Hans-Christoph Vogel
Die Umwelt der Organisation war immer schon im Blick der Organisationslehre, doch in unterschiedlicher Form: Für Max Weber war es die gesellschaftliche Umwelt, vor allem die Zeit des gesellschaftlichen Aufbruchs zur Jahrhundertwende, die Tendenz zunehmender "Rationalität" der Gesellschaft, sichtbar in der Entstehung der großen Massenparteien, der zunehmenden Gesetzgebung in allen Lebensbereichen, insbesondere im Sozialen Bereich, in der Entwicklung einer Geldwirtschaft, in Ausbildungsordnungen, in der Entwicklung der Technik, des Verkehrswesens und Erziehungswesens, die ausschlaggebend waren für das sprunghafte Anwachsen der bürokratischen (Groß-) Verwaltung.
In der wohl bekanntesten Untersuchung zum gesellschaftlichen und kulturellen Kontext der Organisation, der Untersuchung über den Zusammenhang der "Protestantischen Ethik und dem Geist des Kapitalismus" zeigte Weber auf, welch enge Verknüpfungen zwischen der Ethik in Form der protestantischen Prädestinationslehre und dem kapitalistischen Denken in Gestalt eines "Bedenke, daß die Zeit Geld ist" gezogen werden können. Erst eine, sich auf der Grundlage dieser religiösen Haltung sich entwickelnden, "Kultur" der Erwerbstätigkeit, die ihren Zweck im Erwerb selbst sieht, eine Einstellung, die die Rolle der Tüchtigkeit im Beruf betonte, die den Beruf zur "Verpflichtung" machte, die die Auslese der "Wirtschaftssubjekte" und die Anpassung ihrer Lebensform an die sich abzeichnenden betrieblichen Strukturen zur Notwendigkeit erhob, konnte eine Betriebskultur heranwachsen lassen, die den kapitalistischen Gelderwerb ins Zentrum ihrer Bemühungen stellt und die sich dazu der "bürokratischen" Großorganisation bediente.
Und doch blieb die Weber'sche Abhandlung, wenigstens in Form einer Organisationslehre, in erster Linie eine "Herrschafts"-Lehre, die nach den Geltungsbedingungen einer akzeptierten Herrschaft fragte. Erst die sich für die "realen" Ausprägungen interessierende empirische Organisationsforschung, insbesondere in den Vereinigten Staaten, sucht nach "Kontingenzen" (Entsprechnungen) zwischen Umweltvariablen (wie etwa die "Komplexität" der Umwelt oder die "Schnelligkeit" von Veränderungen) und der "bürokratischen vs. un-bürokratischen" Struktur der Organisation.
Auch in der sich seit den 20'er Jahren entwickelnden allgemeinen Systemlehre, der "Kybernetik", nahm die Umwelt (das "äußere System") eine besondere Rolle ein: Sie wurde zur entscheidenden Variablen für die Gestalt der Prozesse und der Struktur des "inneren Systems". Organisationen galten als umwelt-offene Systeme, als Systeme, die mit ihrer Umwelt in engem Austausch begriffen sind.
System und Umwelt in systemtheoretischer Perspektive
Anders die Systemtheorie der "geschlossenen" Systeme, der Systeme, die befaßt sind mit der "autopoietischen" Erzeugung ihrer selbst, die nichts als sich selbst besitzen, um sich zu formieren bzw. am Leben zu erhalten. Ihre Grenze zur Umwelt ist die Bedingung ihres Existierens.
Die konsequente Grenzziehung verdankt sich der Zugrundelegung des Prinzips der "Autopoiese" (s. Maturana/Varela 1987): Die Elemente eines autonomen Systems schaffen im Prozeß ihres Relationierens (ihrer Operationen bzw. Interaktionen) ein Etwas, das sich von anderen "Organisationen" (z.B. die Operationen der Nervenzellen von den Operationen der Kommunikation oder die Organisation des einen sozialen Systems von der anderer sozialer Systeme) unterscheidet, und diese "eigen-artige" Organisation ist Voraussetzung für und bestimmt die Form des Relationierens der Elemente (S. 49 ff.).
