Aus: impu!se 60/2008, S. 3-4
Karin Jurczyk
Weibliche Teilzeitarbeit ist nicht mehr der "Königsweg" zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf, und diese wird zu einem Thema zunehmend auch für Männer. Die Vereinbarkeit steht unter neuen Vorzeichen, denn nicht nur die Erwerbswelt, sondern auch die Familie selber hat sich geändert - und mit beiden zusammen die Lebensverhältnisse der Geschlechter.
Entgrenzung von Zeit, Raum und Geschlechterrollen
Es geht heute nicht mehr darum, zwei stabile und klar strukturierte Sphären, Erwerb und Familie, kompatibel zu machen, was - für Frauen - schon schwierig genug war. Aktuelle Studien zeigen, dass Phänomene der sog. Entgrenzung die bisherige Arbeitsteilung zwischen Beruf und Familie, Männern und Frauen ins Rutschen bringen. Entgrenzung umschreibt die zunehmende Brüchigkeit bis dahin sicherer (oder zumindest für sicher gehaltener) struktureller Ab- und Be-Grenzungen von Sphären der Gesellschaft und des persönlichen Lebens. Sie beleuchtet Aspekte des forcierten Wandels von westlichen Industrie- zu Wissens- und Dienstleistungsgesellschaften.
Besonders markant sind Entgrenzungen hinsichtlich Geschlechterrollen sowie der zeitlichen und räumlichen Organisation von Arbeiten und Leben, begleitet von einer Verdichtung der Erwerbsarbeit. Fast immer zeigen sich neben Optionssteigerungen und Flexibilitätsgewinnen auch Probleme der Orientierung und Neuordnung im alltäglichen Leben. Auch wenn beispielsweise die Erosion der sog. Normalfamilie und die vermehrte Frauenerwerbstätigkeit weitgehend positiv besetzt sind und flexible Arbeitszeiten sowie berufliche Mobilität neue Spielräume eröffnen, stellen sie sich doch als folgenreiche und vor allem als höchst zwiespältige Prozesse dar. Das neue Label der Work-Life-Balance beschönigt dabei eher die konkreten Herausforderungen an das Familienleben.
Vielmehr sehen wir, dass große Anstrengungen und Einfallsreichtum notwendig sind, um unter Entgrenzungsbedingungen eine gemeinsame familiale Lebensführung zu etablieren. Diese führen dazu, dass Familie oft in den Zeitlücken der Erwerbsarbeit gelebt werden muss. Zeitknappheit aufgrund langer Arbeitszeiten betrifft vor allem Paarhaushalte mit zwei vollzeiterwerbstätigen Eltern sowie die große Gruppe der Alleinerziehenden. Andersartige Zeitnöte entstehen durch die Flexibilisierung von Arbeitszeiten, die in Lage und Dauer stark variieren. Die Beschäftigten haben wenig Einfluss auf ihre Arbeitzeitpläne, ihre Arbeitseinsätze sind häufig kurzfristig, ent-rhytmisiert und wenig planbar. Dies führt zu einer Zerstückelung des familialen Alltags. Familienleben muss gleichsam "auf Knopfdruck" und verdichtet stattfinden, wenn gerade Zeit dafür ist. Ebenso führt die zunehmende projektförmige Arbeit zu Synchronisationsproblemen der verschiedenen Familienmitglieder.
Gemeinsame Zeit muss heutzutage oft erst gefunden, ja geplant werden. Die spezifische Zeitlogik familialer Fürsorgearbeit verträgt sich jedoch nur bedingt mit vorab eingeplanten Zeitpaketen. Zeitliche ist zudem von räumlicher Entgrenzung begleitet: die Zunahme erwerbsbedingter räumlicher Mobilität führt zu längeren Arbeitswegen, mehreren Arbeitsorten sowie Wochenend- und Fernpendeln. Die Belastungen aus dem Erwerbsbereich verknüpfen sich oft mit Entgrenzungen des Familienlebens, etwa durch das Leben in zwei Haushalten nach Trennung und Scheidung. Die "doppelte Entgrenzung" führt zu Zeit-, Energie- und Aufmerksamkeitskonkurrenzen, die eine aktive Beteiligung der einzelnen am Familienleben erschweren.
Familie als Herstellungsleistung
Ein gemeinsames Familienleben ergibt sich nicht mehr "von alleine", sondern wird immer mehr zu einer aktiven Herstellungsleistung aller Beteiligten. Stressreiche Arbeitsbedingungen können das Familienleben massiv einschränken, womit der "Eigensinn" von Familie, ein zentrales Qualitätsmerkmal von Familienleben, in Frage gestellt wird. Selbst bei finanziell gut ausgestatteten Doppelkarriereeltern zeigt sich, dass Geld gemeinsame Zeit in ihrer Qualitätsdimension eben nicht kompensieren kann. Familiale Kopräsenz, d.h. gemeinsame zeit-räumliche Anwesenheit der Familienmitglieder, wird zur knappen Ressource; sie muss auf innovative Weise neu gestaltet werden.
Verloren gehen auch die für persönliche Beziehungen und das Großziehen von Kindern so wichtigen beiläufigen Gelegenheiten zur vertiefenden Interaktion. Eltern sind häufig so erschöpft, dass sie kaum zum pragmatischen Vereinbarkeitsmanagement, noch weniger aber zur Herstellung von Gemeinsamkeit beitragen können. Selbstsorge wie Fürsorge werden oft an der Grenze der Belastbarkeit praktiziert, reduziert wird jedoch weniger die Zeit für Kinder als die für Partnerschaft und die eigene Regeneration. Gesundheitliche Folgen, aber auch Belastungen für die Partnerschaft sind nur eine Frage der Zeit.
Neu ist, dass auch Männer vermehrt Doppelbelastungen erfahren; sie wünschen sich selber mehr Zeit für die Familie. Anerkennt man, dass gemeinsame Zeit die Vorbedingung für ein Familienleben ist, verwundert es nicht, dass die meisten erwerbstätigen Männer und Frauen ihre bezahlten Wochenstunden senken wollen. Insgesamt finden sich deutliche Hinweise auf Wechselwirkungen zwischen Erwerbsarbeit und Familie. Die doppelte Entgrenzung wirkt - insbesondere für Frauen - teilweise auch positiv auf den Erwerbsbereich zurück. Ein gelingender Familienalltag und gelingende Balancen verstärken etwa die Erwerbsmotivation und das Engagement der Beschäftigten. Erfahren sich jedoch die Beschäftigen zu eingeschränkt bei der Abstimmung mit den Bedürfnisse der Familie, tragen sie diese Unzufriedenheit in die Arbeitswelt zurück.
Wenn Mütter und Väter nicht mehr in der Lage sind, für sich selbst, aber auch für andere hinreichend Sorge für das Wohlbefinden zu tragen, droht ohne sozial-, arbeits- und familienpolitische Unterstützungen langfristig eine "Reproduktionslücke" in Familien - mit Konsequenzen für Wirtschaft und Gesellschaft. Da Familie jedoch nach wie vor eine unverzichtbare Ressource für individuelles Wohlbefinden, wirtschaftliche Stabilität und gesellschaftlichen Zusammenhalt ist, sollte gegengesteuert werden - zumal kein Weg zurück geht in die Verhältnisse der 1960er Jahre geht.
Anmerkung
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