Martin R. Textor
Wir Erzieherinnen und Erzieher haben sie in unseren Kita-Gruppen: Samir, Bekir, Aziza, Hassan, Ali, Jihad, Esra, Mehmet, Laila, Felicia, Resul und wie auch immer sie heißen. Sie sprechen Türkisch oder Arabisch und nur wenig Deutsch. Seit einigen Jahren werden ihre Deutschkenntnisse getestet - bei den meisten dieser Kinder müssen wir besondere Sprachfördermaßnahmen durchführen.
Wir verstehen viele Eltern dieser Kinder schlecht - sie sprechen kaum Deutsch. Nur wenige Migranteneltern kommen zu Eingewöhnungs- oder Entwicklungsgesprächen, zu Elternabenden oder anderen Elternveranstaltungen. Selbst den Tür- und Angel-Gesprächen entziehen sie sich - und wenn nicht, können wir uns sowieso nur schlecht mit ihnen verständigen. Häufig sind wir ärgerlich, weil wir sie trotz all unserer Bemühungen nicht erreichen.
Wir wissen, dass die Lebenswelt dieser Eltern und Kinder, ihre Kultur und Religion, ihre Werthaltungen und Einstellungen ganz anders sind als die unsrigen. Aber wir kennen sie nicht - schließlich haben wir ja kaum Kontakt zu den Familien. So wissen wir nicht, wo und wie diese Familien leben, welche Erfahrungen die Eltern in Arbeitswelt und Gesellschaft machen, wie die finanziellen Verhältnisse sind, welche Rolle den Frauen in der jeweiligen Familie zukommt, wie die Kinder erzogen sind, ob die Eltern in ihr Herkunftsland zurückkehren wollen, wie religiös sie sind...
Nach zwei oder drei Jahren entlassen wir die Kinder in die Grundschule. Trotz unserer Fördermaßnahmen beherrschen sie die deutsche Sprache noch nicht perfekt, und so befürchten wir, dass sie dem Unterricht nicht so gut folgen werden wie deutsche Kinder. Aber wir wissen nicht, was aus ihnen wird - ob sie die Schule erfolgreich abschließen, ob sie einen Beruf erlernen, wie sie ihr weiteres Leben gestalten.
Aber nicht nur wir Erzieherinnen und Erzieher kennen diese Eltern und Kinder nicht - keine Deutsche, kein Deutscher kennt sie. Weder Lehrer/innen und Sozialarbeiter/innen noch andere Berufsgruppen haben einen intensiveren Kontakt zu ihnen (außer in Ausnahmefällen), haben sie gar zu Hause besucht. Die Eltern und Kinder leben in ihrer eigenen Welt - nein in verschiedenen Welten, denn die ethnischen Gruppen der Migrant/innen dürften sich stärker voneinander unterscheiden als die deutschen Bevölkerungsgruppen.
Dies ist keine typisch deutsche Situation. Auch z.B. in den Niederlanden gibt es kaum Kontakt zwischen Migrant/innen und Einheimischen. Dies fiel der Journalistin Margalith Kleijwegt (2008) auf. So wollte sie einige Migrantenfamilien und deren Lebensverhältnisse genauer kennen lernen. Dies gelang ihr mit Hilfe des Calvijn met Junior College in Slotervaart. Hier begleitete sie ab Ende 2003 ein Jahr lang 23 Achtklässler (darunter nur eine Niederländerin). Sie besuchte 19 Schüler/innen zu Hause, was oft mit großen Schwierigkeiten verbunden war. Aber auf diese Weise lernte sie die Familien (-verhältnisse) kennen - und war zumeist die erste Niederländerin, die deren Wohnungen betrat.
Natürlich arbeiten wir Erzieherinnen und Erzieher mit Kleinkindern und nicht mit Jugendlichen. Dennoch sind die Beobachtungen von Margalith Kleijwegt für uns relevant: Zum einen dürften sich die Familienverhältnisse "unserer" Kinder nicht sehr von den von ihr beschriebenen Lebenssituationen unterscheiden. Zum anderen regen ihre Aussagen dazu an, sich Gedanken darüber zu machen, ob die von uns betreuten Kinder in acht Jahren wohl genauso sein werden wie die Schüler/innen der Klasse 2 K des Calvijn met Junior College. Zudem ist das Buch von Margalith Kleijwegt leicht zu lesen, da es im journalistischen Stil verfasst wurde und die dargestellten Familien- bzw. Einzelschicksale dank vieler Gesprächstranskripte sehr lebendig wirken.
Die Welt junger Migrant/innen in den Niederlanden
Das Calvijn met Junior College befindet sich in Slotervaart, einem Stadtteil in Amsterdam-West. Dort leben nahezu ausschließlich marokkanische, türkische und surinamische Familien - abgeschottet von den Niederländern. In Slotervaart gibt es viele Schulschwänzer und eine hohe Kriminalitätsrate. Hier wuchs auch Mohammed Bouyeri auf, der im November 2004 den Filmemacher Theo van Gogh ermordete.
