Neue Perspektiven im Sozialbereich: Ende des Wohlfahrtsstaates, Technisierung, Dekonzentration?

Hans-Christoph Vogel

Der Wohlfahrtsstaat ist in die Schlagzeilen gekommen. Der Gesellschaft ist nicht mehr wohl bei der Gegenüberstellung von Aufwendungen für die Wohlfahrt und ihren Erträgen. Nicht nur in unserem Land werden Alternativen diskutiert, sondern in einer Reihe von Ländern, vor allem in Schweden, dem Prototypus eines Wohlfahrtsstaates, aber auch in Holland, in Neuseeland oder in England mit seinem staatlichen Gesundheitssystem. Der europäische Sozialstaat ist passé, so heißt es (Frankfurter Rundschau, 24.12.1997). Leistungen sollen nicht länger großzügig verteilt werden, sondern nach genauer Prüfung der Ansprüche. Anspruchsgrundlagen sollen auf ein Maß reduziert werden, das vielen bereits als "unmenschlich" erscheint.

Bedürftigkeit soll wieder Grundlage von Ansprüchen aus der Arbeitslosenversicherung und der Pflegeversicherung sein, nicht das Recht auf Vorleistungen im Sinne des Versicherungsprinzips.

Das Ende der Solidarität beklagen die einen, während andere die stärkere individuelle Beteiligung an Vorsorge und Absicherung fordern.. In einer gerechteren Umverteilung liege, so die Arbeitnehmervertreter, eine wichtige Strategie zur Linderung von anwachsender Verarmung - und sie weisen auf die überproportional angestiegenen Unternehmergewinne oder die unvorstellbaren Gewinne der Global Players hin, die sich gegenseitig darin überbieten, ihren Anteilseignern möglichst überdurchschnittliche Renditen zu erwirtschaften.

In einer Befreiung von Auflagen und Beschränkungen, in der Förderung des Unternehmertums im Großen wie im Kleinen und der stärkeren Eigenvorsorge für Alter und Krankheit, so entgegnet die Unternehmerseite, liege allein die Prosperität aller begründet.

Es bleibt nicht aus, daß in solcher Situation diejenigen, die das Verteilungssystem in Händen haben, auf die Effizienz des Verteilens hin beobachtet werden, auf den Aufwand des Organisierens. Bei näherer Beobachtung zeigt sich denn auch, gerade in einem Bereich, der "Geld in Liebe" verwandelt, daß er häufig "lieblos" mit dem anvertrauten Geld umgeht.

Solche Kontrolle drängt sich also auf, doch sie kostet ebenfalls Geld und diesen Aufwendungen des Aufdeckens stehen nicht immer angemessene Erträge des Prüfens gegenüber.

Die Lösung scheint in der Orientierung am Marktprinzip zu liegen, d.h. in einem Prinzip des (möglichst) freien Gegenübertretens von Angebot und Nachfrage, und zwar für die Sozialverwaltung wie für die freien Träger Sozialer Arbeit und ihre Verbände. Orientierung am Markt bedeutet dabei insbesondere: eine kaufmännische/ doppelte Buchführung, eine produktbezogene Kostenrechnung, die Einführung einer Unternehmensplanung, eines Controllings, bedeutet Qualitätssicherung, den Einsatz moderner Technologie, einer Personalentwicklung und -politik sowie eines Marketings, das eine konsequente Produktpolitik betreibt und seine Produkte marktgerecht anbietet.

Die Frage des Ob ist zwischenzeitlich obsolet, weil der Gesetzgeber das Gesetz des Marktes eingebracht hat: Das Sozialrecht (BSHG) wie das Recht der Kinder- und Jugendhilfe haben in ihren Änderungen bereits das Markt- oder Konkurrenzprinzip eingebaut: Die sog. Freien Träger Sozialer Arbeit sind den frei gewerblichen Trägern gleichgestellt. Was zunächst in der Pflegeversicherung für Unruhe sorgte, findet sich nun in anderen Arbeitsbereichen, besser: Märkten, wieder. Ab dem 1.1.99 müssen Leistungen nach dem BSHG in spezifische Leistungsarten (Grundvergütung/ Investition/ Maßnahmenpauschale etc., differenziert nach Gruppen von Hilfeempfängern) gegliedert und ausgewiesen werden. Der Kunde hat ein Anrecht darauf, zu erfahren, wie teuer z.B. die morgendliche Andacht im Altenheim ist.

