Martin R. Textor: Kind, Familie, KindergartenMünchen: Don Bosco Verlag 1992 - Online-Buch

Inhalt

  1. Vorwort
  2. Positive Entwicklungsbedingungen in Familien
  3. Bedürfnisse von Kindern
  4. Bedeutung der Familie für die kindliche Entwicklung
  5. Ehepartner - Architekten der Familie
  6. Familienerziehung als Dialog
  7. Familienrealität
  8. Familien mit (Klein-)Kindern
  9. Familienerziehung: Charakteristika und Probleme
  10. Kindheit heute
  11. Konsequenzen für Kindertagesstätten
  12. Eltern und Erzieherinnen als Partner
  13. Der erste Übergang
  14. Familienergänzende Aufgaben von Kindertagesstätten
  15. Familienunterstützende Funktionen
  16. Vermittlung von Hilfsangeboten
  17. Nachwort
  18. Zitierte Literatur und Literaturempfehlungen

1 Vorwort

Die Familie ist für jeden von uns die wichtigste Lebensgemeinschaft. Sie bedeutet für uns Geborgenheit, Liebe, Wärme, Solidarität, Offenheit, Verständnis und wechselseitige Unterstützung, aber auch Konflikte, Ärger, Stress, Belastung und Hintanstellung unserer Bedürfnisse. Geht es uns in unserer Familie bzw. Partnerbeziehung gut, werden wir eher entspannt, freudig und geduldig mit unseren Kindern umgehen. Erleben wir hingegen zu Hause viele Auseinandersetzungen oder Krisen, sind wir durch die Versorgung kleiner Kinder oder pflegebedürftiger Eltern überlastet, gelingt es uns nicht, Beruf und Familie miteinander zu vereinbaren, so werden wir eher gereizt, verständnislos, unüberlegt und nicht der Situation angemessen reagieren.

Jeder von uns trägt in sich ein Bild von der eigenen Herkunftsfamilie, ein Idealbild von der Familie und - falls verheiratet - ein Bild von der eigenen Zeugungsfamilie. Wir tendieren dazu, unsere Familienverhältnisse und die Familien unserer Kinder an unserem Idealbild zu messen und dementsprechend positiv oder negativ zu bewerten. Diese Urteile werden oft vorbewusst gefällt. So bleibt unbeachtet, dass

  • unser Idealbild einzigartig ist und dasselbe für die Idealbilder anderer Menschen gilt,
  • wir dennoch unser Idealbild verabsolutieren und zum Maßstab zur Beurteilung unserer und anderer Familien machen,
  • unser Idealbild oft nicht der Realität mit ihrer Vielfalt von Familienformen entspricht.

Häufig nehmen wir aber auch unser Bild von der eigenen Herkunfts- oder Zeugungsfamilie als Maßstab. Dann wird ebenfalls leicht übersehen, dass "Familie" in verschiedenen Erscheinungsformen auftritt, die ihren Mitgliedern mehr oder minder positive Entwicklungsbedingungen bieten. So ist ein Ziel dieses Buches, kurz und stichwortartig über heutige Familienformen zu informieren, sodass wir daran unsere "Familienbilder" überprüfen können.

Für uns sind aber auch die Herkunftsfamilien unserer Kinder von Bedeutung. Sie sind das wichtigste Lebensfeld für Kleinkinder, prägen deren Entwicklung entscheidend, bestimmen deren Gefühlsleben, Denken und Handeln. Tagtäglich erleben wir im Umgang mit Kindern, dass die Familie letztlich das Zentrum ihrer Welt ist, dass wir fortwährend mit familialen Erziehungseinflüssen konfrontiert werden. In diesem Buches wollen wir der Frage nachgehen, wann Kinder positive Entwicklungsbedingungen in ihren Familien vorfinden. Dazu müssen wir die Bedürfnisse von Kleinkindern klären, auf die Bedeutung der Eltern als "Architekten der Familie" (Satir) eingehen und Kennzeichen einer guten Erziehung beschreiben. Jedoch dürfen wir nicht beim Idealfall verweilen, sondern müssen ihn mit der Realität kindlichen und familialen Lebens kontrastieren. Aus dem Vergleich wird deutlich werden, was mit der "familienergänzenden Funktion" von Kindertagesstätten gemeint ist.

Die Herkunftsfamilien unserer Kinder treten uns ferner in deren Familienmitgliedern gegenüber. In der Regel sehen wir täglich die Mütter beim Bringen oder Abholen ihrer Kinder. Oft kennen wir auch die Väter, vereinzelt Großeltern und Geschwister. Intensivere Kontakte ergeben sich im Rahmen der Elternarbeit, mit Vertretern des Elternbeirats oder aufgrund persönlicher Vorlieben (Sympathie). Wir können diese Kontakte positiv erleben (Eltern als Helfer bei Veranstaltungen, als nette Gesprächspartner), oder negativ (Eltern als Störenfriede, Kontrolleure oder Quellen ständiger Kritik). Immer aber müssen wir mit den Eltern leben, Wege der Zusammenarbeit suchen.

Jedoch werden wir uns in diesem Buch nicht mit Formen der Elternarbeit beschäftigen. Vielmehr kommt es uns darauf an, Unterschiede zwischen Familie und Kindertagesstätte herauszuarbeiten. Aus diesem Vergleich wollen wir zum einen die Notwendigkeit einer Partnerschaft von Eltern und Erziehern ableiten: Beide Seiten müssen einander ergänzen, bringen Unterschiedliches in ihre Beziehung ein. Zum anderen soll so deutlich werden, welche Problematik für Kinder mit dem Übergang von der Familie in die Kindertagesstätte verbunden ist.

In unseren Einrichtungen werden wir immer wieder mit den Problemen von Familien konfrontiert. Wir erfahren z.B. von finanziellen Belastungen, unbefriedigenden Wohnverhältnissen, einer kinderfeindlichen Umwelt, Trennung und Scheidung, Alleinerzieherschaft, Arbeitslosigkeit, Suchtproblemen, Überforderung berufstätiger Mütter, Unzufriedenheit von Hausfrauen und Erziehungsschwierigkeiten. Manches erfahren wir von den Kindern oder durch Beobachtung und stehen dann vor der Frage, ob wir die Eltern darauf ansprechen sollen. Oft gehen die Eltern aber auch direkt auf uns zu und berichten von ihren Problemen. Dann müssen wir für uns entscheiden, ob es genügt, einfach zuzuhören, oder ob wir beratend und vermittelnd eingreifen sollten. So werden wir in den letzten Kapiteln dieses Buches behandeln, wie Kindertagesstätten über die Erziehung und Bildung von Kindern hinaus familienunterstützend und -stabilisierend wirken können.

2 Positive Entwicklungsbedingungen in Familien

Die menschliche Entwicklung vollzieht sich in einem lebenslangen Prozess. Sie wird durch "innere" und "äußere" Faktoren beeinflusst. Zu den inneren Einflüssen gehören z.B. das Erbgut, das Temperament und physiologische Prozesse, aber auch die Ergebnisse der bisherigen Entwicklung wie Persönlichkeitseigenschaften, Einstellungen, Motive, Ängste, Selbstbild, Selbstwertgefühle, Wahrnehmungs- und Verhaltenstendenzen. Die äußeren Faktoren liegen in der Lebenswelt der jeweiligen Person, umfassen Einflüsse der natürlichen Umwelt, der Familie, Gleichaltrigengruppe und Kindertagesstätte, der Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur.

Innere und äußere Faktoren beeinflussen die menschliche (Persönlichkeits-)Entwicklung zumeist nur dann, wenn sie wahrgenommen und - bewusst oder unbewusst - kognitiv verarbeitet wurden. So ist Entwicklung nicht nur innere Reifung und äußere Prägung, sondern von Anfang an auch aktive Auseinandersetzung mit sich selbst und der Umwelt. Schon Kleinkinder sind handelnde Personen, die an sich selbst arbeiten und ihre Umgebung beeinflussen - wir sehen täglich diese Bemühungen, wenn Säuglinge bestimmte Reaktionen ihrer Betreuer hervorrufen wollen, Kleinkinder laufen lernen oder Schulkinder ein verwildertes Grundstück erforschen. Auch besitzen Kinder eine große Anpassungs- und Umstellungsfähigkeit.

Zudem hängt die Wirkung des Verhaltens anderer Personen von den Interpretationen der Kinder ab. So können diese zu denselben Schlussfolgerungen bei sehr verschiedenen Verhaltensweisen kommen oder dieselben Reaktionen unterschiedlich bewerten. Beispielsweise erleben wir immer wieder, wie sich ein Kind eine Ermahnung zu Herzen nimmt, sich selbst und sein Verhalten ändert, während ein anderes dieselben Worte nur gezwungenermaßen anhört und sich wenige Momente später wie zuvor verhält. Auch Selbstbild und Selbstwertgefühle einer Person hängen stark davon ab, wie sie die Reaktionen anderer Menschen interpretiert.

Die Entwicklung von Kindern vollzieht sich somit in einer komplexen Wechselwirkung zwischen Erbe, Umwelt und Individuum, zwischen Reifung, Prägung, Interpretieren, Interagieren, Handeln und Selbsterziehung. Sie ist tendenziell unabgeschlossen: Das weitere Leben eines Menschen wird nicht ein für alle Mal durch (früh-)kindliche Erfahrungen bestimmt. Ein negativer Einfluss - selbst wenn er in den allerersten Lebensjahren auftritt - muss zumeist über einen längeren Zeitraum, mit großer Stärke oder in Kombination mit anderen negativen Faktoren wirken, um Entwicklungsstörungen hervorzurufen. Besonders schädlich sind chronische Disharmonie in der Familie, Verlust eines Elternteils (durch Tod oder Scheidung), längerer Krankenhausaufenthalt eines Kleinkindes, psychische Störungen oder Isolation der Eltern (insbesondere der Mütter), Einkommenseinbußen (z.B. wegen Arbeitslosigkeit), Kriminalität eines Elternteils, das Leben in einer großen Familie bei sehr beengten Wohnverhältnissen sowie schlechte Beziehungen eines Kindes zu Gleichaltrigen.

Aber auch solche Risikofaktoren führen nicht automatisch zu einer negativen Weiterentwicklung: Viele Betroffene wachsen zu psychisch gesunden und mit ihrem Leben zufriedenen Erwachsenen heran. Sie haben sich entweder später aufgrund positiver Erfahrungen "erholt" oder sie sind nahezu "unverwundbar". So hat man festgestellt, dass Kinder in unterschiedlichem Maße "verletzlich" sind: Geschlecht, Alter, Erbanlagen, Persönlichkeitscharakteristika, Temperament und Umweltfaktoren spielen hier eine Rolle. Beispielsweise widerstehen Kinder negativen Einflüssen besser, wenn sie weiblichen Geschlechts sind, körperlich gesund sind, ein positives Selbstbild haben, ein hohes Maß an Selbständigkeit erreicht haben, überdurchschnittliche sprachliche Fertigkeiten besitzen, gute (Schul-)Leistungen erbringen, sich selbst helfen können, über eine größere Bandbreite von Verhaltensweisen verfügen und leicht positive Reaktionen Dritter hervorrufen. Besondere Bedeutung kommen auch einer intensiven Beziehung zu mindestens einem Elternteil (vor allem in der frühen Kindheit), der emotionalen Unterstützung durch Bezugspersonen und einem gut ausgebauten Freundeskreis zu. Generell verläuft die kindliche Entwicklung aber unproblematischer, wenn man die kindlichen Bedürfnisse angemessen berücksichtigt und positive Rahmenbedingungen schafft.

3 Bedürfnisse von Kindern

Besonders intensiv hat sich der amerikanische Psychologe Maslow (1954) mit der Untersuchung von Bedürfnissen beschäftigt. Er geht davon aus, dass es grundlegende und "höhere" Bedürfnisse gibt. Erstere sind in der Regel stärker und müssen zunächst (größtenteils) befriedigt werden, bevor Letztere auftreten und deren Platz einnehmen. So können wir nach Maslow von einer "Bedürfnishierarchie" ausgehen:

  • Bedürfnis nach Selbstverwirklichung
  • Bedürfnis nach Wertschätzung
  • Bedürfnisse nach Zugehörigkeit und Liebe
  • Sicherheitsbedürfnisse
  • physiologische Bedürfnisse

In unserer Gesellschaft werden die physiologischen Bedürfnisse von Kindern (Hunger, Durst usw.) in wohl allen Fällen befriedigt. Dies gilt aber schon nicht mehr für Bedürfnisse nach Sicherheit, Beständigkeit, Überschaubarkeit, Regelhaftigkeit und Angstfreiheit. So beobachtete der Erziehungswissenschaftler von Hentig (1976) Folgendes: "Die an unverarbeiteten Eindrücken reiche, an Halt, Begründung, verstandener und verantworteter Ordnung arme und vor allem unruhige, friedlose Welt hat ein Bedürfnis nach Verlässlichkeit in den Kindern aufkommen lassen, das alle anderen Bedürfnisse übertrifft" (S. 120 f.). Kinder benötigen feste Ordnungen, Regeln, Routine und Rituale – heute mehr denn je.

Auch die Bedürfnisse nach Zugehörigkeit und Liebe bleiben heute oft unbefriedigt. Viele Kinder sind materiell überversorgt und emotional vernachlässigt. Sie fühlen sich nicht geboren, erfahren nur wenig Zuneigung und Wärme. Die Befriedigung der Bedürfnisse nach Zugehörigkeit und Liebe ist eine wichtige Voraussetzung für die Entwicklung von (Selbst-)Vertrauen und einer optimistischen Grundeinstellung zum Leben. Dann können Kinder den Mut aufbringen, unsere Welt aktiv zu erforschen und das Wagnis enger Beziehungen einzugehen. Sie wollen nicht nur Liebe empfangen, sondern auch Liebe geben.