Die Familien der Schüler/innen wohnen zumeist in kleinen Apartments in heruntergekommenen Wohnblocks. Die Wohnungseinrichtung ist in der Regel einfach und preiswert; oft ist sie traditionell. Häufig haben die Eltern Häuser in ihren Herkunftsländern, in denen sie derzeit während der Ferien wohnen, in Zukunft aber auf Dauer leben möchten. Auch ihre Kinder fühlen sich noch stark mit der "Heimat" verbunden; oft gefällt es ihnen dort besser als in Amsterdam. Aufgrund ihrer Rückkehrpläne zeigen viele Eltern wenig Interesse am Erlernen der niederländischen Sprache und an der gesellschaftlichen Integration. Sie leben im eigenen, geschlossenen Familienkreis und haben wenig Kontakt zu Niederländern, die als zu westlich und zu freizügig erlebt werden. Die Eltern interessieren sich kaum für politische und kulturelle Ereignisse in den Niederlanden und wissen nur wenig über die dortigen Institutionen. Zumeist schauen sie türkisches, marokkanisches oder arabisches Fernsehen - auch religiöse Sender wie Iqra mit ihren anti-jüdischen und anti-christlichen Botschaften.
Laut Margalith Kleijwegt werden viele Migranteneltern immer religiöser - die Regeln des Islams gäben ihnen Halt. Sie beten regelmäßig, lesen viel im Koran und gehen in die Moschee. Zugleich nehme die wechselseitige soziale Kontrolle zu: Nachbarn würden z.B. Personen ansprechen, die Alkohol kaufen, Zigaretten rauchen oder als Frauen kein Kopftuch tragen. Für die meisten Eltern ist es undenkbar, dass ihre Kinder Nicht-Muslime heiraten könnten. Sie wollen Partner für ihre Töchter in Marokko oder in der Türkei suchen, da die Männer dort arbeitsamer und religiöser seien als die jungen Migranten in den Niederlanden.
Die Väter der Schüler/innen üben entweder einfache, schlecht bezahlte Jobs aus oder sind arbeitslos. Sie können sich oft in der Arbeitswelt und in der niederländischen Gesellschaft nur mühsam behaupten. Wenn sie längere Zeit arbeitslos sind, erleben sie einen großen Selbstwert- und Autoritätsverlust. Die Mütter sind zumeist nicht erwerbstätig und leben zurückgezogen in ihren Wohnungen. Sie wirken isoliert und einsam. 16 der 23 von Margalith Kleijwegt besuchten Mütter können Niederländisch nur radebrechen, obwohl sie zum Teil schon seit mehr als 25 Jahren in den Niederlanden leben und oft auch einen Sprachkurs besucht haben. Sie verhalten sich ihren Männern gegenüber unterwürfig.
Die meisten Eltern leben in ihrer eigenen Welt und empfinden alles, was außerhalb ist, als bedrohlich. Sie wollen wohl, dass ihre Kinder studieren, haben aber nicht die geringste Vorstellung, was ihre Kinder leisten können/ müssen und was sie selbst zum Schulerfolg beitragen könnten. Selbst auf schriftliche oder telefonische Einladung kommen sie nicht zu Elternabenden in die Schule, geschweige denn zu Einzelgesprächen mit den Lehrer/innen. Viele Eltern begreifen das niederländische Schulsystem nicht und können deshalb den Bildungsweg ihrer Kinder nicht steuern. Zudem können sie ihnen nicht bei den Hausaufgaben helfen. Oft stellen sie ihnen noch nicht einmal einen ruhigen Platz für deren Bearbeitung zur Verfügung. So versagen manche der von Margalith Kleijwegt begleiteten Schüler/innen auf der Schule. Sie kommen regelmäßig zu spät, bleiben häufig dem Unterricht fern, erledigen nur selten die Hausaufgaben, stören den Unterricht oder sind unkonzentriert. Die Schuld für das Schulversagen wird aber von ihren Eltern nicht bei sich selbst oder bei den Kindern gesucht, sondern den Lehrer/innen zugewiesen oder auf Diskriminierung zurückgeführt.
Viele Schüler/innen der Klasse 2 K entziehen sich ihren Familien. Ihre Eltern wissen nicht, ob ihre Kinder die Schule besuchen und was sie in ihrer Freizeit machen. Sie haben nur noch eine geringe Autorität und sind hilflos, wenn die Jugendlichen den Unterricht schwänzen oder Mitschüler (zumeist anderer Nationalität) terrorisieren, wenn sie kriminelle Handlungen begehen oder wenn sich ihre Lehrer/innen über ihr Verhalten beschweren. Hinzu kommt, dass sich viele Schüler wohl auf der Straße rüpelhaft verhalten, zu Hause aber "lammfromm" sind: "Darum können die Eltern es oft nicht glauben, wenn die Schule anruft, weil ihr Kind etwas ausgefressen hat. ... Kindererziehung scheint für die meisten Eltern der Klasse 2K eher daraus zu bestehen, Unheil abzuwenden; sie erfahren es nicht als etwas Schönes und Angenehmes, das man auch genießen kann. Sie haben zu wenig Vertrauen zu sich selbst, zu ihren Kindern und zur Welt. ... Heranwachsen muss von allein gehen. Lebe nach Gottes oder Allahs Regeln, und dir kann nichts geschehen!" (S. 52). Deshalb melden manche Migranteneltern ältere Kinder, mit denen sie nicht zurecht kommen, in kleinen, oft unregistrierten Internaten an, wo sie streng nach dem Islam erzogen und beim Erledigen der Hausaufgaben überwacht werden. Immer mehr solcher Internate würden in den Niederlanden entstehen, zumal sich herum spräche, dass die dort betreuten Jugendlichen bessere Schulleistungen erbringen würden.