Diese "operationale Geschlossenheit" besagt nicht, daß die Systeme in Isolation voneinander existieren. Im Gegenteil: Sie benötigen ihre Umwelt "wie der Fisch das Wasser" benötigt - wie die Kognition (Bewußtsein oder Psyche) die soziale Kommunikation benötigt, wie die Kommunikation auf die Psyche bzw. das kognitive System angewiesen ist. Die operationale Geschlossenheit läßt informationelle Störungen oder "strukturelle Kopplungen" zu. Das meint, daß es in der aufeinander bezogenen Interaktion autonomer Systeme zu Mustern der Interaktion kommen kann. Man kennt sich, weiß, wie man miteinander umzugehen hat, verwendet bestimmte Unterscheidungen, gefällt sich in Ritualen. "Strukturell" bedeutet, daß die jeweils eigenen "Betriebssysteme" Formen entwickeln, die den Kontakt mit anderen Betriebssystemen erwartbar werden lassen.
Doch das System kann, will es sich nicht aufgeben, seine spezifische autopoietische "Organisation" nicht aufgeben, nicht aus sich heraustreten, nicht so interagieren wie die Umwelt - weil es dann aufhörte, es selbst zu sein -. Es vermag die Umwelt lediglich (oder gottlob) nur in seiner "Sprache" (Gedanken/ Kommunikation) aufnehmen. Die Kognition kann denken, der andere denke in bestimmter Weise, die Kommunikation so kommunizieren, wie sie Umwelt wahr-nimmt, aber nicht die Kommunikation des anderen Systems selbst in der gleichen Weise führen. Die Kommunikation kann auch die Kognition zu ihrem Thema machen, die Kognition umgekehrt über die Kommunikation nachdenken, aber jedes System verbleibt - legt man das Prinzip der Autopoiese zugrunde - "auf der eigenen Seite" und kann - noch einmal: gottlob - die Grenze nicht überspringen.
Die Umwelt "existiert" also nicht als ein reales Objekt in der Umwelt, sondern allein in Gestalt Konstruktion des jeweiligen Systems. Das System operiert immer nur auf der "Innenseite", kann nicht aus sich heraus auf die "Außenseite" (Umwelt) wechseln. Das System trennt sich mit der Unterscheidung von System und Umwelt von seiner Umwelt und kann nun mit dieser Zweiteilung experimentieren, beispielsweise Beobachtungen als Folgen systemeigener oder systemfremder Ursachen ausmachen (Baraldi u.a., 1997, 196 f.) ...und sich auf diese Weise beunruhigen oder beruhigen (bei interner Zurechnung bestehen eher Möglichkeiten der Einflußnahme als bei externer Zurechnung; andererseits bedeutet externe Zuschreibung Abwälzung von Schuld auf externe, nicht vertretbare Umstände).
Der "Markt" stellt beispielsweise die Umwelt eines Unternehmens dar. Dieses Unternehmen kann ihn in vielfältiger Weise beschreiben, ihn in sich abbilden (sich ein Bild machen), aber ihn nie "realisieren" bzw. erfassen oder kontrollieren. Das beobachtende Unternehmen beschreibt ihn in seiner Sprache, mit seinen Instrumenten. Und wenn es viele Unterscheidungen (Ansichten !) wählt, sieht es einen komplexen, vielschichtigen Markt, viele Möglichkeiten der Einflußnahme, viele Optionen.
Der Markt stellt zugleich ein System vieler real operierender Systeme dar, die ihre je eigenen Konstruktionen von System und Umwelt anfertigen. Wir unterscheiden also hier zwischen der Konstruktion eines Systems, das sich und seine Umwelt beschreibt und anderen Systemen in der Umwelt dieses beschreibenden Systems, die jeweils wiederum sich und ihre Umwelt beschreiben. Das beobachtende Unternehmen bzw. das jeweils beobachtende Unternehmen hat um sich herum, also in seiner Umgebung, viele andere Unternehmen. Die Marktentwürfe bleiben darum nicht ohne Folgen. Das unterscheidende System spürt die Konsequenzen seiner Entwürfe, etwa in Gestalt zunehmender oder nachlassender Aufträge.