Sind die vorgenannten Bedürfnisse ausreichend befriedigt, tritt das Bedürfnis nach Wertschätzung immer stärker hervor: Kinder wollen von anderen (auch Erwachsenen!) geachtet und respektiert werden, streben nach Anerkennung, Erfolg und einem hohen Status in der Gruppe. Dieses Bedürfnis ist aber auch nach innen gerichtet, auf positive Selbstwertgefühle und ein positives Selbstkonzept bezogen. Kinder, die sich durch andere bestätigt und geschätzt erleben sowie sich selbst für wertvoll, gut und erfolgreich halten, entwickeln oft mehr Kompetenzen und sind produktiver als andere.

Das Streben nach Selbstverwirklichung tritt in der kindlichen Entwicklung als letztes Bedürfnis zutage und wird vielfach erst in der Jugend oder im frühen Erwachsenenalter richtig bedeutsam. Menschen wollen ihre Fähigkeiten und Begabungen entfalten, ihre Möglichkeiten realisieren. Selbstverwirklichung kann auf vielen verschiedenen Wegen erreicht werden und ganz unterschiedliche Formen annehmen: Manche finden sie im Beruf oder in der Familie, andere in der Wissenschaft, in künstlerischen Betätigungen, im Sport oder im Dienst am Nächsten. Können sich Menschen nicht entfalten, so fühlen sie sich unzufrieden, ruhelos und frustriert. Aber schon dem Streben von Kindern nach Selbstverwirklichung wird viel Widerstand entgegengesetzt: Sie werden in ihrem Bewegungsraum eingeschränkt, leben nach Zeitplänen, müssen sich anpassen, haben nur wenig Gelegenheit zur Eigentätigkeit und werden belehrt anstatt selbständig lernen, forschen und experimentieren zu können.

Neben der skizzierten Bedürfnishierarchie gibt es nach Maslow noch eine Zweite, die aus dem Bedürfnis zu wissen und dem Bedürfnis zu verstehen besteht. Wir alle können immer wieder beobachten, wie neugierig Kinder sind, dass sie sich für die unterschiedlichsten Dinge interessieren, dass sie scheinbar endlos Fragen stellen können. Und wir erleben, dass die Befriedigung des grundlegenden Bedürfnisses zu wissen nicht zugleich auch zur Befriedigung des Bedürfnisses zu verstehen führt: Oft geben sich Kinder zunächst mit unseren Antworten zufrieden und streben erst später danach, sie auch wirklich zu begreifen.

Um die Entstehung eines Missverständnisses zu verhindern, muss an dieser Stelle darauf hingewiesen werden, dass es natürlich nicht möglich ist, alle Bedürfnisse von Kindern zu befriedigen. Ein gewisses Maß an Frustration ist nicht zu vermeiden - und ist auch für eine positive Entwicklung notwendig: Kinder wachsen an Schwierigkeiten und Belastungen, entwickeln neue Fertigkeiten und Kompetenzen in der Auseinandersetzung mit Problemen und widrigen Lebensumständen, gewinnen Selbstvertrauen aus der Meisterung von Herausforderungen.

4 Bedeutung der Familie für die kindliche Entwicklung

Je jünger Kinder sind, umso mehr Bedürfnisse werden in ihren Herkunftsfamilien befriedigt. Kinder werden in die Abhängigkeit von ihren Eltern hineingeboren; sie können in den ersten Lebensjahren nicht ohne intensive Betreuung und liebevolle Erziehung überleben. Mit zunehmendem Alter werden jedoch immer mehr Bedürfnisse in Kindertagesstätten, Gleichaltrigengruppen, Schulen und anderen Kontexten befriedigt. Außerfamiliäre Einflüsse prägen immer stärker die kindliche Entwicklung. In diesem Abschnitt wollen wir nach der Bedeutung der Familie für die Entwicklung kleinerer Kinder fragen.

Zunächst sollten wir uns aber bewusst machen, dass es die Familie nicht gibt - und nie gegeben hat. Sozialhistorische und ethnologische Studien, aber auch soziologische Untersuchungen der Gegenwart, haben eine Vielzahl verschiedener Familienformen aufgezeigt. Diese bieten Kindern höchst unterschiedliche Entwicklungsbedingungen: Jedes Kind findet eine einzigartige familiale Umwelt vor, die durch ganz verschiedene Persönlichkeiten, Verhaltenstendenzen, Erwartungen, Regeln, Beziehungsqualitäten, Formen der Rollenausübung, Machtstrukturen, Erziehungsstile und Außenkontakte geprägt ist. In dieser Umwelt durchlebt es seine ganz individuelle Kindheit, wird seine Entwicklung auf einmalige Weise beeinflusst. Wir müssen uns immer wieder deutlich machen, dass alle Aussagen über Kinder und Familien nur grobe Verallgemeinerungen sind, die den Besonderheiten des Einzelfalles nicht gerecht werden können.

Die Familie beeinflusst alle Bereiche der kindlichen Entwicklung, und zwar mehr oder weniger stark, eher positiv oder eher negativ:

  • Die emotionale Entwicklung hängt davon ab, mit wie viel Betreuungspersonen ein kleines Kind konfrontiert wird (zu viele oder zu wenige kann sich negativ auswirken), von welcher Qualität die Beziehungen sind und inwieweit Kontinuität gewährleistet ist. Positiv ist beispielsweise, wenn sich Kinder in einem überschaubaren Beziehungsnetz geborgen, geliebt und geschätzt fühlen.
  • Die kognitive Entwicklung (einschließlich Wahrnehmung) wird mehr oder weniger stark beeinflusst - je nachdem, inwieweit das Interesse der Kinder an Gegenständen und Vorgängen geweckt wird, Fragen ermutigt und umfassend beantwortet werden, die Lernmotivation gefördert wird und Problemlösungsfertigkeiten vermittelt werden. Positiv wirkt sich z.B. aus, wenn Kindern eine stimulierende und abwechslungsreiche Umwelt bereitet und deren Erforschung angeregt wird, wenn mit ihnen über deren oder eigene Beobachtungen gesprochen wird oder wenn das selbsttätige Gewinnen von Erkenntnissen und Lösen von Problemen positiv verstärkt werden.
  • Die Sprachentwicklung hängt davon ab, wie viel Gelegenheit zur Interaktion den Kindern geboten wird, wie groß die Bandbreite möglicher Gesprächsthemen ist und von welcher Qualität die familiale Kommunikation ist. So wirkt sich z.B. positiv aus, wenn Aussagen der Kinder aufgegriffen und erweitert werden (sodass sie neue Begriffe lernen), wenn weitere Ausführungen oder Fragen ermutigt werden, wenn ihnen häufig Geschichten erzählt oder mit ihnen Wortspiele durchgeführt werden.
  • Die soziale Entwicklung wird dadurch beeinflusst, inwieweit Kinder soziale Fertigkeiten und den Umgang mit Konflikten in ihren Familien erlernen, wie sie an außerfamiliale Kontakte herangeführt werden, ob Geschwister vorhanden sind oder ob das Verhalten gegenüber Gleichaltrigen außerhalb der Familie gelernt werden muss.

Ferner bestimmt die Familie die Entwicklung von Motorik, Geschlechtsrollen, Werthaltungen, Religiösität, Selbstbild usw. mit.

5 Ehepartner - Architekten der Familie

Gesundheit ist kein Thema. Wenn wir uns körperlich und psychisch gesund fühlen, denken wir nicht weiter darüber nach. Über unsere Krankheiten und Probleme können wir hingegen stundenlang sprechen. Ähnlich geht es auch Psychologen und Erziehungswissenschaftlern: Sie erforschen nur selten, unter welchen Bedingungen sich Kinder zu psychisch gesunden, glücklichen und erfolgreichen Erwachsenen entwickeln. Hingegen haben sie Hunderte von Büchern und Artikeln über pathologische Entwicklungen und deren Behebung veröffentlicht. Dennoch können wir einige Aussagen über die familialen Rahmenbedingungen machen, die eine positive Entwicklung von Kindern gewährleisten. Zunächst müssen wir aber festhalten, dass es die positiven Lebensumstände genauso wenig wie den psychisch gesunden Menschen gibt: Familien mit den unterschiedlichsten Strukturen, Formen der Rollenausübung, Erziehungsstilen usw. bieten Kindern gute Entwicklungsbedingungen. Auch bedeuten positive Lebensumstände nicht, dass die Familie frei von Belastungen und Konflikten ist - entscheidend ist, wie sie mit diesen umgeht.

Die bekannte Psychotherapeutin Satir hat einmal die Ehepartner als "Architekten der Familie" bezeichnet: Von deren Persönlichkeit und Beziehung hängt entscheidend ab, ob ein Kind eher gute oder schlechte Entwicklungsbedingungen nach seiner Geburt vorfindet. Positiv wirkt sich aus, wenn die Eltern psychisch gesund sind - also reif, ausgeglichen, zufrieden, offen, spontan und selbstbewusst sind, über gute Wahrnehmungs-, kommunikative, Problem- und Konfliktlösungsfertigkeiten verfügen, rational denken, alle Emotionen zulassen können, sich selbst akzeptieren und Verantwortung für ihr (wertorientiertes) Leben übernommen haben.

Psychisch gesunde Eltern sind nicht nur positive Vorbilder für ihre Kinder, sondern können ihnen auch zugestehen, sich selbst zu entfalten und einzigartige Persönlichkeiten zu werden: Sie fühlen sich nicht durch deren Individuation und Ablösung bedroht, projizieren nicht innere Impulse in sie hinein, weisen ihnen nicht bestimmte Rollen zu. Da sie nicht mit ihren eigenen Problemen beschäftigt sind, haben sie eher Zeit für ihre Kinder und können ganzheitlich auf sie reagieren.

Seelische Gesundheit und emotionale Stabilität sind wichtige Vorbedingungen für die Entstehung einer guten und befriedigenden Ehebeziehung. Hier passen die Partner von ihrer Persönlichkeit, ihren Interessen und ihrem Verhalten her zusammen, lieben und unterstützen einander, akzeptieren die Individualität des anderen, betrachten einander als gleichberechtigt und gleich wertvoll, wachsen aneinander und miteinander. Sie haben ein rechtes Verhältnis zwischen Individuation und Privatheit auf der einen sowie Anpassung und Gemeinsamkeit auf der anderen Seite gefunden. Auch sind sie bereit, an ihrer Beziehung zu arbeiten. So schreibt z.B. der Eheberater Luban-Plozza (1982): "Schon früh muss einem Menschen erklärt werden, dass Ehe nicht allein Geborgenheit, Intimität, Beglückung und Ergänzung bedeutet, sondern dass sie auch Einsatz und stetes Bemühen erfordert. Eine Ehe aufzubauen kostet sorgsame Überlegung, Selbstprüfung, Durchhalten und die Bereitschaft zu stetem Neuüberdenken und Neuformulieren des Ziels. Und vor allen Dingen sollte schon früh vermittelt werden, dass nicht allein die individuelle Entwicklung und die berufliche Karriere Stehvermögen verlangen, sondern dass diese Eigenschaft auch für den Auf- und Ausbau einer Ehe erforderlich ist" (S. 257).

Eine gute Ehebeziehung lässt sich in Anlehnung an den Philosophen Buber (1954) als "Dialog" charakterisieren. Der eine Partner behandelt den anderen nicht als ein "Es", tritt ihm nicht im Grundverhältnis des Erfahrens und Gebrauchens entgegen, benutzt und unterdrückt ihn nicht. Vielmehr lebt er mit ihm in einer Ich-Du-Beziehung. In ihr begegnen sich die Partner in der Ganzheit ihres Wesens, ihrer Person. Sie werden sich der Abgelöstheit vom anderen und der Verbundenheit mit ihm in einem inne - das heißt, im Prozess der "Urdistanzierung" rücken sie als "Ich" voneinander ab, in der Bewegung des "In-Beziehung-tretens" stellen sie den Dialog her. "Das du tritt mir gegenüber. Aber ich trete in die unmittelbare Beziehung zu ihm. So ist die Beziehung Erwähltwerden und Erwählen, Passion und Aktion in einem" (Buber 1954, S. 78). Es findet ein wechselseitiges Geben und Nehmen statt. Das Anders-Sein des Partners und sein Eigenrecht werden akzeptiert.

Ist die Ehe gut, finden Kinder Sicherheit und Geborgenheit in ihrer Familie. Sie können das für das aktive Erforschen ihrer Umwelt notwendige Vertrauen entwickeln. Da die Ehegatten einander genügen, benötigen sie nicht ihre Kinder als Ersatzpartner, Verbündete, Schiedsrichter usw. oder zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse. Die Kinder werden nicht vereinnahmt, ihre Individuation und Ablösung nicht behindert. Eine dialoghafte Ehe dient ihnen aber auch als Modell für die Gestaltung eigener Beziehungen. Sie erkennen den Zusammenhang zwischen guter Kommunikation und Weiterentwicklung, zwischen Selbsterziehung und Beziehungsarbeit.