Die von Margalith Kleijwegt begleiteten Schüler/innen haben kaum Kontakt zu niederländischen Gleichaltrigen und Erwachsenen (außer zu ihren Lehrer/innen). Die jüngeren Kinder wissen nicht, was sich außerhalb ihrer "kleinen Welt" ereignet - sie hatten noch nicht einmal von dem Mord an van Gogh oder von den darauf folgenden Brandanschlägen auf niederländische Moscheen gehört. Den älteren Schüler/innen waren hingegen diese Vorfälle bekannt. Sie traten für Mohammed Bouyeri ein und hielten den Mord an van Gogh für gerechtfertigt, da er den Islam verunglimpft habe. Auch forderten sie den Tod von Ayaan Hirsi Ali, die in einem Buch die islamische Orthodoxie scharf kritisiert und in dem Film "Submission" die unter Berufung auf den Koran erfolgende Unterdrückung und Misshandlung von Frauen thematisiert hatte. Als Reaktion auf die genannten Ereignisse würden somit viele Jugendliche religiöser, radikaler und aggressiver werden, sich noch mehr allem Westlichen gegenüber abgrenzen und Hass auf die Niederländer entwickeln.
Margalith Kleijwegt zeigt auf, wie sich viele Lehrer/innen am Calvijn met Junior College bemühen, der besonderen Situation der Migrantenkinder gerecht zu werden: Sie würden verstärkt erzieherisch tätig, um die Erziehungsschwäche der Eltern zu kompensieren. Beispielsweise formulieren sie konkrete Leistungserwartungen, geben Strukturen vor, rufen zur Ordnung auf, kontrollieren das Verhalten der Schüler/innen und halten sie zur Selbstbeherrschung an. Die Schule werde zunehmend zu einer Auffangstelle und Erziehungsinstanz.
Am Ende ihres Buches beklagt Margalith Kleijwegt, dass die niederländische Gesellschaft kaum etwas von der Lebenssituation der Migrantenfamilien und den von ihr aufgezeigten Probleme mitbekäme. Selbst die zuständigen Behörden und Institutionen würden diese Familien ignorieren. Sie schreibt: "Zu meinem Erstaunen gehen die Sozialarbeiter der Stadt, des Bezirks und der Hilfsorganisationen fast nie zu den betreffenden Leuten nach Hause. Obwohl das doch das erste ist, was geschehen sollte. Dann könnte man sehen, wie die Leute leben, was für Probleme sie haben. ... Ich war oftmals die erste Niederländerin, die die Familien in ihrer häuslichen Umgebung besuchte. Früher war es in vielen Schulen üblich, dass der Lehrer den Schüler zuhause aufsuchte. Warum werden die jährlichen Hausbesuche nicht wieder eingeführt, von der Grundschule bis zur weiterführenden Schule? Auf diese Weise könnte sich der Lehrer einen Einblick verschaffen, wie es in der Familie seines Schülers zugeht. Er könnte die Mutter zum Besuch eines Sprachkurses anspornen oder Erziehungsfragen mit den Eltern besprechen" (S. 177). Die Sprachkurse könnten an der Schule stattfinden. Dort könnten auch der Schulpflichtkontrolleur und Sozialarbeiter/innen als Ansprechpartner für Eltern "angesiedelt" werden.
Die Welt junger Migrant/innen in Deutschland
Treffen die Beobachtungen von Margalith Kleijwegt auch auf Jugendliche in Migrantenfamilien zu, die in Deutschland leben? Christine Henry-Huthmacher (2008) bejaht diese Frage im Nachwort der deutschen Ausgabe des ursprünglich in niederländischer Sprache veröffentlichten Buches. So stellt sie fest: "Wir wissen wenig über das Alltagsleben muslimischer Jugendlicher, auch für Deutschland trifft dies zu. ... Wir haben kaum Einblick in die Lebenswelt, Erziehungsstile und Erziehungspraktiken ihrer Eltern. Vor allem dann, wenn diese Jugendlichen die Hauptschule besuchen und ihre Eltern die deutsche Sprache nicht beherrschen, ist uns ihre Lebenswelt verschlossen. Ihre Eltern bleiben nahezu 'unsichtbar'. Von 'Parallelgesellschaften' ist in der gesellschaftspolitischen Diskussion bei uns die Rede. Die Einwanderer sprechen eine andere Sprache, in ihren Familien gelten andere Regel, es herrscht das kulturelle Selbstverständnis der Herkunftsländer" (S. 179). Und etwas später heißt es: "Ähnliche Erfahrungen wie in den Niederlanden machen wir auch in Deutschland. Hier leben fast 4,5 Millionen Kinder und Jugendliche, deren Eltern oder Großeltern eingewandert sind. Fast jedes dritte Kind unter fünf Jahren hat einen Migrationshintergrund" (S. 182).