Ein System hat zunächst immer sich im Auge, reagiert auf systeminterne Zustände. Es sucht zu überleben, indem es selektiert, indem es das Passende für sich selbst sucht. Die Umwelt stellt eine notwendige Störung dar, die sicherlich beachtet werden muß, will das System sich nicht gänzlich ausschließen, doch nur soweit, wie es dies als notwendig erachtet (insbesondere die "Bürokratie").
Die Unterscheidung als eine Unterscheidung mit zwei Seiten und einer Bezeichnung der einen Seite, also des eigenen "Systems" gegenüber einer externen "Umwelt", verdeckt für den so Beobachtenden, daß beide Seiten immer zusammengehören, daß sie einer Einheit entnommen sind, die nicht sichtbar werden kann, weil der Beobachter immer nur durch eine Differenz erkennen kann, also hier durch das Unterscheiden in System und Umwelt. Er kann nicht beides sehen. Es bedeutete ein (verschwommenes) Unentschieden, eine paradoxe Situation des Sowohl-Als-Auch.
Die Unterscheidung selbst kann allerdings zum Gegenstand der Beobachtung gemacht werden: Das System kann darüber nachdenken, wie es die Grenze zieht, was es ausschließt und einschließt und welche Konsequenzen dies hat (s. dazu: Inklusion vs. Exklusion). Wenn man in Anschluß an Spencer Brown (1979) die beiden Seiten einer Unterscheidung als "Form" bezeichnet, so kann man diesen Vorgang als Wiedereintritt der Form in die Form bezeichnen. Das System holt auf diese Weise zurück, was es zuvor trennte (der sog. "re-entry" - s. Luhmann, 1992, S. 83 f.), wenngleich diese Neuauflage einer vorherigen Unterscheidung nur auf der einen, ins Licht geholten (bezeichneten) Seite der Differenz geschehen kann. Auf diese Weise kann das Systems beispielsweise über seine Art der Teilung von System und Umwelt reflektieren (ebenso über alle möglichen Unterscheidungen, mit denen es sich oder die Umwelt beschreibt).
Die Reflexion über die Unterscheidung kann jedoch nicht mit dem Unterscheiden selbst zusammengehen. Die Operation des Unterscheidens bleibt ein blinder Vollzug. Das System unterscheidet in diesem Moment und sonst nichts! Erst danach, d.h. wenn diese Operation vollzogen ist, kann das System das eben Geschehene zum Gegenstand der Reflexion machen. Oder ein externer Beobachter, der "Beobachter 2. Ordnung", kann das Unterscheiden im Vollzug beobachten, und zwar nur mit Hilfe eigener Unterscheidungen, für die er selbst, im Vollzug des Beobachtens/Unterscheidens, wiederum blind ist.
Und wo bleibt der "Mensch"?
Der Mensch bleibt erhalten, wenn man ihn als Kategorie erhalten will. Er taucht in dieser Sprache allerdings in mehrfacher "Ausgabe" auf, als körperliches System, als kognitives System und als Lieferant des sozialen Systems. Ohne Körper keine Kognition, ohne Kognition keine Kommunikation. Der Körper körpert weiter, während die Kognition denkt, die Kognition denkt weiter, während die Kommunikation spricht (u.U. sogar über die Kognition oder den Körper) Wir haben es also mit einem "multi-processing-system" zu tun.
Literatur
Baraldi u.a., 1997
Luhmann, Niklas: Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1992
Maturana/ Varela, 1987
Spencer Brown, 1979
Weber, M.: Die protestantische Ehtik und der Geist des Kapitalismus, München 1965