita-Alltag.
In den ersten Filmausschnitten wird der Frage nachgegangen, wie die Fachkräfte und die anderen Kinder auf die (bevorstehende) Aufnahme von Kindern mit Fluchterfahrung reagierten. Erzieherinnen sprechen über ihre Verunsicherung und ihre Ängste - insbesondere dahingehend, dass sie sich mit den geflüchteten Eltern und deren Kindern überhaupt nicht verständigen könnten und dass sich die pädagogische Arbeit mit aufgrund ihrer Kriegs- und Fluchterfahrungen traumatisierten Kindern schwierig gestalten würde. Aber es wurde auch mit der Erwartung "Wir schaffen das!" an die neuen Herausforderungen herangegangen.
Die Kinder verhielten sich hingegen gegenüber den Neuankömmlingen genauso wie gegenüber anderen neu aufgenommenen Kindern: Sie gingen aktiv auf sie zu und bezogen sie in ihre Aktivitäten und Spiele ein. Selbst die fehlende Sprachbeherrschung der geflüchteten Kinder verunsicherte sie nicht, da sie Ähnliches schon mit Kindern aus bereits vor längerer Zeit zugewanderten Familien erlebt hatten. Vielmehr versuchten sie, ihnen deutsche Begriffe zu lehren. Von sich aus sprachen sie weder die andere Herkunft der Kinder noch deren Fluchterfahrungen an.
Im Hauptteil des Filmes geht es zunächst um den Umgang mit sprachlichen Barrieren. Direkt nach der Ankunft in Deutschland sprachen die geflüchteten Eltern und ihre Kinder kein Deutsch - und Dolmetscher/innen standen nur selten zur Verfügung. So behalfen sich die sozialpädagogischen Fachkräfte mit Übersetzer-Apps im Internet bzw. auf dem Smartphone, mit Bildkarten oder mit Kärtchen, auf denen wichtige Alltagssätze wie "Ihr Kind hat Durchfall" in Deutsch und in anderen Sprachen standen. Ferner wurde versucht, Botschaften mit Gesten und Gebärden herüberzubringen; gelegentlich wurde ein entsprechendes Bild gemalt. Mancherorts gab es auch Eltern, die schon früher aus dem jeweiligen Sprachraum nach Deutschland gekommen waren und dolmetschen konnten. Zum Zeitpunkt der Interviews sprachen schon viele der Kinder mit Fluchterfahrung besser Deutsch als ihre Eltern - es wird in dem Film aber aus verschiedenen Gründen davon abgeraten, sie als Dolmetscher einzusetzen.
Die Interviewpartner berichten ferner, dass die geflüchteten Eltern zunächst keine Vorstellung davon hatten, was in Kitas passiert. Sie kannten nur den schulischen Unterricht, und wunderten sich deshalb, dass die Kinder so viel spielen und selbsttätig handeln dürfen. Die Fachkräfte nutzten oft die Abholzeit, um den Eltern zu zeigen, was ihr Kind tagsüber gemacht hat.
Anfangs befürchteten die Eltern, dass ihre Kinder Schweinefleisch zu essen bekommen könnten. Erst nach längerer Zeit und Maßnahmen wie dem Aushängen von Fotos der Speisen waren sie sich sicher, dass sich das Kita-Personal bei ihren Kindern an islamische Ernährungsvorschriften hielt. Die Fachkräfte beobachteten auch eine große Verunsicherung der Eltern in ihrer Rolle: In ihrem Heimatland waren sie die Familienernährer und gesellschaftlich anerkannt - nun hatten sie keinen Arbeitsplatz, konnten sich kaum verständigen und waren auf finanzielle und materielle Hilfen angewiesen. Ihre Gemütslage verbesserte sich häufig ein wenig, wenn sie merkten, dass ihre Kinder gerne in die Kita gingen und sich dort wohlfühlten. Jedoch war die Eingewöhnungszeit der Kinder oft länger als bei deutschen Kindern (manchmal kam es auch nach der Aufnahme eines Kindes zu einer abrupten Trennung von den Eltern, wenn diese z.B. zu einem Sprachkurs mussten). Sie verlief auch etwas anders: Da die Kinder mit Fluchterfahrung in ihren Heimatländern zumeist von älteren Geschwistern bzw. Kindern beaufsichtigt worden waren, gingen sie eher auf andere Kinder in ihrer Gruppe zu als auf die Fachkräfte.
In den Interviews geht es ferner um den unsicheren Aufenthaltsstatus vieler Flüchtlingsfamilien. Die Fachkräfte berichten, dass sie überhaupt keine Informationen über den Stand des Asylverfahrens bekämen - manchmal wären die Kinder auf einmal weg oder würden so abrupt abgemeldet, dass keine Zeit für den Abschied bliebe. Auch die anderen Kinder würden unter solchen Beziehungsabbrüchen leiden, insbesondere wenn sie sich mit dem jeweiligen Flüchtlingskind angefreundet hatten. Da die Fachkräfte oft viel an Arbeit und Emotionen in die Kinder investiert hätten, würden solche plötzlichen Abmeldungen demotivierend wirken. Sie müssten sich erst mit dieser Erfahrung auseinandersetzen, bevor sie sich wieder in demselben Maße bei einem anderen Flüchtlingskind engagieren könnten.