Während es auch in Deutschland kaum Fallstudien über die Lebenslagen und die Alltagswelt von Migrantenfamilien gibt, verdeutlichen zumindest einige Statistiken und Befragungsergebnisse, wie problematisch die Situation der Jugendlichen ist:
- Laut dem 7. Bericht zur Lage der Ausländer in Deutschland (2007) erreichen Jugendliche aus Migrantenfamilien nicht so hohe Schulabschlüsse wie deutsche Gleichaltrige. "Bei den 20- bis 24-Jährigen mit Migrationshintergrund haben 7% keinen Schulabschluss. Am häufigsten erreicht diese Gruppe den Hauptschulabschluss (34%), gefolgt von der (Fach-) Hochschulreife (32%) und dem Realschulabschluss (28%). Am schlechtesten schneiden hier im Vergleich der Migrationsgruppen die Jugendlichen ausländischer Staatsangehörigkeit ab. 11% haben in dieser Gruppe keinen Abschluss" (S. 61). Besonders problematisch ist, dass viele Schulabsolventen bzw. -abbrecher anschließend keinen Beruf erlernen: Der Anteil der beruflich Unqualifizierten liegt bei den 20- bis 24-Jährigen mit Migrationshintergrund bei fast 54%.
- Laut einer Befragung von 14.301 westdeutschen Schüler/innen der neunten Jahrgangsstufe (Baier/ Pfeiffer 2007), von denen mehr als ein Drittel einen Migrationshintergrund hatte, erlebten von den Jugendlichen aus Migrantenfamilien zwischen 35 und 41% (je nach ethnischer Zugehörigkeit) nur eine geringe Kontrolle seitens ihrer Eltern in ihrer Kindheit (deutsche Schüler/innen: 32%). Zwischen 25 und 31% berichteten von mehr als leichten Züchtigungen seitens der Eltern (deutsche Schüler/innen: 17%). Auch wuchsen Jugendliche aus Migrantenfamilien häufiger als deutsche Neuntklässler in armutsnahen Verhältnissen auf.
- Laut derselben Befragung hatten 19,1% der deutschen männlichen Jugendlichen im zurückliegenden Jahr eine Körperverletzung begangen, aber 37,5% der Schüler mit türkischem Hintergrund. Erstere begangen im Durchschnitt 4,4 Gewalttaten, letztere 6,1. Auch männliche Befragte mit einem anderen ethnischen Hintergrund hatten häufiger als deutsche Jugendliche Körperverletzungen begangen. Dasselbe galt für Ladendiebstahl und Sachbeschädigung. Ferner hatten Jugendlichen aus Migrantenfamilien öfters (mehr) delinquente Freunde und befolgten häufiger Gewalt legimitierende Männlichkeitsnormen ("Kultur der Ehre"). Sie schwänzten häufiger die Schule als deutsche Neuntklässler.
- Diese Befragungsergebnisse spiegeln sich in der Polizeilichen Kriminalstatistik wider. Beispielsweise wurden in Berlin männliche nichtdeutsche Jugendliche im Jahr 2004 "im Zusammenhang mit Raubdelikten 3,66 mal häufiger registriert als deutsche Jugendliche, im Jahr 2005 sogar 3,78 mal häufiger" (Landeskommission Berlin gegen Gewalt 2007, S. 19). Ferner wurden sie 3,07 mal häufiger für gefährliche und schwere Körperverletzung, 3,0 mal häufiger wegen Sexualdelikten und 7,5 mal häufiger wegen Vergewaltigung erfasst (2005). Auch bei Jugendgruppengewalt und bei Gewaltvorfällen an Berliner Schulen sind Personen nichtdeutscher Herkunft überrepräsentiert. "Sie sind allerdings auch weit häufiger Opfer elterlicher Gewalt und beobachten Gewalt in Paarbeziehungen häufiger als Jugendliche ohne Migrationshintergrund" (S. 23).
- Bei einer vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2004) herausgegebenen Studie gaben 40% der befragten rund 10.000 Frauen an, körperliche oder sexuelle Gewalt (oder beides) seit dem 16. Lebensjahr erlebt zu haben. Bei den Frauen osteuropäischer Herkunft waren es hingegen 44% und bei den Frauen türkischer Herkunft sogar 49%. "Bei der Feinanalyse nach Gewaltformen zeigte sich, dass vor allem türkische Migrantinnen mehr körperliche Gewalt seit dem 16. Lebensjahr erlebt haben (46% im Vergleich zu 37% bei den Frauen der Hauptuntersuchung) und osteuropäische Frauen mehr sexuelle Gewalt angegeben haben (17% vs. 13% bei Frauen der Hauptuntersuchung ...)" (S. 27). Türkische Frauen erlebten Gewalt vor allem in der Paarbeziehung (38% vs. 25%): "Sichtbar wurde auch, dass die türkischen Migrantinnen nicht nur häufiger von körperlicher Gewalt betroffen waren, sondern auch schwerere Formen und Ausprägungen von körperlicher Gewalt erlitten haben. So waren bezogen auf die erlebten Gewalthandlungen die Anteile der Betroffenen, die verprügelt, gewürgt, mit einer Waffe bedroht oder denen eine Ermordung angedroht wurde, bei den türkischen Migrantinnen jeweils fast doppelt so hoch wie bei den von körperlicher Gewalt betroffenen Frauen der Hauptuntersuchung" (S. 28).
- Bei der vorgenannten Befragung gab die Hälfte der 143 türkischen Frauen an, die mit einem türkischen Mann verheiratet waren, dass dieser von Verwandten ausgesucht worden war. Ein Viertel hatte ihren Partner vor der Heirat nicht kennen gelernt; ein knappes Fünftel hatte das Gefühl, zu dieser Ehe gezwungen zu werden. Recherchen der türkisch-deutschen Soziologin Necla Kelek (2006) ergaben, dass jede zweite türkische Ehe in Deutschland das Ergebnis einer Zwangsverheiratung sei: Die Ehefrauen oder -männer würden aus der Türkei "importiert"; viele Töchter würden auch zum künftigen Ehemann in die Türkei "exportiert". Hier zeige sich eine Welt, in der Frauen nicht die gleichen Rechte wie die Männer haben.