Dieser Markt ist nicht frei und unbegrenzt. In der Altenpflege werden Leistungen in Gestalt von Standardisierungen (Standardpflegesatzmodell) bzw. Vergütungspauschalen "gedeckelt" und im Preis begrenzt. Die Trennung von Leistungen im Sinne einer Grundversorgung wird zu einer stärkeren Beteiligung der Nutzer an den Kosten der Leistungen führen. Zusatzleistungen werden nur auf eigene Rechnungen gewährt. Eine Fachberatung auf der Grundlage der §§ 93 ff. BSHG differenziert zukünftig nach Sozialhilfeberechtigung. Wer nicht anspruchsberechtigt ist, wird die Rolle eines selbstzahlenden Nutzers einnehmen (s. Wittenius 1998, 337).

Die Folgen dieser Änderungen werden sich auch auf der Anbieterseite bemerkbar machen: Es werden neue, "freie" Anbieter auf diesem Markt auftreten, vermutlich auch kleine Anbieter, die den Vorzug ihrer geringen Overhead-Kosten zu nutzen wissen.

Bei aller Marktorientierung bleibt zu berücksichtigen, daß es sich um einen besonderen "Markt" handelt, der der Unterstützung von Marktteilnehmern bedarf, die in ihrer Teilnahme in Form des Vergleichens, Bewertens, Überblickens nicht geübt oder behindert sind.

Die Kunden dieses Marktes bedürfen eines Schutzes, und zugleich können sie das Gesetz des Marktes eher in marktorientierten Organisationen als in Verteilersystemen erfahren, die sich um die Effizienz ihres Verteilens nicht sorgen müssen. Schließlich sollen sie ja in den ökonomischen Markt, in das Funktionssystem "Wirtschaft", wieder inkludiert werden. Darum mag eine Inklusions-Konkurrenz unter den Trägern sich nicht abträglich erweisen.

Konkurrenz schließt nicht aus, daß die Konkurrenten versuchen, ihre Vergütungen zu möglichst geringen Kosten zu erhalten suchen, etwa indem sie Leistungserbringer in Arbeitskontrakten einsetzen, die nicht an den BAT gebunden sind, daß sie Teilzeitkräfte oder geringfügig Beschäftigte, das heißt in manchen Fällen auch geringer qualifizierte Kräfte einsetzen ("Wer BAT zahlt, hat eben Pech gehabt", Wittenius 1998, 337).

Aber daß damit das Ende qualifizierter Arbeit, hier vor allem der Sozialarbeit eingeläutet ist, ist keine notwendige Folge. Die Option verschiedener Anstellungsverhältnisse führt vielleicht zur Präzisierung der genuinen Sozial- also Inklusionsarbeit, die sich an "Exkludierte" wendet, d.h. an Personen oder Gruppen, die den Regeln moderner Funktionsbereiche nicht ohne weiteres folgen können (Benachteiligte, Behinderte, Nichtseßhafte etc.). Sie zu inkludieren, in das System Wirtschaft wie in die anderen Funktionssysteme, bedeutet hochqualifizierte Arbeit eigener Art, nicht aber die unvollkommene Kopie der Arbeitsweise andere Funktionssysteme.

Technik und Soziale Arbeit

Bei einer Betrachtung der Zukunft darf die Technik nicht fehlen, weil dieses Medium beträchtlichen Einfluß auf die Arbeitsweise heute bereits nimmt und zukünftig nehmen wird.