Da ein hoher Prozentsatz der Kinder mit Fluchterfahrung traumatisiert sei, würden sie oft überraschend reagieren - z.B. auf bestimmte Geräusche. Häufig würden sie gestresst und erschöpft wirken. Wenn die Fachkräfte dann versuchen, die Kinder mit entsprechenden Methoden zur Entspannung zu führen, kämen erst recht schlimme Erinnerungen hoch - die hektische Betriebsamkeit vieler dieser Kinder diene auch der eigenen Ablenkung, sodass sich Entspannungsverfahren in solchen Fällen als kontraproduktiv erwiesen hätten. Traumatisierte Kinder sollten möglichst nicht nach ihren Kriegs- und Fluchterfahrungen gefragt werden (da sie nicht daran erinnert werden wollen), wenn möglich aber ihre Eltern. Vor allem aber benötigen diese Kinder professionelle Hilfe durch besonders qualifizierte Fachleute - die Kita kann ihnen nur Sicherheit, Normalität und geregelte Abläufe bieten.
Ein weiteres Thema, das im Film angesprochen wird, ist die sprachliche Bildung von Kindern mit Fluchterfahrung. In den Interviews wird zu einer alltagsintegrierten Sprachförderung geraten, bei der von handlungsbegleitendem Sprechen, korrektivem Feedback sowie Liedern, Versen und Reimen Gebrauch gemacht wird. Insbesondere bei älteren Kleinkindern wurde beobachtet, dass sie sich zunächst zurückhalten und sich auf das Beobachten beschränken - erst nach mehreren Wochen oder gar Monaten begännen sie, mehr zu sprechen. Erst wenn sich die Kinder sicher und geborgen fühlen und viel Wärme und Zuneigung seitens der Fachkräfte erfahren hätten, könne die Spracherziehung richtig einsetzen. Den Eltern solle geraten werden, zu Hause in ihrer Muttersprache zu sprechen. Die Kommunikation in der Erstsprache würde dem Kind Sicherheit geben - sonst würde es einen weiteren, für es unerklärlichen Verlust erfahren. Die Interviewpartner hatten auch positive Erfahrungen mit mehrsprachigen Bilderbüchern gemacht: Die Fachkräfte lesen den deutschen Text vor, die Eltern den muttersprachlichen.
Ein weiteres, im Film angeschnittenes Thema sind Eltern-Kind-Gruppen. Während der Flucht sei oft eine besonders enge Bindung zwischen Eltern und Kindern entstanden. So wäre der lange Aufenthalt des Kindes in der Kita eine für beide Seiten oft nur schwer zu verkraftende Trennung. Gelegentliche oder regelmäßige Eltern-Kind-Gruppen könnten diese negative Erfahrung etwas abmildern. Während dieses Angebots spielen die Eltern und ihre Kinder miteinander und besuchen geeignete Bildungsangebote. Zugleich erleben die Eltern, dass ihr Kind in der Kita gut aufgehoben ist. Sie würden dann eine große Dankbarkeit zeigen.
Als besonders wichtig wird von den Interviewpartnern die Netzwerkarbeit bezeichnet. Für die Fachkräfte wären Zusammenhalt und Unterstützung im Team und für die geflüchteten Eltern das Zusammensein mit Eltern aus dem gleichen Sprachraum von Bedeutung. Die Erzieher/innen müssten nicht nur mit Beratungseinrichtungen, Behörden und anderen Institutionen zusammenarbeiten, sondern auch mit Ehrenamtlichen und Paten, die sich um die jeweilige Flüchtlingsfamilie kümmern.
Abschließend wird festgehalten, dass die Interviewpartner ihre Arbeit mit geflüchteten Familien als erfolgreich erlebten und aus dieser Leistung heraus an Selbstbewusstsein gewonnen hatten. Die anderen Kinder in den Gruppen hatten durch die Kinder mit Fluchterfahrung gelernt, mit deren Sprachen, Kulturen und Ernährungsgewohnheiten umzugehen, und waren offener und toleranter geworden. Ihr unvoreingenommenes Zugehen auf die "fremden" Kinder, in denen sie in erster Linie neue Spielkameraden sahen, zeigte den Erwachsenen oft den richtigen Weg. Da auch die deutschen Kleinkinder noch lernen müssen, die deutsche Sprache zu beherrschen, konnten sie sich leicht in die Situation der Flüchtlingskinder "hineinversetzen" und ihnen beim Spracherwerb helfen.
Schon die Länge dieser Rezension verdeutlicht, dass Steffi Thon ein interessanter und lehrreicher Film gelungen ist, der in der Aus- und Fortbildung von sozialpädagogischen Fachkräften eingesetzt werden sollte - aber auch in Teams, wenn erstmalig ein Kind mit Fluchterfahrung aufgenommen werden soll. So wird die Zielsetzung des Filmes vollständig erfüllt: Er soll laut Klappentext "Druck von den Fachkräften" nehmen und aufzeigen, "dass es auch bei dieser Zielgruppe, ähnlich wie bei den Kindern mit Migrationshintergrund, primär um Kinder geht!"
Anzumerken bleibt noch, dass Kurt Gerwig in dem Film nicht nur die Fachkräfte und die anderen Fachleute interviewt, sondern auch als Sprecher fungiert und zum Schluss noch einen einfühlsamen Kommentar beisteuert.