- Necla Kelek (2007) befasst sich in einem anderen Buch mit der Rolle türkischstämmiger Männer: mit Vätern, die als Patriarchen das Leben der Familie bestimmen, mit Söhnen, die sich vorschreiben lassen, wen sie zu heiraten haben, und mit Brüdern, die ihre Schwestern kontrollieren und bestrafen - bis hin zum "Ehrenmord". Hier beschreibt sie einen türkisch-muslimischen Erziehungsstil, der auf Ehre, Schande und Respekt, auf Gehorsam und Gewalt aufbaut.
Für Christine Henry-Huthmacher (2008) entsteht aus der skizzierten Lebenssituation von Migrant/innen eine Spirale der Gewalt: Kinder und Jugendliche erleben zu Hause eine archaische Moral, in der sich der Einzelne mit seinen Bedürfnissen einer vorgegebenen autoritären Ordnung unterwerfen muss, sowie Misshandlungen und schwere Züchtigungen, weil vormoderne Vorstellungen von Männlichkeit die Ausübung von Gewalt gegenüber Frau und Kindern rechtfertigen, weil sich erziehungsunfähige Eltern nicht anders durchsetzen können oder weil Jugendliche den nicht tolerierten westlichen Lebensstil übernehmen wollen. "Zu der erlernten patriarchal geprägten Geschlechtsrollenidentität, zum Schulversagen, der mangelnden Unterstützung durch die Eltern und der geringen Kenntnis der deutschen Sprache und des Herkunftslandes kommen häufig ein unzureichendes Rechtsbewusstsein, Selbststigmatisierung, Perspektivlosigkeit im Hinblick auf die Ausbildung und den Beruf und eine Orientierung an gewaltlegitimierenden Männlichkeitsnormen und -konzepten hinzu. Diese Risikofaktoren prägen das spätere Gewaltverhalten der Jugendlichen" (S. 185 f.).
Buchtitel wie "Abschied von Multikulti" (Luft 2006) und "Der Multikulti-Irrtum" (Ates 2007) verdeutlichen, dass aufgrund der skizzierter Erkenntnisse über Migranten (-familien) immer mehr Menschen die in den letzten Jahrzehnten vorherrschende Ideologie einer multikulturellen Gesellschaft hinterfragen, in der Menschen aus verschiedenen Ethnien friedlich zusammenleben und zum Gemeinwohl beitragen. Sowohl der Politikwissenschaftler Stefan Luft als auch die in Istanbul geborene Rechtsanwältin Seran Ates machen in ihren Büchern deutlich, dass die deutsche Ausländerpolitik gescheitert ist: Sie setzte auf die Bewahrung der kulturellen Identität der "Gastarbeiter" anstatt auf deren Integration. Das Ergebnis: Ein großer Teil der Migrant/innen wohnt heute abgesondert in "ethnischen Kolonien" - in ghettoähnlichen Stadtteilen und Straßenzügen, aus denen die meisten Deutschen fortgezogen sind. Sie leben in gegenüber der westlichen Kultur abgeschotteten Parallelgesellschaften, in denen intolerante, archaische Patriarchen z.B. über ihre Frauen wie über ein Eigentum verfügen und ihre Töchter gegen deren Willen verheiraten.
In diesen ethnischen Kolonien besuchen Migrantenkinder Kindertagesstätten und Schulen, in denen sie zunehmend die Mehrheit bilden - wie in dem von Margalith Kleijwegt beschriebenen Calvijn met Junior College. Hier kommt eine neue Bildungskatastrophe auf Deutschland zu: Die Schüler/innen sprechen nicht nur in ihrer Familie und in ihrem Stadtteil in ihrer Herkunftssprache, sondern zunehmend auch in Kindertageseinrichtung und Schule. Und damit wird immer mehr ein Scheitern in Schule und Gesellschaft vorprogrammiert. Das wird auch durch 7. Bericht zur Lage der Ausländer in Deutschland (2007) belegt, in dem es heißt: "Der Anteil der beruflich Unqualifizierten liegt bei den 20- bis 24- Jährigen mit Migrationshintergrund mit fast 54% wesentlich höher als bei den 25- bis 34-Jährigen (knapp 42%), während er in der Altersgruppe der 35- bis 64-Jährigen mit rund 44% praktisch dem Durchschnitt der Altersgruppe der 20- bis 64-Jährigen entspricht" (S. 69) - in den nachwachsenden Generationen bleiben also immer mehr Menschen ohne Berufsausbildung.