Die Träger Sozialer Arbeit haben in den letzten Jahren nicht allein die marktgängigen Programme zur Büroorganisation übernommen, sondern auch spezifische Programme zur Steuerung ihrer Arbeitsprozesse eingeführt, beispielsweise Programme zur Erfassung der Belegung, der Personaldaten, zur Ermittlung der Pflegesätze, zur Budgetierung, zur Unterstützung des Controllings oder des Berichtswesens. Neuerdings kommen auch erste Programme zum Aufbau eines integrierten Informationssystems in Anwendung, die es erlauben, Anforderungen der Klienten mit der Verfügbarkeit und spezifischen Fertigkeiten des Personals sowie mit Kosten- bzw. Abrechnungsverfahren zu verbinden. Die Erfüllung von Qualitätsstandards, etwa der ISO-Normen 9000, ließe sich in größeren Einrichtungen nicht mehr ohne Erfassung und Verarbeitung über den Rechner durchführen.

Auch das Medium des Internets ist in kurzer Zeit in Sozialen Einrichtungen aufgenommen worden. Es scheint, als ob dieses Medium diesem Funktionssystem wie gerufen kommt, weil es die Kommunikation in einem auf Kommunikation besonders angelegten System unterstützt und erleichtert. Die Mailing-Listen in Foren der Sozialen Arbeit zeichnen sich durch hohe Beteiligung, inhaltliche Vielfalt und eine offene Streitkultur aus.

Die Kommunikation verändert sich dabei. Die sozialarbeiterische Weitschweifigkeit gibt sich ohne Umschweife, der Tonfall wird deutlicher, die Titel erweisen sich als hinderlich und überflüssig. Man fragt um Hilfe, gesteht Unkenntnis und Unsicherheit ein und man schließt aus (exkludiert !), wer sich den Regeln nicht unterwirft.

Die Erweiterung des eigenen Dialogs findet seine Entsprechung in der Zurverfügungstellung der Kommunikationstechnik für das Klientel, für Jugendliche in den Internet-Cafes, die Alten, die sich beinahe schon abgeschrieben fühlten oder die Psychisch Kranken, die sich endlich einmal gefordert fühlen nach Jahren einer immer gleichen Beschäftigungstherapie.

Das technische Gerät ist nie beleidigt, läßt sich maltraitieren, läßt sich abstellen und anstellen, läuft tags wie nachts, kennt keine Peinlichkeiten im Umgang mit seinen Nutzern, verbessert die Orthographie, sendet keine die Schizophrenie unterstützenden Doppelbotschaften, sondern ein eindeutiges Ja oder Nein. Es läßt "Beine wachsen", die sonst nicht mehr tragen oder nie gewachsen sind.

Wenn Soziale Arbeit künftig in stärkerem Maße Arbeit in der Gemeinde sein will, kommt ihr die Technik wie gerufen, weil sie Vernetzungen unter Betroffenen, Klienten und Interessierten erlaubt (s. z.B. die "Civic Networking", "Community Networks , "Free Nets" in den USA oder die Netze der "Graswurzeldemokratie" s. Wendt 1997).

Selbst in der Beratung, der Therapie und der Supervision wird die Rolle der Technik diskutiert. Warum sollen nicht selbstreferentiell operierende Systeme per Tele-Kontakt "gestört" werden?

Die technisch unterstützte Kommunikation läßt erkennen, was Kommunikation immer nur sein kann: Kommunikation, die sich durch Kommunikation erstellt, aber keine Kommunikation "ist". Die Crashs der Verbindungen und Programme machen deutlich, wie voraussetzungsvoll Kommunikation bleibt. Die Technik trivialisiert komplexe Vorgänge in schematische Kausal-Abläufe. Sie entlastet die Entscheider, aber sie suggeriert, daß die Entscheider Herr des Verfahrens bleiben, daß sie die Abläufe beherrschen. Doch sie bleibt risikobehaftet und anfällig, gerade dann wenn sich die Entscheider sicher glauben.