6 Familienerziehung als Dialog

Akzeptieren Eltern die Individualität und Einzigartigkeit ihres Partners und gehen sie mit ihm eine dialoghafte Beziehung ein, so ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass sie sich ihren Kindern gegenüber ähnlich verhalten werden. Das bedeutet vor allem, dass sie ihre Nachkommen nicht nach ihrem Bild prägen wollen. Maria Montessori (1971) warnt: "Fast genauso macht es der Mensch mit seinen Kindern: der Erwachsene trägt vor ihnen seine Vollkommenheit zur Schau, seine Reife, und tritt als lebendiges historisches Vorbild auf, zu dessen Nachahmung er das Kind auffordert. Er denkt um keinen Preis daran, dass die Eigentümlichkeiten des Kindes, die von seinen eigenen sich so sehr unterscheiden, es eben auch notwendig machen, ihm eine andere Umwelt zu geben, ihm Lebensverhältnisse zu schaffen, die der andersartigen Existenzform des Kindes angepasst sind" (S. 294). Vielmehr kommt es darauf an, den Selbstzweck und die Individualität der Kinder zu achten, sie in ihrer Ganzheit anzusprechen und mit ihnen in eine Ich-Du-Beziehung im Sinne Bubers einzutreten.

Das vorstehende Zitat aus einem Werk Montessoris macht aber auch deutlich, dass die Entwicklung und Selbstentfaltung von Kindern durch die Gestaltung ihrer Umwelt gefördert werden können. Erziehung bedeutet zu einem großen Teil "Auslese der wirkenden Welt" durch die Eltern. Sie erziehen einerseits durch die von ihnen gelebten Werte, ihre Weltanschauung, ihr kommunikatives Verhalten, ihre Gespräche über Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur. Andererseits erziehen sie dadurch, mit welchen Menschen sie ihre Kinder in Kontakt bringen, welche außerfamilialen Aufenthaltsorte und Aktivitäten sie für sie auswählen, welche Fernsehprogramme und Bücher sie empfehlen.

Positive Entwicklungsbedingungen für Kinder werden also nicht dadurch geschaffen, dass die Eltern sich ein umfangreiches pädagogisches Grundwissen aneignen und gezielt Spezialtechniken anwenden. Die intentionale Erziehung spielt eine weitaus geringere Rolle als das Vorbild der elterlichen Persönlichkeiten, das Modell der Ehebeziehung und die Gestaltung des Lebensraumes. Wichtig ist aber auch, dass Eltern einen zwischen "Führen oder Wachsenlassen" (Litt) liegenden Erziehungsstil praktizieren, klare Autoritätsstrukturen schaffen, angemessene Grenzen setzen und den Kindern mit zunehmendem Alter immer mehr Freiräume, Verantwortung, Selbständigkeit und Mitbestimmungsrechte zugestehen. Die Gegenwart der Kinder darf nicht einer bestimmten angezielten Zukunft geopfert werden. Die Eltern sollten sich genügend Zeit für sie nehmen. Wenn sie ihnen Aufgaben im Haushalt und Garten übertragen, entlasten sie sich nicht nur selbst, sondern bieten ihren Kindern die Möglichkeit zur Entwicklung bestimmter Fertigkeiten.

7 Familienrealität

Im ersten Teil unseres Buches haben wir familiale Lebensumstände skizziert, unter denen in der Regel kindliche Bedürfnisse befriedigt werden und sich Kinder zu psychisch gesunden Erwachenen entwickeln. Offensichtlich ist, dass nur wenige Kinder derartig ideale Entwicklungsbedingungen in ihren Familien vorfinden. Viele wachsen in einer Familiensituation auf, die pathogen wirken kann bzw. wirkt. So leiden beispielsweise ihre Eltern unter psychischen Störungen oder Suchtkrankheiten. Sie sind egozentrisch, konzentrieren sich auf ihre Probleme, leben in der Vergangenheit oder Zukunft und sind somit für ihre Kinder weniger ansprechbar. Sie gehen weniger auf sie ein und tendieren dazu, sie mit ihren Schwierigkeiten und Depressionen zu belasten. Ihre Stimmung - gekennzeichnet durch Emotionen wie Niedergeschlagenheit, Ängste, Schuldgefühle, Gereiztheit oder Aggressivität - wirkt sich auf die Gefühlslage ihrer Kinder aus. Da sie oft ein negatives Selbstbild besitzen, trauen sie auch ihren Kindern wenig zu. Diese Eltern sind schlechte Verhaltensmodelle, da sie z.B. Gedanken und Gefühle verdrängen, bestimmte Wahrnehmungen und Empfindungen aus ihrem Bewusstsein ausschließen, irrationalen Einstellungen folgen und mit vielen Problemen bzw. Konflikten nicht fertig werden.

Manche Eltern ignorieren ein gefälliges, normales Verhalten ihrer Kinder oder halten es für selbstverständlich. So entwickeln diese oft auffällige Verhaltensweisen, um die Aufmerksamkeit der Eltern auf sich zu lenken. Dann werden deren Reaktionen wie Ärger, Nörgeln, Beschwichtigen oder Verhätscheln als Zeichen von Anteilnahme gedeutet; sie wirken also als positive Verstärker und erhalten das gestörte Verhalten. Dieses wurde somit gelernt, weil die Aufmerksamkeit und andere gewünschte Reaktionen der Eltern nicht auf sozial akzeptable Weise erreicht werden konnten.

Die familialen Lebensumstände können ferner pathogen wirken, wenn Kommunikations- und Beziehungsstörungen vorliegen. Hier sind beispielsweise die Familienmitglieder unfähig, Gedanken und Gefühle eindeutig, genau, vollständig und verständlich auszudrücken, um Rückmeldung zu bitten oder diese zu geben. Sie senden oft inkongruente Botschaften, bei denen verbale Aussage, Gesichtsausdruck, Körperhaltung und Kontext nicht übereinstimmen. Auch sprechen sie füreinander, kommunizieren durch Dritte oder versuchen, Gedanken zu lesen. In diesen Fällen fühlen sich die Kinder unverstanden, wissen nicht, woran sie sind, und reagieren deshalb oft falsch.

Beziehungsstörungen liegen vor, wenn das Verhältnis zwischen Familienmitgliedern durch häufige bzw. ungelöste Konflikte, durch unterdrückte Spannungen oder Feindseligkeit gekennzeichnet ist, wenn die Mitglieder voneinander isoliert sind und kaum miteinander interagieren, wenn einzelne Personen ausgeschlossen werden oder wenn Symbiosen (überaus enge Beziehungen) entstanden sind. Oft werden Probleme internalisiert oder z.B. in Form von Alkoholmissbrauch, Delinquenz, Inzest und Kindesmisshandlung ausagiert. Die Eltern kommen ihren Erziehungsaufgaben nicht nach, behandeln ihre Kinder nicht altersgemäß, vernachlässigen, verwöhnen oder überbehüten sie. Oft überwachen sie das Verhalten ihrer Kinder zu wenig und können es nicht kontrollieren. In anderen Fällen lehnen sie diese ab, verhalten sich ihnen gegenüber feindselig und bestrafen sie häufig. Vielfach projizieren sie in ihre Kinder bestimmte Persönlichkeitsaspekte oder Triebimpulse, schreiben ihnen Rollen wie die des Sündenbocks, Verbündeten oder Ersatzpartners zu. In manchen Familien übernehmen schon Kleinkinder die Rolle des Symptomträgers, sodass sich die Eltern um sie kümmern müssen und von ihren Problemen abgelenkt werden.

Pathogen wirken oft geschlossene Familiensysteme, die sich nach außen hin stark abgrenzen und nicht in ihre soziale Umwelt integriert sind. In anderen Fällen sind ihre Grenzen zu schwach ausgeprägt, sodass sich Außenstehende fortwährend in das Familienleben einmischen, die Eltern entmachten oder gegeneinander ausspielen. Problematisch ist auch, wenn die Grenzen zwischen den einzelnen Subsystemen und Mitgliedern der Familie zu starr oder diffus sind. Im ersten Fall sind die Familienbeziehungen nur schwach ausgeprägt, mangelt es an dialogischer Kommunikation und gemeinsamen Aktivitäten, sind einzelne Mitglieder isoliert. Die Kinder fühlen sich oft ungeliebt, können sich mit ihren Eltern nicht identifizieren und bilden nur schwache Bindungen an sie aus. Auch kann die Familie in miteinander mehr oder minder verfeindeten Bündnisse zerfallen, wobei konstante Koalitionen und solche gegen ein Kind besonders problematisch sind. Im Falle diffuser Grenzen können Familienmitglieder miteinander verschmelzen, wobei vor allem Symbiosen zwischen einem Elternteil und einem Kind pathogen wirken. In manchen Fällen ist das familiale Äquilibrium (Gleichgewicht) zu starr oder zu instabil: Entweder können Beziehungsdefinitionen, Interaktionsmuster, Regeln usw. kaum geändert werden oder alles ist immer in Bewegung, sodass z.B. Kindern Orientierungsmaßstäbe fehlen. Es ist offensichtlich, dass alle die hier skizzierten Lebensumstände eine positive Entwicklung von Kindern behindern.

8 Familien mit (Klein-)Kindern

Wir wollen im zweiten Teil unseres Buches jedoch nicht ausführlich pathogene Familiensituation schildern, sondern ganz allgemein die Familienrealität beschreiben. Zunächst sollten wir uns deutlich machen, dass sich Familien in einem fortwährenden Wandlungsprozess befinden. In den letzten zwei, drei Jahrzehnten konnten wir z.B. folgende Entwicklungstendenzen beobachten:

  • Die gestiegene Lebenserwartung hat es mit sich gebracht, dass Elternschaft nur noch eine relativ kurze Phase im Familienzyklus ist und die Lebensentwürfe von Frauen nun mehr Rollen als die der Mutter einschließen. In den alten Bundesländern lebten 1989 nur noch in zwei Fünfteln aller Ehen Kinder unter 18 Jahren.
  • So ist bei Frauen eine höhere Berufsorientierung festzustellen, die aber auch mit ihrer besseren Schul- und Berufsausbildung zusammenhängt. Ihr Lebensalter zum Zeitpunkt der Eheschließung und Geburt des ersten Kindes ist angestiegen, da sie erst ihre Ausbildung abschließen und einige Jahre lang Berufserfahrungen sammeln. Immer mehr Frauen versuchen, Familie und Beruf miteinander zu vereinbaren.
  • Der Eheschließung wird zunehmend eine Phase des Zusammenlebens in nichtehelichen Lebensgemeinschaften vorgeschaltet. Erst bei Kinderwunsch oder eingetretener Schwangerschaft wird geheiratet, in manchen Fällen aber auch nach der Geburt des Kindes. Das führt zu einer zunehmenden Zahl nichtehelicher Geburten (1989: 10,2% aller Geburten in den alten Bundesländern), wobei viele Kinder nachträglich für ehelich erklärt werden.
  • Heute sind mit dem Kinderwunsch in erster Linie emotionale Motive verknüpft (z.B. Selbstverwirklichung durch Kinder, Vertiefung der Partnerschaft, Freude an Kindern). Deshalb spielen Kinder im Gefühlsleben der Eltern eine große Rolle. Diese sind bereit, sehr viel Zeit und Liebe in ihre Kinder zu investieren und die hohen finanziellen Kosten zu tragen, die durch die länger werdenden Schul- und Ausbildungszeiten mitbedingt werden.
  • Der Aufschub der generativen Phase mit Mitteln der Empfängnisverhütung führt zu späterer Mutterschaft (im Durchschnitt mit 28 Jahren). Es werden weniger Kinder als früher geboren: Ein Vergleich der Ehen, die zwischen 1958 und 1962 geschlossen wurden, mit denen, die zwischen 1973 und 1977 geschlossen wurden, zeigt, dass die Zahl der Ehen ohne Kinder von 13% auf 18% und mit einem Kind von 22% auf 27% zugenommen hat. Hingegen blieb die Anzahl der Ehen mit zwei Kindern etwa gleich groß (38%), während die Zahl der Ehen mit drei und mehr Kindern von 29% auf 17% sank. Derzeit werden im Durchschnitt 1,4 Kinder je Frau geboren.
  • Familien unterliegen heute weniger der Kontrolle des Verwandtschaftssystems. Obwohl Großmütter noch immer kleinere Kinder betreuen, fallen immer mehr aufgrund ihrer Berufstätigkeit oder des Wohnens an einem weiter entfernten Ort als Betreuer aus.
  • Die Geschlechtsrollen wandeln sich: Frauen bzw. Mütter übernehmen immer häufiger Berufsrollen. Väter engagieren sich stärker in der Erziehung ihrer (kleineren) Kinder, aber nur etwas mehr in der Haushaltsführung. Laut dem Wohlfahrtssurvey 1988 übernehmen sie in Familien mit Kindern nur rund 18% der Hausarbeit. Zugleich hat in Familien eine Umverteilung von Macht stattgefunden: Väter haben an Autorität eingebüßt, während Mütter und Kinder an Mitbestimmungsrechten gewonnen haben.
  • Generell ist bei Familien ein Funktionswandel festzustellen. Produktions- und Zeugungsfunktionen sowie die Vermittlung religiöser Werte spielen eine geringere Rolle; die Konsum-, Freizeit- und Erziehungsfunktionen haben an Bedeutung gewonnen.
  • Die Erwartungen an Familie, Ehebeziehung und Elternschaft sind höher geworden. Dies trägt möglicherweise zur Überforderung und Enttäuschung vieler Familienmitglieder bei, die sich u.a. auch in zerbrechenden Partnerschaften manifestieren können. So ist die Scheidungsrate in den letzten Jahrzehnten stark gestiegen; dieser Trend scheint sich jetzt aber nicht mehr fortzusetzen. 1989 wurden in den alten Bundesländern mehr als 126 000 Ehen geschieden; 93 000 Kinder waren davon betroffen.

