Martin R. Textor
Wirtschaft und Politik proklamieren ein neues Mutterbild: emanzipierte, finanziell unabhängige Frauen, die ein Jahr nach der Geburt ihre Kinder einer Tagesmutter oder (Krippen-) Erzieherin anvertrauen. Da Kindertagesstätten nun Bildungseinrichtungen sind, in denen der Bildungsplan des jeweiligen Bundeslandes "abgearbeitet" wird, wissen die jungen Mütter ihre Kinder dort gut gefördert. Ferner gehen sie davon aus, dass sich auch die Grundschulen intensiv um ihre Kinder kümmern, da dort immer häufiger eine Nachmittagsbetreuung angeboten wird - sofern sie nicht schon längst Ganztagsschulen sind.
Erziehung und Bildung: Sache von Fachleuten
Und so delegieren immer mehr Mütter Erziehungsaufgaben: Kleinkinder lernen das Krabbeln, Laufen und Sprechen nicht mehr zu Hause, sondern bei Tagesmüttern und in Kinderkrippen. Erzieher/innen übernehmen immer häufiger die Sauberkeitserziehung und bringen Kleinkindern bei, wie man sich an- bzw. auszieht und wie man ordentlich isst. Entwickelt sich ein Kind nicht richtig - kein Problem für die Mutter: Schließlich gibt es viele spezialisierte Dienste, die sich dann um ihr Kind kümmern! So erhalten bereits 30 Prozent der Kinder eines Geburtsjahrgangs im Vorschulalter professionelle Förder- und Therapiemaßnahmen, wie die Deutsche Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin in der Pressemitteilung vom 05.12.2006 berichtete. Auch für Schulkinder gibt es entsprechende Angebote. Zudem müssen Mütter bei schlechten Schulleistungen nicht mehr die Hausaufgaben kontrollieren oder mit ihrem Kind pauken: Wozu gibt es Nachhilfeinstitute? Laut der ARD-Sendung Plusminus vom 04.11.2008 lernen inzwischen 1,2 Millionen Schüler/innen an den ca. 4.000 Nachhilfe-Einrichtungen - also etwa jedes dritte Kind. Und darunter fallen immer mehr Grundschüler.
Das Ende der Gemütlichkeit
Die Mutterrolle verliert aber nicht nur erziehende und bildende Funktionen. Die Frau von heute kümmert sich auch immer weniger um den Haushalt: Wozu gibt es Tiefkühlkost, Pizzaservice und Junkfood - einmal abgesehen von Imbissen und Restaurants? Außerdem essen die Eltern an fünf Tagen der Woche in der Kantine und die Kinder in der Kindertageseinrichtung bzw. Schule. Und wenn die Familienmitglieder abends zu unterschiedlichen Zeiten nach Hause kommen, macht es auch keinen Sinn, einen Abendbrottisch zu decken: Wer Hunger hat, findet schon den Weg zum Kühlschrank! Und dass Teller und Gläser anschließend in die Spülmaschine gehören - so viel bringen Frauen ihrem Partner und den Kindern schon bei...
Wenn Mütter (Vollzeit) erwerbstätig sind, reicht das Geld oft für eine Putzfrau. So können sie auch das Reinigen der Wohnung delegieren. Und wenn es aufgrund von Arbeitsüberlastung und Stress an Zeit mangelt, um das Familienleben "gemütlich" zu gestalten - so ist es eben! Außerdem sitzt der Mann ja sowieso die meiste Zeit vor dem Fernseher, sind die Kleinkinder nach der Ganztagsbetreuung so müde, dass sie frühzeitig ins Bett müssen, ziehen sich die größeren Kinder nach der Schule in ihre Zimmer zurück oder sind bei Freunden. Und an den Wochenenden fehlt auch die Zeit - schließlich müssen dann die Einkäufe erledigt, Großeltern und Freunde besucht, Freizeit- und Fitnessangebote genutzt werden.
Mutter- und Vaterrolle nähern sich einander an
Deutlich wird, dass sich die emanzipierte Frau von heute immer mehr über ihre Erwerbstätigkeit und immer weniger über Mutterschaft und Haushaltsführung definiert. Und dies ist unabhängig davon, ob sie aus finanziellen Zwängen, aus Freude an ihrem Job oder zwecks Selbstverwirklichung arbeiten geht. In dieser Überbetonung des Berufs wird sie von Politik und Wirtschaft - vermittelt über die Medien - unterstützt. Die Mutter überlässt somit die Betreuung, Erziehung und Bildung ihrer Kinder immer mehr Dritten. Damit nähert sich ihre Rolle schrittweise der traditionellen Rolle von Vätern an, nach der für solche Aufgaben die Ehefrauen zuständig waren. Die neuen Mütter werden immer mehr wie die alten Väter...
Negative Konsequenzen für Kinder
Dieser Rollenwandel ist nicht unproblematisch für (Klein-) Kinder - zumal der abnehmende erzieherische Einfluss der neuen Mütter nur in wenigen Familien durch neue Väter kompensiert wird. Erleben Babys und unter Dreijährige viele wechselnde Bezugspersonen, fühlen sie sich nicht geborgen. Sie bilden nur unsichere oder ambivalente Bindungen aus, wodurch das selbsttätige Erkunden der Umwelt und damit das Lernen eingeschränkt werden. Auch steigt die Wahrscheinlichkeit von Verhaltensauffälligkeiten und psychischen Problemen, wenn sich Kinder nicht beschützt, zugehörig, geliebt und wertgeschätzt fühlen.
Das Erzieherische zurückgewinnen
Nach vielen wissenschaftlichen Studien ist der Einfluss der Familie auf die kindliche Entwicklung etwa doppelt so stark wie die Einwirkung von Kindertageseinrichtung und Schule. Diesen Einfluss dürfen Mütter und Väter nicht leichtfertig verspielen. So ist wichtig, dass (erwerbstätige) Eltern ihre Familienrollen hinterfragen und bewusst die erzieherischen und bildenden Funktionen stärken. Das bedeutet, dass sie die Zeit, die sie mit ihren Kindern verbringen (können), intensiv nutzen. Nicht die Quantität, sondern die Qualität der miteinander verbrachten Zeit ist entscheidend!