Zur Differenzierung von Migrantenmilieus
Allerdings leidet die Diskussion über die Lebenswelt und Familiensituation von Migrant/innen darunter, dass stark verallgemeinert wird: Es gibt auch zugewanderte Menschen, die sich in die deutsche Gesellschaft integriert haben, die sich der westlichen Kultur angepasst haben und die schulisch und beruflich erfolgreich sind. Tanja Merkle und Carsten Wippermann (2008) haben in einer qualitativen Sinus-Studie acht Migrantenmilieus unterschieden, in denen das individuelle Leben und die Familie ganz unterschiedlich gestaltet werden. Einen Überblick bietet nachstehende Tabelle:
Milieu |
Charakteristika |
Familie |
Erziehung |
Religiös-
verwurzeltes Milieu |
Traditionelle Werte, religiöser Dogmatismus; kulturelle Enklave, keine Integrations-
bereitschaft; meist aus Türkei |
Idealisierung der (Groß-) Familie, Aufopfern für die eigene Familie, hoher Wert des "guten Rufes"; in der Regel arrangierte Ehen, strenge Sexualmoral, kein Sex vor der Ehe |
strenge und autoritäre Erziehung, religiöse und moralische Gebote sehr wichtig; stark geschlechts-
spezifische Erziehung, insbesondere Söhne sollen eine gute Ausbildung bekommen; Jugendliche und Heranwachsende entziehen sich oft der Familie |
Traditionelles Gastarbeiter-
milieu |
Arbeitsmigranten, Rückkehr oft aber keine Option mehr; Streben nach bescheidenem Wohlstand; niedriges Integrationsniveau, aber Respektieren der deutschen Kultur; meist aus Südeuropa und Türkei |
Familie als Solidar- und Versorgungs-
gemeinschaft und als Ort der Harmonie und Geborgenheit, Abschottungs-
tendenzen; traditionelles Familienbild (Hierarchie, Nur-Hausfrau), aber emanzipatorische Impulse bei Frauen (notfalls Scheidung); hoher Anteil arrangierter Ehen, jedoch Bröckeln der strengen Sexualmoral |
Große Bedeutung von Sekundärtugenden; Betonung einer guten Ausbildung; autoritäre Erziehungsleitbilder der (in der Erziehung kaum aktiven) Väter versus warmherzige Erziehungspraxis der Mütter; weniger strenge geschlechtsspezi-
fische Erziehung (aber mehr Kontrolle bei Mädchen); Tolerierung einer freieren Einstellung zu Sexualität und Partnerschaft |
Statusorien-
tiertes Milieu |
Streben nach sozialem Aufstieg, großer Einsatz im Beruf; materielle Ersatzwerte, Streben nach Besitz; angepasst; meist aus Ex-Sowjetunion und Kurdistan |
Familie und Partnerschaft als Schonraum gegenüber hartem Berufsalltag; Ehe als Zugewinn-
gemeinschaft (Frau arbeitet), deshalb oft Unzufriedenheit bei Müttern, wenn sie die eigene berufliche Selbstverwirklichung zurückstellen sollen; Fokus auf Kernfamilie, soll vorzeigbar sein; in 2. Generation moderne Einstellungen zu vorehelichen Sexualkontakten und zur Partnerwahl |
Betonung von Bildung: Leistungsdruck, eventuell Nachhilfe; Erziehungsziele: Zielstrebigkeit, Denkvermögen, Selbstbewusstsein, gutes Auftreten, soft skills usw.; autoritativer Erziehungsstil; auch Vater beteiligt sich an Erziehung trotz tendenziell traditioneller Rollenteilung - wichtige Entscheidungen fällen aber beide Eltern; keine geschlechts-
spezifische Erziehung bis Pubertät |
Entwurzeltes Flüchtlings-
milieu |
Traumatisiert; materialistisch geprägt; keine Integrations-
perspektive; meist aus Ex-Jugoslawien |
Kleinfamilie als Notgemeinschaft, nostalgisches Ideal der Großfamilie; traditionelle Rollenleitbilder (bei Männern häufig chauvinistische Züge und Pascha-Allüren, dennoch oft stärkere Position der Frauen), Teilzeitjobs der Frauen; keine arrangierten Ehen, keine archaische Sexualmoral |
Betonung ethnischer und religiöser Werte und traditioneller Rollenleitbilder, Ablehnung deutscher Sitten und Gebräuche; strenge Erziehung, aber auch materielle Verwöhnung der Kinder; Erziehung weitgehend durch Mutter (Väter entziehen sich oft ihrer familiären Pflichten); feste Beziehungen auch vor der Ehe erlaubt |
Intellektuell-
kosmopoli-
tisches Milieu |
Hohe Bildung, intellektuelle Interessen, nach Selbstverwirk-
lichung strebend, weltoffen, emanzipiert; meist aus Ex-Sowjetunion und Türkei |
Gleichberechtigung, Selbständigkeit und große Freiheit der Ehepartner (beide berufstätig, mit eigenen Bekannten); partnerschaftliche Rollenteilung angestrebt - aber nicht immer erreicht; Mütter manchmal frustriert, wenn Vereinbarkeit von Familie und Beruf Probleme macht; Familienleben soll funktionieren, muss aber nicht immer harmonisch sein; moderne Sexualmoral; weil auch die Frau sich beruflich verwirklichen will, wird die Familiengründung oft hinausgeschoben oder auf Kinder verzichtet |
Betonung einer guten Bildung, vielseitige Förderung der Kinder, oft Überforderung; Kinder sollen aber auch glücklich sein und unbeschwert aufwachsen; moderne Erziehungsziele (Selbständigkeit, soziale Kompetenz, Gerechtigkeitssinn, Selbstbewusstsein, Mehrsprachigkeit); beide Eltern wollen erziehen - gelingt aber oft nicht; liebevolle (eher Laissez-faire) Erziehung; keine geschlechtsspe-