Von den skizzierten Entwicklungstendenzen sind einzelne Familien mehr oder weniger stark betroffen. Das hat zum einen zur Folge, dass sich die heutigen Familien hinsichtlich ihres "Innenlebens" sehr stark voneinander unterscheiden. Beispielsweise kann ihre Machtstruktur auf der gesamten Bandbreite zwischen patriarchalisch über egalitär bis matriarchalisch liegen, mag den Kindern und ihrer Erziehung mehr oder weniger viel Bedeutung beigemessen werden, kann der Erziehungsstil zwischen autoritär und antiautoritär variieren, mag sich der Vater gar nicht oder stark an der Kinderbetreuung und Hausarbeit beteiligen. Zum anderen ist eine Vielzahl von Familienformen festzustellen: Nebeneinander bestehen Dreigenerationen-, Mehrkinder-, Einkind-, Teil-, Stief-, Adoptiv- und Pflegefamilien, nichteheliche Lebens- und Wohngemeinschaften, Familien mit oder ohne (voll-)erwerbstätigen Müttern. Während früher einige dieser Familienformen negativ bewertet wurden, sieht man in ihnen heute eigenständige Varianten mit spezifischen Strukturen und Bewältigungsmechanismen, die in ihrer Sozialisationskompetenz zumeist nicht defizitär sind. Entscheidend sind letztlich immer das Verhalten, die Persönlichkeit und der Erziehungsstil der Eltern sowie die Qualität der von ihnen gestalteten Beziehungen.

Einige der vorgenannten Punkte sollen nun noch etwas vertieft werden. Wir müssen uns z.B. bewusst machen, dass (Klein-)Kinder heute vielfach ohne Geschwister aufwachsen - jedes zweite Kind ist ein Einzelkind. Sie sind in hohem Maße auf ihre Eltern fixiert, da sie diese immer wieder als Spielkameraden oder Gesprächspartner benötigen. So verlangen sie von ihnen ein hohes Maß an Zeit und Energie. Auch besteht die Gefahr, dass zu enge Eltern-Kind-Beziehungen entstehen. Nicht immer ist es möglich, die mangelnden sozialen Erfahrungen mit Geschwistern über Beziehungen zu Gleichaltrigen zu kompensieren. So fehlen beispielsweise in städtischen Ballungsräumen oft Haushalte mit Kindern in der Nachbarschaft.

Kleinkinder fühlen sich häufig einsam und gelangweilt, wenn ihre Eltern keine Zeit für sie haben. Dies gilt vor allem für Kinder mit erwerbstätigen Müttern. In den alten Bundesländern sind bereits rund ein Drittel der Frauen mit Kindern unter drei Jahren sowie mehr als 40% der Frauen mit Kindern von drei bis unter sechs Jahren berufstätig. Sie sind häufig überlastet und gestresst, haben wenig Geduld mit ihren Kindern und haben ihnen gegenüber Schuldgefühle. Zugleich sind erwerbstätige Frauen jedoch zum Maßstab für Hausfrauen geworden, von denen mehr als ein Drittel laut Wohlfahrtssurvey 1988 den Wunsch nach einer Berufstätigkeit äußern. Sie fühlen sich oft durch die (Klein-)Kinder an das Haus gefesselt, sind einsam, unzufrieden, unausgefüllt und gelangweilt. Ihre negative Gestimmtheit mag ihr Verhalten gegenüber den Kindern beeinflussen. Manche Hausfrauen wollen aber auch "perfekte" Mütter sein, um auf diese Weise an Selbstwert zu gewinnen. Sie überfordern dann leicht ihre Kinder.

Ein Merkmal heutiger Kindheit ist die Labilität der Familienverhältnisse. Zum einen erleben (Klein-)Kinder hautnah die Konflikte ihrer Eltern mit, die sich früher eher hinter geschlossenen Türen abspielten. Auch wissen sie schon früh um Trennung und Scheidung. Zum anderen erleben sie häufig selbst, was das Auseinanderbrechen einer Familie bedeutet. Dann leiden sie unter Emotionen wie Schmerz, Trauer, Angst, Wut, Verwirrung oder Depressivität, machen sich selbst für die Trennung ihrer Eltern verantwortlich und benötigen oft mehrere Jahre, bis sie die Scheidung als endgültig ansehen.

Nicht nur aufgrund der hohen Scheidungsrate, sondern auch aufgrund der zunehmenden Tolerierung lediger Mutterschaft wachsen immer mehr (Klein-)Kinder in Teilfamilien auf. Diese sind materiell viel schlechter gestellt als vollständige Familien, obwohl schon bei Kindern unter drei Jahren 85% der allein erziehenden Väter und 59% der Mütter erwerbstätig sind; bei Kindern von drei bis unter sechs Jahren sind es 85% bzw. 67%. In den alten Bundesländern hatten 1988 beispielsweise 33,7% der Teilfamilien ein Nettoeinkommen von bis zu 1.800 DM (gegenüber 5,2% der vollständigen Familien) und 24,5% von 1.800 bis 2.500 DM (gegenüber 20,1%). Auf die kindliche Entwicklung kann sich das Fehlen eines zweiten Elternteils als Identifikationsfigur, Rollenmodell, Freund oder Korrektiv negativ auswirken, vor allem wenn keine ausgleichenden Beziehungen zu anderen Erwachsenen vorhanden sind. Oft werden Kinder vernachlässigt, aber auch überbehütet, verwöhnt oder in Symbiosen eingebunden. Sind Alleinerziehende aber psychisch gesund und mit ihrem Leben zufrieden, haben sie ein gutes Verhältnis zu ihren Kindern und stellen sie eine kontinuierliche und liebevolle Betreuung sicher, bieten sie ihnen positive Entwicklungsbedingungen.

Schließlich soll noch kurz auf Stieffamilien eingegangen werden, in denen bereits jedes zehnte Kind aufwächst. Hier werden die Familienmitglieder mit ambivalenten gesellschaftlichen Einstellungen konfrontiert (negative Assoziationen zu "Stiefmutter" und "Stiefvater"). Sie sind sich ihrer Beziehungen weniger sicher; besonders die Rollen des Stiefelternteils und sein Verhältnis zu den Kindern sind wenig normiert. Manche Stiefeltern wollen von Anfang an eine Elternrolle übernehmen und erwarten von den Kindern Zuneigung, Liebe und Gehorsam. Diese betrachten hingegen den außerhalb der Familie lebenden Elternteil als ihren Vater bzw. Mutter, wollen ihm gegenüber loyal sein und lehnen somit den Stiefelternteil ab. Oft verhalten sie sich auch auf solche Weise, weil sie die enge Beziehung zu dem anwesenden leiblichen Elternteil bedroht sehen, die sich in der Phase der Teilfamilie ausgebildet hat. In anderen Fällen wählen Stiefeltern hingegen Rollen wie die des Freundes/der Freundin oder des Onkels/der Tante, die von Kindern leichter akzeptiert werden. Probleme können auch aus unterschiedlichen Vorerfahrungen von Kindern und Stiefeltern, verschiedenen Normen und Erwartungen oder dem Konkurrenzverhältnis zwischen Stiefgeschwistern resultieren. Viele Kinder fühlen sich aber in Stieffamilien wohl und entwickeln sich normal.

9 Familienerziehung: Charakteristika und Probleme

Im Verlauf der letzten Jahrzehnte ist eine stärkere Emotionalisierung der Eltern-Kind-Beziehung festzustellen. Die Familie wird zunehmend kindzentriert: "Da die gegenwärtige Elterngeneration sich verstärkt darum bemüht, den Bedürfnissen und Interessen des Nachwuchses entgegenzukommen und möglichst kindgerechte Formen des Umgangs zu pflegen, wird die Erziehung aufwendiger und mühsamer und schränkt daher andere Betätigungsmöglichkeiten jenseits der Kindererziehung erheblich ein. Von dieser Entwicklung sind insbesondere die Mütter betroffen, die trotz des allmählich sich vollziehenden Einbezugs der Väter in die Erziehungsarbeit immer noch die Hauptlast der Erziehung tragen. Da aber gerade Frauen gegenwärtig dabei sind, ihren (beruflichen) Anspruch auf Autonomie und Selbständigkeit zu erkämpfen, liegt hier eine Quelle für erhebliche Frustrationen und Konfliktanlässe. Im Übrigen mindert die Konzentration auf das Kind den Eigenwert der Partnerbeziehung, für die auch immer weniger Zeit zur Verfügung steht" (Ferchhoff und Olk 1988, S. 20 f.).

Eltern widmen heute ihren Kindern viel Zeit und Energie. Damit sind aber oft auch recht hohe Erwartungen an die Kinder verbunden, die von Anfang an überdurchschnittliche Leistungen auf möglichst vielen Gebieten erbringen sollen. So werden sie häufig schon im Kleinkindalter überfordert: Die Eltern entwickeln für sie ein Lernprogramm, das die Entwicklung kognitiver, sozialer, motorischer, musischer und anderer Fertigkeiten umfasst und zur Nutzung der Angebote verschiedener Institutionen führt (z.B. Kinderballett, Schwimmkurs, musikalische Früherziehung). Da es sich bei den meisten Kindern heute um Wunschkinder handelt, erfahren sie auch viel Zuneigung, Liebe und Wärme. Manchmal kommt es jedoch zu Überbehütung und Verwöhnung.

Zunehmend sehen Eltern in der Kindererziehung eine Möglichkeit zur Selbstentfaltung und eigenen Weiterentwicklung. Damit ist vielfach die unbewusste Erwartung verbunden, dass die Kinder psychische Bedürfnisse wie der Wunsch nach Lebenssinn, nach Liebe oder nach Fortleben in dem eigenen Nachkommen befriedigen sollen. Die Eltern benötigen sie zur Lebenserfüllung. Diese unbewusste Motivationslage hat aber auch zur Folge, dass sich Eltern immer wieder fragen: "Was habe ich von meinen Kindern-" Werden sie in bestimmten Situationen als Hindernis auf dem Weg der Selbstentfaltung oder sofortigen Wunscherfüllung gesehen, dann werden sie oft ignoriert oder abgeschoben. Gerade Kleinkinder, die Eltern ihren Lebensrhythmus aufzuzwingen versuchen, werden dann leicht als Belastung erlebt.

Eine vergleichbare Situation entsteht, wenn Eltern beruflich überbelastet und gestresst sind. Nach ihrer Heimkehr von der Arbeit, nach Einkäufen und Hausarbeit haben sie nur noch wenig Energie und Lust zur Beschäftigung mit ihren Kindern - mögen aber z.B. am Wochenende ein ganz anderes Verhalten zeigen. So erleben manche Kinder einen fortwährenden Wechsel zwischen hoher Aufmerksamkeit und Verzärtelung auf der einen sowie Ignorieren und plötzlicher Bestrafung auf der anderen Seite. Vor allem kleinere Kinder werden durch das nicht voraussagbare, diskontinuierliche Verhalten ihrer Eltern verunsichert und reagieren manchmal mit Verhaltensauffälligkeiten.

In den letzten Jahren sind die Beziehungen zwischen Eltern und Kindern zunehmend partnerschaftlich geworden. Die Eltern beanspruchen weniger Autorität und Macht, setzen sich seltener mit Gewalt durch und begründen eher ihre Verhaltenserwartungen, Entscheidungen und Disziplinarmaßnahmen. Immer mehr Väter stellen die Überbetonung der Mutter-Kind-Beziehung in Frage und streben nach einem gleichwertigen Verhältnis zu ihren Kindern. Sie widmen sich Erziehungsfragen, spielen viel mit ihren Kindern und haben ein schlechtes Gewissen, wenn sie nicht genug Zeit für sie aufbringen.

Jedoch ist die Elternrolle für die meisten Väter weiterhin eine Nebenrolle. Die Beschäftigung mit den Kindern erfolgt in erster Linie in der Form der gemeinsamen Freizeitgestaltung. Mithilfe beim Füttern oder bei der Körperpflege, Versorgung bei Krankheit und Kontakte zu Erzieherinnen oder Lehrern sind hingegen selten. Väter verwenden täglich nur rund 20 Minuten auf die Kinderbetreuung - egal ob sie ein oder drei und mehr Kinder haben. Mütter investieren hingegen mehr als doppelt so viel Zeit (Krüsselberg, Auge und Hilzenbecher 1986). Bei kleineren Kindern wird selbstverständlich mehr Zeit für deren Betreuung benötigt (z.B. seitens der Mutter 189 Minuten bei einem Einzelkind unter drei Jahren bzw. 129 Minuten bei einem drei- bis sechsjährigen Kind). Je mehr Kinder in einer Familie leben, umso kürzer ist die Kontaktdauer zwischen dem einzelnen Kind und seinen Eltern.

Deutlich wird, dass sich Eltern oft rar machen als Erlebnis-, Spiel- und Gesprächspartner ihrer Kinder. Manche Erwachsene können ihre Kinder auch nicht altersgemäß beschäftigen oder nicht mehr richtig spielen - sie sind z.B. beim Spiel ziel-, erfolgs- und leistungsorientiert, können sich nicht entspannen und das Spielen als Muße genießen. Generell bevorzugen Mütter ruhige Aktivitäten mit ihren Kindern wie Lesen, Malen oder Spielen mit Spielsachen, während Väter geräuschvolle und lebhafte Beschäftigungen vorziehen. Im Kleinkindalter spielen Jungen eher mit Baumaterialien, Autos und Konstruktionsspielzeug, während Mädchen sich eher mit Puppen, Stofftieren oder Spielsachen zum Ziehen oder Schieben beschäftigen.

Hier werden schon Unterschiede zwischen den Geschlechtern ausgebildet. Jedoch ist die Familienerziehung heute weniger geschlechtsspezifisch als vor 20 oder 30 Jahren. In den ersten fünf Lebensjahren machen Eltern kaum Unterschiede in der Behandlung von Söhnen und Töchtern. Vor allem Mütter sind bereit, geschlechtsuntypisches Verhalten zu tolerieren. Allerdings fühlen sich Eltern wohler, wenn Kinder entsprechend den Geschlechtsrollen handeln.

