Martin R. Textor
Es war einmal ein Kindergarten in evangelischer Trägerschaft. Er befand sich in einem schönen neuen Gemeindezentrum und war bestens ausgestattet. Die Eltern sammelten fleißig Abfallmaterialien, mit denen im Kindergarten die tollsten Gebilde entstanden. Diese wurden manchmal in den Gemeinderäumen ausgestellt. Auch gab es vereinzelt Verkaufsausstellungen, bei denen die Eltern Werke der Kinder kaufen konnten. So war die Spielgeldkasse immer gut gefüllt. Das Geld reichte sogar zu Ausflügen in die Nachbarschaft, bei denen die Gruppe Museen, historische Bauwerke, Baustellen, Biotope usw. erkundete und oft auch in einem Wirtshaus einkehrte. Manchmal wurden Eltern an ihrem Arbeitsplatz besucht, so dass Kinder einen Einblick in die Arbeitswelt erhielten.
Die Eltern durften nach vorheriger Anmeldung jederzeit den ganzen Tag im Kindergarten verbringen. Die vorherige Anmeldung sollte nur sicherstellen, dass nicht mehr als ein Elternteil in jeder der beiden Gruppen anwesend war. Aber auch bei den Elternabenden konnten die Eltern Einblick in den Kindergartenalltag gewinnen. Es wurden nämlich keine Vorträge gehalten, sondern die Eltern bastelten und spielten mit denselben Materialien wie ihre Kinder in den Tagen zuvor. Dann diskutierten sie über ihre Lernerfahrungen. Kein Wunder, dass die Eltern gegen Arbeitsblätter im Kindergarten waren! Sie engagierten sich auch sonst im Kindergarten, reparierten z.B. kaputtes Spielzeug oder übten Puppenspiele, Theaterstücke oder Schattenspiele ein, die sie dann den Kindern bei festlichen Anlässen vorführten.
Es bildete sich sogar eine kleine Elterngruppe, die zusammen mit der Kindergartenleiterin Familienfreizeiten am Wochenende vorbereitete und durchführte. Oft wurden Eltern von Problemkindern direkt zu diesen Freizeiten eingeladen, die für sie dann zu einer therapeutischen Erfahrung wurden. Die Kindergartenleiterin hatte auch genügend Zeit, mit den Eltern über ihre Erziehungsfragen und Nöte zu sprechen. Es wollten nämlich viele Schüler und Studierende von Fachakademien in diesem Kindergarten ihr Praktikum ableisten. So konnte die Kindergartenleiterin oft ihre Kindergruppe alleine lassen, um mit Eltern zu sprechen, da immer genug Betreuer da waren.
Der Pfarrer ließ sich nicht im Kindergarten blicken. Aber es gab da einen netten Dekan. Oft riefen ihn die Kinder an und luden ihn ein. Dann zog er alte Kleidungsstücke an, packte einige kleine Geschenke ein und besuchte die Kinder. Er spielte mit ihnen im Sandkasten oder in der Spielecke. Kein Wunder, dass die Kinder ihn liebten! Für einige Zeit arbeitete auch ein Vikar in der Gemeinde. Ihn durften die Kinder manchmal zu viert oder zu fünft besuchen, oder er kam hinunter in den Kindergarten. Wenn sich nur der Pfarrer oder die Kindergottesdienstleiterin häufiger im Kindergarten hätte blicken lassen! Sicherlich wären dann mehr Kinder in den Kindergottesdienst gekommen...
Ist diese Geschichte ein Märchen? Nein, diesen Kindergarten gab es wirklich, wenn er auch heute nicht mehr in der skizzierten Weise arbeitet. Er hat sich auf die Bedürfnisse heutiger Familien eingestellt und ist Teil der Kirchengemeinde geworden. Hier wird berücksichtigt, welche Funktionen der Kindergarten heute hat. Dies soll in den folgenden Absätzen verdeutlicht werden.
Der Kindergarten ist in der Kirchengemeinde die zentrale Anlaufstelle für junge Familien und das bedeutendste Angebot für Kinder. Durch seine familienergänzenden, insbesondere aber durch seine familienunterstützenden Funktionen kann er im Sinne der Diakonie wirken - sofern er diese Aufgaben übernimmt, also wenn nicht nur die Kinder beaufsichtigt oder "gebildet" werden. Er kann auch einen wichtigen Anstoß zur Nachbarschaftshilfe geben. Deshalb sollte dem Kindergarten seitens des Pfarrers, des Kirchenvorstandes und der Gesamtgemeinde die entsprechende Anerkennung gezollt werden. Diese zeigt sich im Verständnis für die pädagogische und familienunterstützende Arbeit des Kindergartens, in Gesprächsbereitschaft, in der Gestaltung der Arbeitsbedingungen für das Team und den gewährten Fortbildungsmöglichkeiten
Der Kindergarten ist heute aber oft eine wenig integrierte Teilwelt der Kirchengemeinde. So sollte er mehr mit anderen Bereichen (Mutter-Kind-Gruppen, Altenheime usw.) vernetzt werden. Ferner sollte er mehr als der einzige Ort begriffen werden, an dem Pfarrer junge Familien erreichen können. Die Präsenz des Pfarrers zur Bring- oder Abholzeit, in der Kindergruppe oder bei Elternabenden könnte die Distanz vieler Familien zur Kirche reduzieren. Familiengottesdienste speziell für die "Kindergartenfamilien" können diese Entwicklung verstärken. Sie können zugleich gemeinschaftsbildend sein, wenn sie von Eltern und Kindern mitgestaltet werden. Auch die Taufe des Geschwisterchens eines Kindergartenkindes kann durchaus mit allen Kindergartenkindern gemeinsam gefeiert werden. Unter solchen Umständen wird es Erzieherinnen leichter fallen, ihren religionspädagogischen Auftrag zu erfüllen. Wir sollten bedenken, dass der Kindergarten für eine zunehmende Zahl von Kleinkindern der einzige Ort ist, wo sie etwas über Religion und Gemeindeleben erfahren können...
Anmerkung
Dieser Artikel erschien zunächst unter dem Titel "Der Kindergarten fordert uns heraus..." in: Deutsches Pfarrerblatt 1992, 92, S. 573