zifischen Unterschiede |
Adaptives Integrations-
milieu |
Pragmatisch, modern; Streben nach gesicherten Verhältnissen und sozialer Integration, bikulturelle Orientierung; meist aus Polen und Kurdistan oder Türken und Südeuropäer der 2. Generation |
Familie als Glücksgemeinschaft und Lebensmittelpunkt, intensives Familienleben; gleichberechtigte Partnerschaft, Mitwirkung des Mannes im Haushalt, erwerbstätige Frauen (Mütter zumeist halbtags); bei älteren Paaren arrangierte Ehen, bei jüngeren freie Partnerwahl |
Betonung einer guten Bildung, intensive Förderung der Kinder, eventuell zusätzlicher Unterricht; soziale Werte; liebevolle Erziehung, Kinder dürfen mitbestimmen; viel Zeit wird mit Kindern verbracht; Vater beteiligt sich an Erziehung; keine geschlechtsspe-
zifische Erziehung; voreheliche Beziehungen werden zunehmend akzeptiert |
Multikulturelles Performer-
milieu |
Leistungsorientiert, Streben nach Erfolg, Wunsch nach intensivem Leben, Werte-Patchwork; meist junge Menschen, insbesondere Polen oder Ex-Jugoslawen der 2. Generation |
Zumeist noch kinderlos (wollen in Partnerschaft zunächst das Leben genießen und erst später Familie gründen; oft Bindungsängste; Leitbild der autarken Persönlichkeit; Ausbildung und Karriere noch vorrangig; Sexualität wichtig; Erwartung einer partnerschaftlichen Aufgabenteilung) |
Zumeist noch kinderlos (Partner wollen gemeinsam erziehen, viel Zeit mit Kindern verbringen; wollen Kindern viel Freiraum lassen; legen viel Wert auf Bildung; Erziehungsziele: Selbstentfaltung, Leistungsbereitschaft, Ehrlichkeit) |
Hedonistisch-
subkulturelles Milieu |
Unangepasst, verweigert sich den Erwartungen der Gesellschaft; wenig Perspektive, will Spaß haben; meist junge Menschen, vor allem Kurden oder Türken und Südeuropäer der 2. Generation |
Zumeist noch ohne Ehepartner, oft bei Eltern wohnend (Ambivalenz gegenüber festen Beziehungen, häufiger Partnerwechsel, zugleich romantische Verklärung von Ehe und Familie; Frauen streben Emanzipation an, Männer schwanken zwischen traditionellen und modernen Rollenleitbildern) |
Zumeist noch kinderlos (unterschiedliche Erziehungsvor-
stellungen und Rollenleitbilder bei Männern und Frauen, oft noch unausgereift) |
Die in den vorausgegangenen Abschnitten dieses Artikels gemachten Aussagen treffen also vor allem auf das religiös-verwurzelte Milieu und auf das entwurzelte Flüchtlingsmilieu zu sowie mit Einschränkungen auf das traditionelle Gastarbeitermilieu und das hedonistisch-subkulturelle Milieu - nicht aber auf die vier anderen Migrantenmilieus. Leider konnten Tanja Merkle und Carsten Wippermann bei ihrer qualitativen Studie aufgrund der zu kleinen Stichprobe nicht angeben, wie sich die Migrant/innen prozentual auf die verschiedenen Milieus verteilen.
Konsequenzen für Pädagogik und Politik
Für uns Erzieherinnen und Erzieher sind vor allem die Kinder und Eltern aus dem religiös-verwurzelten Milieu, dem traditionellen Gastarbeitermilieu und dem entwurzelten Flüchtlingsmilieu eine besondere Herausforderung. "Schaut endlich hin!", heißt der Titel des Buches von Margalith Kleijwegt, und so sollten auch wir hinschauen, wie diese Kinder aufwachsen. Das verlangt häufige intensive Gespräche mit ihren Eltern - die aber nur selten oder gar nicht in unsere Kindertageseinrichtung kommen. Aber es gibt ja auch das Telefon! Noch besser wäre es, wenn wir die Familien zu Hause aufsuchen könnten. Aber das ginge natürlich nur, wenn wir dafür zusätzliche Verfügungszeit bekämen.
Allerdings ist es unwahrscheinlich, dass in der nahen Zukunft die Rahmenbedingungen für unsere pädagogische Arbeit verbessert werden. Die deutsche Bildungspolitik wird derzeit stark von den Interessen der Wirtschaft geprägt: Dieser kommt es vor allem darauf an, dass Migrantenkinder in Kindertageseinrichtungen so gut Deutsch lernen, dass sie das Schulsystem erfolgreich durchlaufen können und dann der Wirtschaft als qualifizierte Arbeitskräfte zur Verfügung stehen. Und so haben die Bildungspolitiker/innen Sprachtests und -förderprogramme eingeführt. Kinder und Jugendliche aus Migrantenfamilien, die nicht genügend Deutsch lernen bzw. auf der Schule versagen, werden derzeit noch von der Wirtschaft "abgeschrieben": Sie werden arbeitslos oder übernehmen wenig qualifizierte Jobs bzw. Aushilfstätigkeiten - oft in ihrer ethnischen Kolonie. Viele sind auf Dauer von Sozialleistungen abhängig. Die unter Sparzwängen stehende Jugendhilfe und Sozialarbeit können erst aktiv werden, wenn es zu massiven Auffälligkeiten wie Gewalttaten in der Familie oder kriminellen Handlungen kommt.