Die meisten Eltern haben Recht differenzierte Alltagstheorien über Kindererziehung entwickelt. Sie denken häufig über Erziehung nach und haben sich ein großes Wissen angeeignet, z.B. durch das Lesen von Elternzeitschriften oder Erziehungsratgebern. So wissen sie um die Bedeutung der ersten Lebensjahre in der kindlichen Entwicklung und um die Wichtigkeit der Familienerziehung. Laut einer Untersuchung von Professor Dietrich (1985) ist ihnen bewusst, dass die Eltern-Kind-Beziehung das Fundament der Erziehung ist und dass dieses Verhältnis kameradschaftlich, liebevoll, warm, offen, verständnisvoll und harmonisch sein sollte. "Eltern sehen sich selbst, sehen ihre Persönlichkeit, ihre Gesinnungen, Eigenschaften und Verhaltensmuster als sehr zentralen Bedingungsfaktor des Erziehungserfolges an" (Dietrich 1985, S. 69). Die Bedeutung der Mutter wird in der Regel stärker gewichtet: Sie wird als wichtigste Bezugsperson des Kindes und als Haupterzieherin gesehen. Auch wird ihr eine größere Erziehungsfähigkeit und eine engere Beziehung zu den Kindern zugeschrieben als dem Vater. Dessen Einfluss wird entweder als geringer oder als qualitativ anders (mehr Autorität, kameradschaftlichere Beziehung) beschrieben.

Eltern wissen laut Dietrichs Studie um die Erziehungsbedürftigkeit und Erziehbarkeit von Kindern. Ihre Erziehungstheorie umfasst eine eigene Lerntheorie, bei der das Nachahmungslernen im Mittelpunkt steht, die aber mindestens noch eine weitere Lernform (kognitives Lernen, Konditionierung usw.) enthält. Es ist ihnen aber auch bewusst, dass Kinder nicht leicht prägbar sind: Sie werden als zwar beeinflussbare, aber auch eigenwillige Persönlichkeiten gesehen. Eltern haben über Erziehungsziele nachgedacht, die entweder eher unverbunden nebeneinander stehen oder hierarchisch angeordnet sind. Sie wollen ihre Kinder zu Selbständigkeit, Mündigkeit und Reife erziehen, ihnen die Selbstentfaltung und Individuation ermöglichen, ihre Lern- und Leistungsmotivation fördern und die bestmögliche Vorbereitung für den Lebens- und Berufserfolg bieten.

Eltern wissen um die Bedeutung gesunder Autorität und kennen die Charakteristika des anzustrebenden partnerschaftlichen Erziehungsstils. Auch verfügen sie über ein relativ großes Repertoire an Erziehungsmitteln, die zumindest auf theoretischer Ebene ihren Zielen entsprechen. Sie versuchen, vor allem über ihr Vorbild zu wirken, viel Verständnis für ihre Kinder zu zeigen, die Erziehung ausgewogen zu gestalten, bei Argumenten die Ruhe zu behalten und das Kind bei Problemen zu beraten. Obwohl Eltern lieber belobigen als strafen, bejahen 95% die Frage, ob man Kinder auch strafen soll (Dietrich 1985). Generell werden aber körperliche Züchtigung, Liebesentzug, Strenge und Härte, aber auch Verwöhnung, Überbehütung und Nachgiebigkeit abgelehnt.

Eltern vergleichen laut vorgenannter Untersuchung fortwährend den Ist-Zustand ihres Kindes mit dem Sollzustand (Erziehungszielen). Sie reflektieren dessen Verhalten, bewerten erfasste Eigenschaften und Handlungen, suchen nach deren Ursachen und befassen sich mit den Folgen. Dabei beachten sie immer die Individualität und Eigenart ihres Kindes und den Kontext. Fortwährend überprüfen sie ihr Erziehungsverhalten und passen es neuen Gegebenheiten an.

Manche Eltern sind aber auch hinsichtlich der Erziehung ihrer Kinder verunsichert. Sie wurden mit widersprüchlichen Konzepten und Ratschlägen konfrontiert (z.B. seitens der Medien) und konnten noch nicht zu einer eigenen Meinung finden. Da die meisten Eltern mit der Erziehungstradition ihrer Eltern gebrochen haben, können sie sich auch nicht mehr an der eigenen Erziehung orientieren. Zudem verschwinden Kleinkinder immer mehr aus der Erfahrungswelt Heranwachsender und junger Erwachsener. Es ist für diese nicht mehr selbstverständlich, mit kleineren Kindern umzugehen. So sind sie auf die Elternrolle unzureichend vorbereitet.

Bei einer Umfrage bei 155 Ehepaaren mit mindestens einem Kind im Alter von drei bis vier Jahren berichteten etwa 10% der Eltern, dass sie die Erziehung manchmal nicht im Griff haben, große Schwierigkeiten erleben oder unsicher sind (Stein 1983). In knapp 5% der Fälle bezeichneten sie sich selbst oder den Partner als schlechte Eltern; in mehr als 50% der Fälle waren Selbst- oder Partnerurteil positiv. Bei Dietrichs Studie (1985) bezeichneten 14% der befragten 144 Eltern die Erziehung als Belastung; für weitere 23% war sie zumindest zum Teil eine Belastung.

In manchen Fällen ist bei Eltern aber auch ein pädagogischer Machbarkeitswahn festzustellen. Sie wollen ein "perfektes" Kind haben, richten zu hohe Erwartungen an es, überfordern es und setzen es unter Druck. Seine Gegenwart wird im Namen der Zukunft übersehen. Einige Eltern wollen ihr Ziel unter Verwendung psychologischer Techniken erreichen, die eigentlich für die therapeutische Behandlung von Problemkindern entwickelt wurden. So möchten sie beispielsweise, dass das Kind tut, was sie wollen, und dabei glaubt, es wolle das selbst (Verhaltenstherapie). Oder sie suchen fortwährend nach Motiven hinter dem Verhalten des Kindes, unterwerfen es diesbezüglichen Interpretationen und versuchen, seine Beweggründe zu beeinflussen (Psychoanalyse). In all diesen Fällen ignorieren sie die Individualität und den Selbstzweck des Kindes.

Häufig werden Geschenke als Belohnung für gewünschtes Verhalten eingesetzt. Dabei geht nicht nur der Charakter des Schenkens verloren, sondern beim Kind bildet sich auch die Assoziationskette "richtiges Tun - werde geliebt - erhalte Geschenk als Zeichen der Liebe". So wird es zum Materialismus erzogen. Problematisch ist aber auch, wenn sein Verhalten durch die "Zufuhr" und den "Entzug" von Liebe gesteuert werden soll. Hier erfährt das Kind, dass es nicht um seiner selbst willen geliebt wird, sondern dass es Liebe "verdienen" muss. Zugleich übersehen seine Eltern, dass Liebe nur als ein bedingungsloses Geschenk auf Gegenliebe stoßen wird.

10 Kindheit heute

Die kindliche Entwicklung wird ferner durch Faktoren beeinflusst, die über die Familie vermittelt werden. So ist von Bedeutung, inwieweit Eltern kleineren Kindern außerfamiliale Erfahrungen ermöglichen, ob diese eher positiv oder eher negativ sind und wie umfassend oder vielseitig sie wirken. Den meisten Eltern ist heute bewusst, dass die kindliche Entwicklung bzw. Aspekte derselben in Kindertagesstätten, Spielgruppen, Musikschulen, Sportvereinen, Ballettschulen, Malkursen oder Schwimmvereinen gefördert werden. So werden immer mehr Kinder in derartigen Einrichtungen angemeldet, wobei natürlich auch andere Gründe eine Rolle spielen können (z.B. Notwendigkeit der Betreuung wegen beruflich bedingter Abwesenheit der Mutter). Dies hat für kleinere Kinder mehrere Folgen:

  • Sie wachsen zunehmend in Sonderumwelten auf, die speziell für Kinder geschaffen wurden. Somit werden sie aus den Zentren des Erwachsenenlebens wie der Arbeitswelt ausgegliedert, sodass viele Lebensvollzüge Erwachsener undurchschaubar sind und das Begreifen der Welt schwieriger geworden ist.
  • Kindheit spielt sich heute zu einem großen Teil in pädagogisch besetzten Räumen ab. In ihnen machen Kinder die Erfahrung einer nahezu durchgängigen Überwachung. Da sie in ihnen auf unterschiedliche Regeln, Erwartungen und Anforderungen treffen, müssen sie sich fortwährend umorientieren. Gelingt ihnen diese komplexe Anpassungsleistung nicht (z.B. bei gegensätzlichen Einflüssen), kann es leicht zur Entstehung von Verhaltensauffälligkeiten kommen.
  • Die kindliche Entwicklung wird zunehmend durch geplante Aktivitäten und Programme bestimmt. Für spontanes, kreatives und eigenwilliges Verhalten bleibt wenig Raum.
  • Wie bei Erwachsenen ist der Tagesablauf von Kindern vorgeplant und wird durch die Öffnungszeiten der Kindertagesstätten und Freizeiteinrichtungen, die terminlich gebundenen Angebote, die Medienzeit und die durch Erwerbstätigkeit und Hausarbeit begrenzten Spielzeiten mit den Eltern geprägt. Manchmal wird für Kinder bereits ein Terminkalender geführt. Oft erleben diese den Tagesablauf als zerstückelt und ihre Lebensräume als unzusammenhängend.

Deutlich wird, dass die Familie mit zunehmendem Alter von Vorschul- und Grundschulkindern an Bedeutung als Sozialisationsinstanz verliert. Die Eltern organisieren das außerfamiliale Programm, überwachen den Zeitplan ihrer Kinder und chauffieren sie zu Kindertagesstätten und anderen Einrichtungen.

Kleinere Kinder sind zunehmend auf außerfamiliale Institutionen angewiesen, um längerfristige Beziehungen zu Gleichaltrigen aufzubauen. Dies gilt nicht nur für Einzelkinder, sondern auch für solche, in deren Wohnquartier kaum Kinder leben (z.B. wegen überalterter Bevölkerungsstruktur) oder geeignete Treffpunkte fehlen (z.B. keine Spielplätze, Verkehrsgefährdung auf der Straße, keine Gärten), deren Familien sozial isoliert sind (z.B. mangelnde soziale Fertigkeiten der Eltern, Diskriminierung wegen Arbeitslosigkeit, Ausländerstatus usw.) oder deren Eltern Kinderbesuche in der Wohnung nicht zulassen.

Sowohl in der Stadt als auch auf dem Land entfallen aufgrund der zunehmenden Bebauung und Verkehrsgefährdung immer mehr Flächen, auf denen Kinder ungefährdet spielen, Kontakt zu Gleichaltrigen aufnehmen und die Natur erfahren können. Zugleich wird das Erlernen von Körperbeherrschung erschwert, wissen Kinder nicht mehr, was sie können, und bilden dementsprechend weniger Selbstsicherheit aus. Während sich früher Kinder ihre Umwelt durch Eigentätigkeit aneigneten, also z.B. mit denselben Werkstoffen wie Erwachsene spielten und Arbeitsvorgänge ihrer Eltern nachahmten, zeigt sich heute kindliche Aktivität vor allem im Konsum. Kinder sind von einem Überangebot an Spielsachen umgeben, die aber immer häufiger vorprogrammiert sind: Das Spiel beschränkt sich auf deren Bedienung. In Kindertagesstätten, Freizeiteinrichtungen und Vereinen konsumieren Kinder von Fachleuten entwickelte Spielprogramme.

Eine große Rolle spielt auch der Medienkonsum - der Sechsjährige, der durchschnittlich drei Stunden pro Tag vor dem Fernseher verbringt, ist schon längst keine Ausnahme mehr. Auch werden viele Kleinkinder durch das Einschalten des Fernsehgeräts "ruhig gestellt". Kinder, die viel fernsehen, haben weniger Gelegenheit, sich im Spiel oder durch andere Formen der Eigentätigkeit weiterzuentwickeln. Auch werden ihre Sprachfertigkeiten, ihre Kreativität und ihre sozialen Kompetenzen weniger gefördert. Zudem ist für kleinere Kinder wahr, was auf dem Bildschirm passiert. Dies prägt zum Teil ihre Sicht von der Welt und den Menschen. Ferner ist problematisch, dass Kinder mit Bildern von Gewalt, Krieg usw. überschüttet und damit oft verängstigt werden. Das Fernsehen zeigt fast ausschließlich negative Formen der Kommunikation, Beziehungsgestaltung und Konfliktbewältigung; die meisten Hauptpersonen in Filmen sind eher negative Verhaltensmodelle.

Abschließend soll noch darauf hingewiesen werden, dass Kindheit heute durch eine weitgehende Missachtung kindlicher Bedürfnisse durch die Gesellschaft gekennzeichnet ist - wenn auch eine ausgesprochene Kinderfeindlichkeit selten zu sein scheint. Zum einen sind viele Erwachsene nicht mehr an den Lärm, den Bewegungsdrang und die Neugier von Kindern gewöhnt, da Familien mit Kindern zur Minderheit geworden sind. Zum anderen werden die kindlichen Entwicklungsbedürfnisse trotz einer Vielzahl wissenschaftlicher Erkenntnisse bei der Raum- und Wohnungsplanung, im Bildungswesen und hinsichtlich der Vereinbarkeit von Arbeitsleben und Familie missachtet. Beispielsweise ist die städtische Umgebung anregungsarm und gefährlich, werden Kinderzimmer weiterhin zu klein gebaut, entzieht sich die Schule weitgehend ihrer erzieherischen Verantwortung, ist die Betreuung mancher Kinder berufstätiger Mütter nicht ausreichend gesichert. Der Familienlastenausgleich ist weiterhin unzureichend, sodass viele Kinder in materiell beschränkten Verhältnissen aufwachsen (z.B. in kinderreichen Familien, bei Arbeitslosigkeit des Vaters oder in Teilfamilien).