Das Gesetz wider die korporatistischen Wohlfahrtsverbände

Das Recht verdankt sich dem Streit und seiner Schlichtung. Es wird gesetzt und durchgesetzt, und es erstellt sich immer wieder neu durch die unermüdliche Subsumption des Falls unter die eine Seite, das Rechtmäßige, das Richtige. Und sind die Parteien nicht willens-einsichtig, so gebraucht oder besser: veranlaßt es Gewalt. Wir haben ein Gesetz gegen Wettbewerbsbestimmungen (GWB), das kartellartige, korporatistische Kooperationen untersagt, das sich ableitet aus einem Verfassungsprinzip der möglichst großen Freiheit, des ungehinderten Zutritts zu Märkten. Und siehe da, vor allem unsere großen kirchlichen Einrichtungen erscheinen auf dieser Folie als Sünder wider den wettbewerblichen Ordnungsrahmen. "Eine konsequente Anwendung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen könnte als Reformhebel genutzt werden", um dem Ordnungsrecht Geltung zu verschaffen, heißt es im Gutachten der Monopolkommission vom 17.7.98. Die angestrebte Struktur beinhaltet folgende Elemente:

  • Dekonzentration/Dezentralisation von Einrichtungen
  • Aufgabe des Gemeinnützigkeitsprinzips zugunsten wettbewerblicher Strukturen
  • Gleichstellung des Zugangs zu Subventionen
  • Gleichstellung in der Verfügbarkeit von Zivildienstleistenden
  • Gleichstellung bezüglich der Förderung ehrenamtlicher Arbeit
  • Subjekt- statt Objektförderung
  • Freiheit der Abwahl
  • Freiheit der Mittelverwendung seitens der Träger
  • Kostentransparenz und
  • Abbau der Sachleistungen zugunsten von Geldleistungen.

Dazu soll die Position des Kunden gestärkt, asymmetrische Informationsverteilungen reduziert, Qualitätssicherung und transparente Kostenrechnungen vorgeschrieben werden.

Auch Kommunen sollen übrigens, soweit sie selbst Anbieter von Sozialleistungen sind, in gleicher Weise behandelt werden.

Interessant erscheint die Logik der Ordnungshüter: Weil die traditionellen Sozial- und Wertegemeinschaften in Auflösung begriffen seien, sei auch das Ende der weltanschaulichen Verbände angesagt. Die Zukunft liege bei Anbietern von Produkten, die sich, als Glaubens-Ersatz, des Instruments einer "Corporate Identity" zu bedienen wüßten. In ihrer Innenwirkung diene sie der Ausrichtung und der Motivation der Mitarbeiter, den Nachfragern signalisiere sie ein glaubwürdiges Leistungsversprechen (Monopolkommission 1998, 349). Das Geld lenke auf einem so strukturierten Markt die notwendigen Reformen und ersetze die mühevolle Steuerung. Das System steuere sich selbst. - So spricht eine Monopolkommission, ein Funktions- System, das das Recht auf Wettbewerb zu sichern sucht.

Die Kommission wird nun, nach dem Regierungswechsel, vielleicht etwas anders reden. Aber der Vorwurf des Korporatismus, der Ignoranz, der Selbstgefälligkeit, des Dahindriftens von Bezuschussung zu Bezuschussung, der Kuschel- und Mauschelecken kommt auch aus den eigenen Reihen (s. Manderscheid 1997).

Das Funktionssystem Soziale Arbeit ist durch seine Umwelt verstört. Das kann willkommener Anlaß sein, in systemeigener Sprache und systemeigenen Konzepten über die Vorwürfe der Umwelt zu kommunizieren.

Literatur

Deutscher Bundestag (1998): Drucksache 13/11291, Zwölftes Hauptgutachten der Monopolkommission 1996/1997 vom 17. 07. 1998

Manderscheid, H. (1997): Neuorientierung freier Wohlfahrtspflege als Träger sozialer Dienste, in: Hanesch, W. (Hrsg.), Überlebt die soziale Stadt? Konzeption, Krise und Perspektiven kommunaler Sozialpolitik, Opladen , S. 137-151

Wendt, W. R. (1997): Das virtuelle Gemeinwesen, in: Blätter der Wohlfahrtspflege-Online, Internet/virtuelle.htm, S. 1-6

Wittenius, U. (1998): Systemwechsel in der sozialen Arbeit, in: Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit, Nr. 9/98, S. 335-339

Anmerkung

Dieser Text stammt aus dem Eröffnungsvortrag am "Tag der Ehemaligen" des Fachbereichs Sozialwesen der Fachhochschule Niederrhein.

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