Aber wir dürfen hoffen: Während bisher in der Polizeilichen Kriminalstatistik nur zwischen Straftaten deutscher und nichtdeutscher Personen unterschieden wird, werden in absehbarer Zeit auch Straftaten von Deutschen mit Migrationshintergrund separat ausgewiesen werden (die meisten Migrant/innen haben ja inzwischen einen deutschen Pass). Dann muss die Politik endlich auf Familiengewalt und Kriminalität reagieren. Aber auch wenn Abkapselung, religiöser Fanatismus und politische Radikalisierung weiter zunehmen, wird der Druck auf die Politik steigen. Und schließlich ist abzusehen, dass die Wirtschaft aufgrund der Bevölkerungsentwicklung bald "verzweifelt" nach Auszubildenden und jungen Arbeitskräften suchen wird. Dann wird sie von der Bildungspolitik verlangen, alle Kinder - und damit auch alle Migrantenkinder - zu einem qualifizierten Schul- und Berufsabschluss zu führen.
Dann werden wir vermutlich bessere Rahmenbedingungen bekommen: kleinere Gruppen, um (Migranten-) Kinder intensiver fördern zu können, und mehr Verfügungszeit, um auch mit ihren Eltern arbeiten (und eventuell Hausbesuche machen) zu können. Vielleicht werden die Migrantenkinder auch über das gesamte Stadtgebiet verteilt, sodass sie sich nicht mehr in einzelnen Kindertageseinrichtungen (und Schulen) ballen. Und ihre Eltern werden so lange zu Sprachkursen geschickt, bis sie sich gut auf Deutsch verständigen können. Eventuell werden sogar Hausbesuchsprogramme wie HIPPY und Opstapje flächendeckend eingeführt werden, sodass Kleinkinder bereits sprachlich und kognitiv gefördert werden, bevor sie in unsere Kindertageseinrichtungen kommen.
Aber auch Schule, Jugendhilfe und Gesellschaft müssen sich ändern, wie Christine Henry-Huthmacher (2008) verdeutlicht: "Um die Spirale der Gewalt zu durchbrechen, muss vor allem in den Hauptschulen mehr Gewaltprävention betrieben werden. Wichtig sind Sprachförderung und der Ausbau von Ganztagsschulen sowie Freizeiteinrichtungen mit einem speziellen Angebot für die Jugendlichen. Denn die Jugendlichen haben das Problem, dass sie in viele Diskos nicht hineingelassen werden. Da staut sich dann ein großes Potenzial an Frustration bei ihnen an. Aber das allein reicht nicht aus. Es bedarf auch einer Kooperation und Vernetzung von Jugendhilfe, Schule und Polizei. ... Das Vorleben von friedlicher Konfliktlösung kann Jugendlichen Anreiz zur Nachahmung geben. Zu dem notwendigen Klimawandel gehört allerdings auch eine Haltung der sozialen Anteilnahme ...: Nur eine Kultur des Hinsehens, Zivilcourage, kann dazu beitragen, Gewalt zu verhindern" (S. 187 f.). Die Politik muss endlich handeln anstatt nur hinzuschauen!
Literatur
Ates, S.: Der Multikulti-Irrtum. Wie wir in Deutschland besser zusammenleben können. Berlin: Ullstein 2007
Baier, D./Pfeiffer, C.: Gewalttätigkeit bei deutschen und nichtdeutschen Jugendlichen. Befunde der Schülerbefragung 2005 und Folgerungen für die Prävention. Hannover: Kriminologisches Forschungsinstitut Niedersachsen 2007
Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hg.): Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland. Eine repräsentative Untersuchung zu Gewalt gegen Frauen in Deutschland. Zusammenfassung zentraler Studienergebnisse. Berlin: Selbstverlag 2004
Henry-Huthmacher, C.: Zur Situation in Deutschland. In: Kleijwegt, M.: "Schaut endlich hin!" Wie Gewalt entsteht - Bericht aus der Welt junger Immigranten. Freiburg, Basel, Wien: Herder 2008, S. 179-189
Kelek, N.: Die fremde Braut. München: Goldmann 2006
Kelek, N.: Die verlorenen Söhne. München: Goldmann 2007
Kleijwegt, M.: "Schaut endlich hin!" Wie Gewalt entsteht - Bericht aus der Welt junger Immigranten. Freiburg, Basel, Wien: Herder 2008
Landeskommission Berlin gegen Gewalt: Gewalt von Jungen, männlichen Jugendlichen und jungen Männern mit Migrationshintergrund in Berlin. Berlin: Selbstverlag 2007
Luft, S.: Abschied von Multikulti. Wege aus der Integrationskrise. Gräfelfing: Resch, 2. Aufl. 2006
Merkle, T./Wippermann, C.: Eltern unter Druck. Selbstverständnisse, Befindlichkeiten und Bedürfnisse von Eltern in verschiedenen Lebenswelten. Stuttgart: Lucius & Lucius 2008
7. Bericht der Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration über die Lage der Ausländerinnen und Ausländer in Deutschland (Dezember 2007). http://www.bundesregierung.de/Content/DE/Publikation/IB/Anlagen/auslaenderbericht-7,property=publicationFile.pdf