11 Konsequenzen für Kindertagesstätten

In den beiden ersten Teilen dieses Buches haben wir über die Bedürfnisse von Kindern und die Bedeutung der Familie für die kindliche Entwicklung nachgedacht. Es ist uns bewusst geworden, dass die Familie im Idealfall sehr positiv und im entgegengesetzten Fall pathogen wirken kann. Dazwischen liegt die Mehrzahl der Fälle, in denen positive und negative Faktoren in ganz unterschiedlichen Konstellationen und Mischungsverhältnissen in der familialen und weiteren Umwelt auftreten.

Es ist offensichtlich, dass vieles von dem bisher Gesagten auch für Kindertagesstätten gilt. Wir sind als Erziehende tagtäglich mit den Bedürfnissen der uns anvertrauten Kinder konfrontiert und sollen diesen positive Entwicklungsbedingungen bieten. Beispielsweise wird von uns erwartet, dass wir darauf achten, dass die Kinder das mitgebrachte Essen verzehren und kleinere in der Mittagszeit ruhen (Befriedigung physiologischer Bedürfnisse), dass sie sich in der Kindertagesstätte geborgen fühlen (Sicherheitsbedürfnisse), dass sie "pädagogische Liebe" erfahren (Bedürfnisse nach Zugehörigkeit und Liebe), sich in ihrem Selbstwert bestätigt erleben (Bedürfnis nach Wertschätzung) und sich selbst entfalten können (Bedürfnis nach Selbstverwirklichung). Ferner sollen wir die Neugier und den Wissensdrang unserer Kinder befriedigen, ihre emotionale, kognitive, motorische und soziale Entwicklung fördern, ihnen ein Vorbild sein und mit ihnen ein ganz besonderes Verhältnis ("pädagogischer Bezug", dialogische bzw. Ich-Du-Beziehung) eingehen.

Genauso wie Eltern gelingt es uns nur im Idealfall, einem (einzelnen) Kind hundertprozentig gerecht zu werden - je nach unseren erzieherischen Fähigkeiten und unserer Persönlichkeitsreife, je nach den ganz individuellen Charakteristika, Bedürfnissen und Lebensumständen unserer Kinder und je nach den Rahmenbedingungen (Räumlichkeiten, Gruppengröße, Kompetenz der für die Gruppe mitzuständigen Kollegin, Qualität des Erziehungskonzeptes der Einrichtung usw.) bieten wir jedem einzelnen Kind eine ganz bestimmte "Mischung" positiver und negativer Entwicklungsfaktoren (wir müssen uns also im Klaren sein, dass ein erzieherisches Verhalten, das z.B. für 90% unserer Kinder geeignet ist, für die übrigen 10% schädlich sein kann). Und genauso wie Eltern müssen wir uns mit den Charakteristika von Kindheit heute (Leben in verschiedenen Familienformen, Labilität der Familienverhältnisse, mangelnder Bewegungsraum, Konsumorientierung, Wirkung von Medien usw.) auseinander setzen.

Trotz dieser Ähnlichkeiten und Überschneidungen ist in Kindertagesstätten eine andere Situation gegeben als in Familien. Die wichtigsten Unterschiede sind:

  • Kindertagesstätten sind öffentliche Institutionen mit einem bestimmten Bildungs- und Erziehungsauftrag. Familien sind private Gruppen; die Eltern sind alleine für die Erziehung ihrer Kinder zuständig.
  • Kindertagesstätten werden nach bestimmten Richtlinien gebaut und ausgestattet. Die Wohnsituation von Familien und die Wohnumgebung können stark variieren.
  • Kindertagesstätten haben feste Öffnungszeiten. Auch in Familien gibt es bestimmte Zeitstrukturen, die jedoch nur einen Teil des Tages bzw. der Woche prägen und leichter durchbrochen werden können.
  • In Kindertagesstätten sind Erzieherinnen für eine große Gruppe von Kindern zuständig. Sie können dem einzelnen Kind nur einen Bruchteil ihrer Aufmerksamkeit, Zuneigung, Zeit und Energie widmen, betreuen es nur wenige Jahre. Eltern sind hingegen dauerhafte Bezugspersonen, die in der Regel nur ihre leiblichen Kinder erziehen. Sie gehen zu ihnen eine intensive, durch starke Emotionen geprägte Beziehung ein, deren Dauer nur durch den Tod begrenzt ist.
  • Das Personal von Kindertagesstätten ist für die Erziehertätigkeit ausgebildet worden. Eltern ist es überlassen, ob sie sich mit psychologischen Erkenntnissen, pädagogischen Theorien u. Ä. beschäftigen wollen oder nicht.stimmt. Die Kinder müssen sich mehr als in der Familie bestimmten Regeln unterwerfen; ihr Verhalten wird stärker kontrolliert. Familienerziehung erfolgt eher planlos und spontan. Sie entfaltet sich parallel zur Entwicklung der Kinder.
  • In Kindertagesstätten erfolgt Lernen zu einem großen Teil in von den Erzieherinnen vorbereiteten und strukturierten Situationen (Beschäftigungen, Bereitstellung bestimmter Materialien usw.). Die Kinder werden mit Leistungsanforderungen konfrontiert und vergleichen ihre Lernfortschritte mit denen gleichaltriger oder wenig älterer Kinder. In der Familie erfolgt Lernen eher zufällig in natürlichen Lebenssituationen. Insbesondere wenn Geschwister fehlen oder wesentlich älter bzw. jünger sind, fehlen Vergleichsmaßstäbe für den Lernerfolg.
  • In Kindertagesstätten sind Kinder mit einer großen Gruppe konfrontiert. Sie müssen sich integrieren und erfahren Anerkennung, Beachtung und Zuwendung durch die Gruppenmitglieder nur aufgrund eigener Bemühungen. In der Familie als Kleingruppe sind die Verhältnisse überschaubar. Das Kind steht zumeist im Mittelpunkt des Familienlebens; seine Individualität wird stärker geachtet.
  • Räume in Kindertagesstätten sind größer und kindgemäßer ausgestattet als die Zimmer einer Wohnung. Sie enthalten mehr Gegenstände (Spielsachen). Vor allem kleineren Kindern werden eine größere Orientierungsleistung und mehr Entscheidungen (z.B. Auswahl von Spielzeug oder Aktivitäten während des Freispiels) abverlangt als in der Familie. Oft sind sie viel Lärm ausgesetzt.

Deutlich wird, dass es - trotz mancher Ähnlichkeiten - große Unterschiede zwischen Kindertagesstätte und Familie gibt: Die eine Seite kann die andere nicht ersetzen. Für Kinder kann es belastend sein, wenn die Unterschiede hinsichtlich Normen, Werten, Erwartungen, Erziehungszielen, Beziehungsdefinitionen, Erziehungsstilen usw. sehr groß sind. Dann fühlen sie sich unsicher, verwirrt und orientierungslos, reagieren manchmal mit Verhaltensauffälligkeiten. Generell besitzen aber schon kleine Kinder die Fähigkeit, sich unterschiedlichen Verhältnissen anzupassen. Sie zeigen dann häufig in der Kindertagesstätte ein anderes Verhalten als daheim.

12 Eltern und Erzieherinnen als Partner

Da Familie und Kindertagesstätte die kindliche Entwicklung stark beeinflussen und da sich große Unterschiede zwischen ihnen (oder gar ein Gegeneinander) negativ auswirken können, sollten Eltern und Erzieherinnen partnerschaftlich zusammenarbeiten. Viel zu oft sind aber noch die Kontakte zwischen diesen beiden Welten von Kindern oberflächlich und unbedeutend. Wir wissen nur wenig über die Familiensituation der uns anvertrauten Kinder, kennen oft noch nicht einmal die Väter. Die Eltern sind nur ansatzweise darüber informiert, wie sich ihr Kind in der Kindertagesstätte verhält und nach welchen Konzepten es dort erzogen und gefördert wird. Beide Seiten wissen nicht, wie sie einander unterstützen können.

Die britischen Erziehungswissenschaftler Blatchford, Battle und Mays (1982) kommentieren: "Dies kann zu verpassten Chancen führen; es bedeutet, dass eine möglicherweise wertvolle Zusammenarbeit nicht zustande kommt - eine, die dem Kind zugute kommt, da es seinen Horizont erweitern könnte, indem es Aspekte der beiden Umwelten in Beziehung zueinander setzt, den Eltern, da sie Vertrauen entwickeln und Kenntnisse über das außerhäusliche Verhalten ihres Kindes erlangen, und dem Kindergartenpersonal, da es als wichtig erachtete Erfahrungen denjenigen mitteilen kann, die das Kind daheim betreuen" (S. 164). Gerade auch, wenn ein Kind verhaltensauffällig wird, ist die Wahrscheinlichkeit einer effektiven Hilfe größer, wenn es bereits zu einer Zusammenarbeit zwischen Eltern und Erzieherinnen kam. Dann sind erstere eher bereit, unsere Beobachtungen und Ratschläge zu akzeptieren, ohne sogleich in die Defensive zu gehen. Auch berichten die Eltern eher über Aspekte der Familiensituation, die vielleicht das veränderte Verhalten ihres Kindes mitverursacht haben.

Seitens der Eltern besteht ein großes Interesse an einer Öffnung der Kindertagesstätten. So befragte ich im Jahr 1991 mehr als 250 Kindergarteneltern in Passau nach ihren Erwartungen an die Elternarbeit. Ich legte ihnen eine Liste mit 26 möglichen Angeboten vor. Nachstehende Rangordnung enthält nur die Angebote, die von mehr als der Hälfte der Befragten gewünscht wurden:

  1. Informationen über die Gestaltung des Kindergartenalltags (92,6%)
  2. Ausstellungen guter Spiele und Bücher (88,8%)
  3. Information darüber, wie sich Erzieherinnen bei Problemen mit Kindern verhalten (88,0%)
  4. Elternbriefe/Kindergartenzeitung (82,9%)
  5. Beratung bei Erziehungsproblemen (72,5%)
  6. Möglichkeiten zum Ausleihen guter Bücher und Spiele (71,7%)
  7. Elternbildung (Information über Erziehungsfragen, Ernährung usw.) (71,7%)
  8. Vermittlung von Kinderbetreuung (z.B. während der Kindergartenferien oder bei Erkrankung der Mutter bzw. des Kindes) (65,5%)
  9. Gesprächskreise zu bestimmten Themen (z.B. kindliche Entwicklung, Erziehungsfragen, Alltagsprobleme, eigene Kindheitserfahrungen) (65,5%)
  10. Aufklärung über Ziele, Sinn und Zweck von Elternarbeit (62,8%)
  11. Familiengottesdienste (60,9%)
  12. Information über Hilfsangebote für Familien mit verhaltensauffälligen Kindern, Eheproblemen, pflegebedürftigen Mitgliedern usw. (60,5%)
  13. besondere Angebote für Alleinerziehende (57,8%)
  14. Möglichkeit für Eltern, auch einmal einen Tag in der Kindergruppe verbringen zu dürfen (57,4%)
  15. Spiel- und Bastelrunden für Eltern und Kinder (55,8%)
  16. Elternabende für alle Eltern der Kindergartenkinder (54,7%)
  17. Gruppenelternabende (51,6%).

Insbesondere wenn wir die an 1., 3., 4. und 14. Rangposition gestellten Angebote betrachten, wird deutlich, wie stark der Wunsch der Eltern nach einer Öffnung des Kindergartens ist. Ich vermute, dass der Wunsch von Erzieherinnen nach Informationen über die Familiensituation der Kinder nicht viel geringer ist. Würden sich beide Seiten öffnen, könnte eine dialogische Beziehung entstehen.

Natürlich ist eine Partnerschaft zwischen Eltern und Erzieherinnen erst möglich, wenn eine Reihe von Voraussetzungen gegeben sind: Beispielsweise müssen beide Seiten die Notwendigkeit einer Zusammenarbeit erkennen; sie müssen Zeit füreinander haben bzw. sich nehmen; sie müssen einander achten und Vertrauen ineinander entwickeln; die Vertraulichkeit bestimmter Gesprächsinhalte muss gewährleistet werden; destruktive Kritik oder verbale Attacken müssen ausgeschlossen sein. Wenn wir erkannt haben, dass die Kooperation nicht nur zum Wohle des Kindes ist, sondern auch Eltern und Erzieherinnen nutzt, werden wir versuchen, diese und ähnliche Voraussetzungen zu schaffen.

Auf eine Bedingung soll noch etwas ausführlicher eingegangen werden: Partnerschaft setzt voraus, dass beide Seiten einander als gleichberechtigt und gleichwertig betrachten. Einige Erzieherinnen glauben jedoch, sie seien Experten für Erziehungsfragen, die Eltern dagegen Laien. Dabei übersehen sie, dass auch Eltern über eine differenzierte Alltagserfahrung in Sachen Erziehung verfügen. So gelang es Professor Dietrich (1985), bei einer Befragung von knapp 300 bayerischen Eltern deren Erziehungstheorien zu erfassen - die wir an anderer Stelle bereits beschrieben haben. Er kommt zu folgendem Ergebnis: "Insgesamt aber führt die untersuchte Stichprobe alle relevanten Einzelbedingungen auf, die auch von den wissenschaftlichen Theorien als wesentliche Bedingungen des Erziehungsgeschehens und Erziehungserfolges thematisiert werden" (S. 24).

Wir können also davon ausgehen, dass Eltern wie Erzieherinnen einer mehr oder weniger differenzierten Erziehungstheorie folgen, bei der es sich allerdings eher um eine Alltagstheorie handelt. Auch müssen wir bedenken, dass sie "Spezialisten" in Sachen ihrer Kinder sind und oft andere Seiten von deren Persönlichkeit und Verhalten kennen als wir. So sollten wir sie als gleichwertige Gesprächspartner in Erziehungsfragen betrachten und ihre Kompetenz achten. Dann kann ein partnerschaftliches Verhältnis aufgebaut werden, von dem Kinder, Eltern und Erzieherinnen nur profitieren können.

13 Der erste Übergang

Die Entwicklung einer partnerschaftlichen Beziehung zwischen Eltern und Erzieherinnen kann schon vor Eintritt des Kindes in die Kindertagesstätte vorbereitet werden. Schon beim Aufnahmegespräch können wir uns "öffnen" und einen Präzedenzfall für eine vertrauensvolle, dialogische Beziehung schaffen. So ist es sinnvoll, wenn wir bei dieser Gelegenheit, aber auch beim Einführungselternabend oder bei Kontaktbesuchen, über die pädagogische Konzeption der Kindertagesstätte, den "normalen" Tagesablauf, die Elternarbeit und das eigene Erziehungsverhalten informieren. Wir können uns nach den Erziehungsvorstellungen der Eltern erkundigen und um erste Informationen über die Familiensituation des angemeldeten Kindes bitten. Ein positiver Nebeneffekt dieses Verhaltens ist, dass von Anfang an falsche oder unvollständige Vorstellungen über die Einrichtung (Kindergarten als "Bewahranstalt", Hort als "Hausaufgabenhilfe") ausgeräumt werden können.

Eine gründliche Vorbereitung des Übergangs von der Familie in die Kindertagesstätte ist aber auch zum Wohle des Kindes erforderlich, insbesondere wenn dieses zum ersten Mal in eine Einrichtung kommt. Schon die Aufzählung der Unterschiede zwischen Familie und Kindertagesstätte macht deutlich, dass hier eine große Anpassungsleistung verlangt wird. Das Kind verlässt den schützenden und vertrauten Raum der Familie, wird mit einer andersartigen Umgebung und noch unbekannten Regeln konfrontiert und muss einen neuen Tagesrhythmus erlernen. Es muss die Trennung von der Mutter verarbeiten, die Erzieherinnen mit vielen anderen Kindern teilen, neue Beziehungen knüpfen, sich in einer großen Gruppe zurechtfinden, in ihr um Beachtung, Anerkennung und Status kämpfen, einen hohen Lärmpegel ertragen und eigene Bedürfnisse vermehrt zurückstellen. Es ist nicht verwunderlich, dass viele Kinder auf diese Anforderungen mit Trennungsängsten, Unsicherheit, extrem zurückhaltendem Verhalten, übersteigerter Aggressivität oder anderen Verhaltensauffälligkeiten reagieren.

Der erste Übergang ist aber auch für Erzieherinnen und Eltern eine schwierige Situation. Wir fühlen uns oft durch die große Zahl weinender, Schutz suchender, isolierter oder aggressiver Kinder überfordert. Auch müssen wir die Neulinge, deren Eigenschaften und Charakteristika erst kennen lernen, ihnen gegenüber angemessene Verhaltensmuster entwickeln sowie Gefühle von Sympathie und Antipathie verarbeiten. Für die Eltern ist es oft schwierig, ihr Kind zum ersten Mal auf Dauer mit anderen Erwachsenen zu teilen. So erleben sie uns manchmal als Konkurrentinnen um die Liebe und Zuneigung ihres Kindes. Sie müssen Vertrauen zu uns entwickeln, sich mit unseren Erwartungen auseinander setzen und mit der Bewertung ihres bisherigen Erziehungsverhaltens rechnen.

Zugleich erfahren Eltern eine qualitative Veränderung der Eltern-Kind-Beziehung. Insbesondere Müttern fällt es schwer, sich von ihrem Kind abzulösen, es gehen zu lassen und eine gewisse Entfremdung zu ertragen. Auch werden Eltern schon kurz nach Eintritt ihres Kindes in die Tagesstätte mit neuen Verhaltensweisen konfrontiert. So werden Kinder unabhängiger und durchsetzungskräftiger, sind oft aggressiver und unartiger, verwenden mehr vulgäre Ausdrücke. Sie wollen mehr Kontakt zu Gleichaltrigen und zeigen mehr soziale Fertigkeiten. Auch ändern sie oft ihr Spielverhalten, wollen z.B. mehr malen und basteln, aber weniger mit dem Dreirad fahren.

Es ist offensichtlich, dass dem ersten Übergang viel Aufmerksamkeit gewidmet werden muss. In der Regel dauert es rund zehn Wochen, bis sich Kinder, Eltern und Erzieherinnen an die neue Situation gewöhnt haben und sie nicht mehr als belastend erleben. So muss die Übergangsphase als ein komplexer und langfristiger Prozess betrachtet werden. Sie verläuft zumeist besser, wenn

  • Eltern über die zu erwartenden Veränderungen und Probleme informiert sind und sich darauf einstellen können.
  • Eltern der Kindertagesstätte gegenüber positiv eingestellt sind und dies ihren Kindern zeigen.
  • Kinder auf die Aufnahme in die Kindertagesstätte vorbereitet und ihre Vorstellungen, Erwartungen und Fantasien diskutiert werden.
  • Eltern und Erzieherinnen einander offen und vertrauensvoll begegnen und zu einer partnerschaftlichen Zusammenarbeit bereit sind.
  • die Unterschiede zwischen Familie und Kindertagesstätte hinsichtlich von Erziehungsstil, Regeln, Erwartungen usw. nicht überaus groß sind.
  • Kinder bereits an längere Trennungen von ihren Eltern gewöhnt sind.
  • Kinder bereits viel Kontakt zu Gleichaltrigen hatten bzw. viele soziale und kommunikative Fertigkeiten entwickeln konnten.

Sind sich Eltern und Erzieherinnen dessen bewusst, können sie gemeinsam die Übergangsphase so gestalten, dass sie für alle Betroffenen recht unproblematisch verläuft. Schon dem Aufnahmegespräch kommt große Bedeutung zu. Die Eltern können motiviert werden, ihr Kind schon vor der Aufnahme in die Kindertagesstätte in Spielgruppen zu integrieren, es ab und zu einige Stunden allein bei ihm vertrauten Personen zu lassen oder Übernachtungen bei Verwandten oder Freunden anzuregen. Längst gibt es auch Bilderbücher, die über Kindergärten informieren. Bei Spaziergängen kann der Weg an Tagesstätten vorbeiführen; es kommt zu ersten Kontakten "über den Zaun", wenn Kinder draußen spielen. Vielleicht haben die Eltern auch Fotos aus der eigenen Kindergartenzeit, können sie ihren Kindern zeigen und von den eigenen Erfahrungen berichten. Auf diese Weise bereiten sich Kinder und Eltern auf die zu erwartenden Veränderungen vor.

Seitens der Kindertagesstätten kann der erste Übergang erleichtert werden, indem Eltern und Kinder zu Kontaktbesuchen eingeladen werden, bei denen sie gemeinsam die Einrichtung erkunden und einen Eindruck vom Tagesablauf gewinnen können. Im Kindergartenbereich hat es sich auch bewährt, wenn Eltern und Kinder schon frühzeitig zu Spielnachmittagen eingeladen werden. Ferner können die "alten" Kinder die "neuen" einführen und ihnen die Erzieherinnen und Praktikantinnen vorstellen, die Kindertagesstätte zeigen und noch unbekannte Spiele erklären. Auch können ältere Kinder Patenschaften übernehmen und ihr "Patenkind" unterstützen, trösten und beschützen. Die Erzieherinnen werden auf diese Weise entlastet, gewinnen Zeit zur Beobachtung und können eher einzelnen Kindern gezielt helfen. Ferner empfiehlt es sich, neue Kinder zeitlich gestaffelt in die Kindertagesstätte aufzunehmen und die Dauer des Aufenthalts an der Gruppenfähigkeit und Belastbarkeit des jeweiligen Kindes auszurichten (langsames Steigern der Anwesenheitsdauer). Im Einzelfall kann bei Kleinkindern auch das Verweilen von Mutter oder Vater in der Tagesstätte hilfreich sein. Auf jeden Fall sollten die Eltern beim Bringen der Kinder nicht in Eile sein. Unter solchen Bedingungen ist der erste Übergang sowohl für die Kinder als auch für die Erzieherinnen weniger belastend.

14 Familienergänzende Aufgaben von Kindertagesstätten

Die Darstellung der Unterschiede zwischen Familie und Kindertagesstätte ließ schon erahnen, dass diese in vielerlei Hinsicht komplementäre Lebensbereiche sind: Kinder machen in ihnen unterschiedliche Erfahrungen, entwickeln in ihnen verschiedene Kompetenzen, Einstellungen und Persönlichkeitsaspekte. Die wechselseitige Ergänzung von Familie und Kindertagesstätte in ihrer erzieherischen und entwicklungsfördernden Wirkung ist also "naturgegeben". Zusätzlich sind wir jedoch angehalten, familienergänzend zu wirken. Durch geplante und strukturierte Angebote, aber auch im Freispiel, sollen wir Kindern Erfahrungen und Kenntnisse vermitteln, die diese daheim nicht erlangen. Auch sollen wir ihnen die Entwicklung von Fertigkeiten ermöglichen, die in der Familie nur unzureichend gefördert werden. Zu unseren familienergänzenden Aufgaben gehört ferner, dass wir im Einzelfall Defizite in der familialen Sozialisation ausgleichen. Dazu müssen wir die uns anvertrauten Kinder genau beobachten und Informationen über deren Familiensituation sammeln.

Die allgemeinste Voraussetzung für die Erfüllung familienergänzender Funktionen ist die Kenntnis der Lebensbedingungen und Charakteristika heutiger Familien. Legen wir die vor allem im zweiten Teil unseres Buches erfolgte Situationsbeschreibung der weiteren Diskussion zugrunde, so kommen wir zu folgenden familienergänzenden Aufgaben:

  • In einer durch Hektik und Stress geprägten Welt, bei einem wechselhaften Verhalten von Eltern gegenüber ihren Kindern, bei einem inkonsistenten Erziehungsstil oder labilen Familienverhältnissen benötigen Kinder in Tagesstätten Regelhaftigkeit, Verlässlichkeit, Sicherheit und Geborgenheit. Erzieherinnen sollten einen eindeutigen Erziehungsstil praktizieren und konsequent handeln.
  • Kindertagesstätten dürfen sich gegenüber der Außenwelt nicht verschließen, müssen für das Familienleben, die Arbeitswelt, den heimischen Kulturraum usw. offen sein. Hier bieten sich Aktivitäten in der freien Natur, die Besichtigung kommunaler, kultureller oder kirchlicher Einrichtungen, die Teilnahme an Festen und der Besuch von Eltern an ihrem Arbeitsplatz an. Lebensweltbezogene Themen können natürlich auch bei Beschäftigungen aufgegriffen werden.
  • Aufgrund der zunehmenden Ausgliederung alter Menschen aus Familie und Gesellschaft sollte Kindern der Umgang mit Senioren erfahrbar gemacht werden. Hierzu bieten sich z.B. regelmäßige Besuche in Altersheimen und Altenbegegnungsstätten sowie gemeinsame Aktivitäten mit älteren Menschen an. So kann auch der große Erfahrungsschatz von Großeltern und Urgroßeltern genutzt werden.
  • Kinder erfahren in Kindertagesstätten, dass es viele verschiedene Familienformen gibt und keine von ihnen "schlecht" ist. So wird z.B. Kindern, die in Stieffamilien oder nichtehelichen Lebensgemeinschaften aufwachsen, geholfen, ihre Lebenssituation als normal zu werten. Ferner können durch die jeweilige Familienform bedingte Nachteile für die kindliche Entwicklung zum Teil ausgeglichen werden. Werden beispielsweise männliche Praktikanten eingesetzt, können sie Kindern aus Teilfamilien als Rollenmodelle dienen.
  • Kindertagesstätten sollten die Entwicklung hin zu Gleichberechtigung der Geschlechter, partnerschaftlichen Familienstrukturen und einer gerechten Aufteilung der Hausarbeit unterstützen. So können z.B. geschlechtsspezifische Zuschreibungen bei Märchen, Erzählungen oder in Gesprächen (über Berufsbilder, Hobbys usw.) vermieden, Jungen und Mädchen gleich behandelt und erstere zu Haushaltstätigkeiten wie Kochen, Abwaschen oder Aufräumen herangezogen werden.
  • Aufgrund der geringer werdenden sozialen Kontrolle durch Verwandte und Nachbarn müssen Erzieherinnen vermehrt eine gewisse "Kontrollfunktion" gegenüber der Familie übernehmen und bei Anzeichen von Vernachlässigung, Misshandlung oder sexuellem Missbrauch aktiv werden.
  • Wichtig ist, dass Kinder in Tagesstätten kommunikative Fertigkeiten und Problemlösungstechniken lernen. Sie sollten erfahren, wie man am besten den eigenen Standpunkt vertritt, wie man in einer großen Gruppe auf demokratische Weise zu Entscheidungen kommt (Kinderkonferenz), wie man Konflikte friedlich löst und dass Kompromissbereitschaft eine Tugend ist.
  • Insbesondere Einzelkinder sind auf Tagesstätten angewiesen, um sich in der Gruppe Gleichaltriger soziale Kompetenzen aneignen zu können.
  • Da Kindheit immer mehr in pädagogisch besetzten Räumen stattfindet, benötigen Kinder in Tagesstätten auch Freiräume, in denen sie sich unbeobachtet fühlen und selbstbestimmt erleben können.
  • Erzieherinnen sollten wohl die Lernmotivation, Leistungsbereitschaft und kognitiven Fähigkeiten der Kinder fördern, diesen aber auch Freiräume von Leistungsdruck bieten und einer Verschulung ihrer Einrichtungen entgegenwirken. Es gilt, im Rahmen der Elternarbeit immer wieder auf die Gefahr der Überforderung von Kindern durch zu viele Aktivitäten und Angebote aufmerksam zu machen und für eine altersgemäße, ganzheitliche Förderung zu plädieren.
  • Kinder benötigen Gelegenheiten zum Austoben, zum Erlernen von Körperbeherrschung und zur Entwicklung von Selbstvertrauen. Es sind aber auch Angebote wichtig, die sie zur Ruhe kommen lassen, ihre Konzentrationsfähigkeit fördern und der Reizüberflutung entgegenwirken.
  • In Kindertagesstätten können Kinder auf einen sinnvollen Umgang mit Freizeit vorbereitet werden. So sollten sie lernen, sich selbst zu beschäftigen und zu agieren, anstatt nur zu konsumieren. Musische und künstlerische Angebote, Kochen und Gartenarbeit, Experimentieren und das Herstellen von Spielsachen fördern ihre Eigentätigkeit und Kreativität.
  • Durch Medienerziehung kann Kindern ein richtiger Umgang mit Fernseher, Radio, Videorecorder usw. nahe gebracht werden. Eltern sollten davor gewarnt werden, Kleinkinder durch das Anschalten des Fernsehers "ruhig zu stellen" und auf eine Überwachung des Medienkonsums älterer Kinder zu verzichten.
  • Da sich Eltern wohl der Bedeutung der religiösen Erziehung bewusst sind, diese aber häufig vernachlässigen, müssen Kindertagesstätten diese Aufgabe übernehmen.
  • Durch kompensatorische Erziehung können durch schicht- oder milieuspezifische Lebensumstände bedingte Benachteiligungen ausgeglichen werden.
  • Auch Ausländer- und Aussiedlerkinder benötigen eine besondere Förderung. Die anderen Kinder sollten mit deren Lebensverhältnissen vertraut gemacht werden und Toleranz entwickeln.

Es ist sicherlich aufgefallen, dass sich einige der genannten Aufgaben aus der Analyse von Kindheit heute ergeben.

Die Aufzählung familienergänzender Aufgaben ist recht allgemein geblieben. Wir müssen somit noch einen Schritt weitergehen und die Familiensituation, Lebenswelt und Umgebung der Kinder aus unserer Einrichtung analysieren. Uns stellen sich andere Aufgaben, wenn unsere Kinder in einer kleinen Landgemeinde oder in Streusiedlungen aufwachsen, als wenn sie aus einem Stadtviertel mit hohem Ausländeranteil, einem Stadtrandgebiet mit überwiegend Einfamilienhäusern oder einer Trabantenstadt ohne ausgebaute Infrastruktur kommen. Es macht einen Unterschied, ob die meisten unserer Kinder in Akademiker- oder Arbeiterfamilien, in Familien mit nichterwerbstätigen oder berufstätigen Müttern, in vollständigen oder Teilfamilien leben. Diese Aufzählung ließe sich natürlich noch fortsetzen.

Bei der Analyse der Lebenslagen unserer Kinder können wir uns von folgendem Schema leiten lassen:

A. Situationsbeschreibung

  1. Bevölkerungsstruktur und Entwicklung nach Alter und Nationalität
  2. Äußere Familienstruktur nach Familienstand, Familienform (Stieffamilien, nichteheliche Lebensgemeinschaften usw.), Kinderzahl, Zusammenleben von drei Generationen
  3. Innere Familienstruktur nach (Geschlechts-)Rollendefinition, Arbeitsteilung, Hierarchie, Interaktionsmustern
  4. Grad der Einbettung in ein Netzwerk und Umfang desselben
  5. Art der Berufstätigkeit der Eltern (Vereinbarkeit von Familie und Beruf), Umfang der Erwerbsbeteiligung der Mütter (Prozentsatz der Hausfrauen)
  6. Einkommenssituation, soziale Schichtung
  7. Erziehungsziele, -einstellungen, -stile, -fehler der Eltern, geschlechtsspezifische Sozialisation, Medien-, Umwelt- und religiöse Erziehung durch Eltern, Überforderung
  8. Freizeitverhalten, Nutzung entsprechender Angebote, Art des Urlaubs
  9. Wohnungen (Größe, mit/ohne Garten), Wohnumfeld (Spielplätze, Freiflächen, Verkehrsgefährdung, Begegnungsräume), weitere Umgebung (Erreichbarkeit und Nutzung von Naherholungsgebieten, Naturerfahrungen)
  10. Häufigkeit bestimmter Problemlagen wie Familienkonflikte, Scheidung, Arbeitslosigkeit, Armut, Alkoholmissbrauch, häusliche Pflege von Behinderten oder Langzeitkranken, Gewalt gegenüber Kindern usw. Vorhandensein und Nutzung von Hilfsangeboten sozialer Dienste

B. Problemanalyse: Erfassung von Defiziten in der Lebenssituation der Kinder (z.B. mangelnde Sozialerfahrungen, zu geringe Entfaltungsmöglichkeiten, wenig Gelegenheit zur Selbsttätigkeit und zum Spiel in der freien Natur, unkontrollierter Medienkonsum, keine religiöse Erziehung, kaum Kontakt zu alten Menschen, viele überlastete Mütter, Zahl der Familien mit besonderen Belastungen)

C. Handlungsbedarf und -möglichkeiten

  1. Familienergänzende Aufgaben der jeweiligen Kindertagesstätte, die sich aus den spezifischen Lebenslagen der Kinder ergeben
  2. Möglichkeiten zur Realisierung dieser Anforderungen in der Kindertagesstätte: kindorientierte Angebote und Maßnahmen (siehe Auflistung familienergänzender Aufgaben), Elternarbeit, Vermittlung von Hilfsangeboten öffentlicher und freier Träger der Wohlfahrtspflege

Die Ergebnisse dieser Analyse können dann in das pädagogische Konzept unserer Kindertagesstätte einfließen. Es wird deutlich, dass sich das Konzept einer Einrichtung im Bayerischen Wald in vielerlei Hinsicht von dem einer Einrichtung in Hamburg unterscheiden wird. Auch muss es jedes Jahr wieder anhand der Analyse der Lebenslagen der neu aufgenommenen Kinder überprüft werden. Schließlich müssen wir uns verdeutlichen, dass wir in der praktischen Arbeit immer wieder auf Grenzen bei der Umsetzung unseres Konzeptes stoßen werden. Diese liegen z.B. in uns selbst, in den Rahmenbedingungen unserer Arbeit wie der Gruppengröße oder der Lage der Einrichtung, in der kaum überschaubaren Vielzahl der sich uns stellenden Aufgaben, in der Multikausalität von Problemen und der Begrenztheit unseres Einflussbereiches. Wir müssen lernen, mit diesen Grenzen zu leben, ohne dass dies beispielsweise negative Konsequenzen für unser Selbstbild und unsere Arbeitsfreude hat.

15 Familienunterstützende Funktionen

Während sich die familienergänzenden Aufgaben von Kindertagesstätten vor allem auf die Kinder beziehen, geht es bei den familienunterstützenden Funktionen um die Eltern bzw. Familien. Hierunter fallen zum einen Angebote und Maßnahmen, die allen Familien offen stehen und zu deren Entlastung und Unterstützung beitragen sollen. Zum anderen handelt es sich um Maßnahmen, die sich an einzelne Familien mit besonderen Belastungen richten, insbesondere an Familien mit verhaltensauffälligen Kindern.

Zur allgemeinen Unterstützung von allen Familien trägt bei, wenn die Öffnungszeiten der Kindertagesstätten deren Bedürfnissen und Wünschen entsprechen. So ergab z.B. eine Befragung von rund 4.300 Eltern von Kindergartenkindern aus den Städten Augsburg, Amberg und Rosenheim sowie je einem angrenzenden Landkreis (Lachenmaier 1990), dass 46% eine Änderung der Öffnungszeiten für notwendig oder wünschenswert hielten. 43% wünschten für ihr Kind eine Öffnung des Kindergartens nur am Vormittag, 36% durchgehend (aber 69% der Alleinerziehenden und 64% der ganztags erwerbstätigen Mütter), 16% am Vor- und Nachmittag mit Mittagspause und 5% nur am Nachmittag. Jeweils ein Viertel der Eltern wünschten sich den Beginn der Bringzeit um 07.00 bzw. 07.30 Uhr; 23% wollten am liebsten ihr Kind erst zwischen 17.30 und 18.00 Uhr abholen. Eine längere oder flexiblere Öffnungszeit kommt vor allem den Bedürfnissen von halbtags oder ganztags beschäftigten Müttern sowie von Alleinerziehenden entgegen. Jedoch sollte das entscheidende Kriterium immer das Wohl des Kindes sein. Medizinische, psychologische und pädagogische Gründe sprechen gegen eine Öffnung der Kindertagesstätte vor 07.00 Uhr und nach 18.00 Uhr, wobei sich die Verweildauer des einzelnen Kindes allerdings nicht über diesen gesamten Zeitraum erstrecken darf. Der berechtigte Wunsch von Eltern nach Vereinbarkeit von Familie und Beruf darf nicht auf Kosten der Kinder gehen.

Den Interessen von Eltern nach sozialen Kontakten, Gesprächen über ihre Kinder und die eigene Lebenssituation, nach Informationen über eine altersgemäße Erziehung usw. können Angebote von Kindertagesstätten entgegenkommen, die weit über die traditionelle Elternarbeit herausgehen. Wenn wir an die Befragung von 258 Passauer Eltern über ihre Erwartungen an die Elternarbeit des Kindergartens zurückdenken, fällt uns ein, dass Elternabende für alle Eltern und Gruppenelternabende als klassische Formen der Elternarbeit erst an 16. und 17. Stelle genannt wurden. Den Eltern waren Angebote wichtiger, durch die sie

  • praktische Anregungen für das eigene erzieherische Verhalten gegenüber ihren Kindern erhalten. Sie möchten über gute Spiele und Bücher informiert werden sowie diese ausleihen können. Ferner wünschten sie sich Angebote der Elternbildung. Außerdem lässt sich aus dem stark ausgeprägten Wunsch nach einer Öffnung des Kindergartens schließen, dass sich Eltern auch am Verhalten der Erzieherinnen orientieren wollen – z.B. wollten 88% wissen, wie diese bei Problemen mit Kindern reagieren.
  • mit anderen Eltern ins Gespräch kommen. So wünschten sich die Befragten Gesprächskreise zu bestimmten Themen, besondere Angebote für Alleinerziehende und Möglichkeiten zum zwanglosen Zusammensitzen mit anderen Eltern nach dem Bringen bzw. vor dem Abholen der Kinder.
  • mit anderen Eltern und deren Kindern zusammenkommen. Die Befragten sprachen sich für Familiengottesdienste, Spiel- und Bastelrunden sowie Freizeitangebote für Familien (z.B. Wanderungen) aus.
  • eine Kinderbetreuung während der Kindergartenferien oder bei Erkrankung der Mutter bzw. des Kindes vermittelt bekommen.

Andere Angebote, mit denen zumindest im Kindergartenbereich bereits gute Erfahrungen gemacht wurden, sind Müttergruppen, Elternstammtische, Kaffeerunden, besondere Angebote für Väter und Kinder, Familienfreizeiten und Elternprojekte im musischen, kreativen und handwerklichen Bereich.

In größeren Einrichtungen können die Wünsche der Eltern mit Hilfe eines Fragebogens ermittelt werden. Dabei kann erfragt werden, ob Eltern bereit sind, einzelne Angebote selbst zu übernehmen oder zumindest mitzugestalten, sodass die Erzieherinnen durch sie nicht zusätzlich belastet werden. Da auch bei Eltern die Zeit knapp ist, sollten nicht zu viele Angebote im Verlauf eines Monats gemacht werden - sonst werden vertretbare Teilnehmerzahlen nicht mehr erreicht. Generell werden Veranstaltungen eher besucht, wenn sie mit einer Kinderbetreuung verbunden sind.

Kindertagesstätten dürfen sich auch nicht gegenüber den spezifischen Belastungen einzelner Familien noch gegenüber Verhaltensauffälligkeiten vieler Kinder verschließen. Dabei können wir häufig von einem engen Zusammenhang zwischen beiden Problemkreisen ausgehen: Viele Ursachen für kindliche Verhaltensauffälligkeiten liegen in den Herkunftsfamilien. Da heute nahezu alle Kinder über einen längeren oder kürzeren Zeitraum hinweg eine Kindertagesstätte besuchen, kommt dieser eine ganz wichtige Funktion im Rahmen der Primär- und Sekundärprävention sowie der Hilfe bei Verhaltensauffälligkeiten zu. Leider werden jedoch die hier liegenden Chancen noch viel zu wenig genutzt.

Eltern erwarten heute bei Problemen zunehmend Hilfe von Kindertagesstätten. So ergab z.B. eine Befragung von knapp 200 Kindergarteneltern aus Passau (Mayr 1990), dass 67% der Verheirateten und 55% der Alleinerziehenden der Meinung waren, der Kindergarten sollte Ansprechpartner für familiäre Probleme sein. Rund 86% der von mir befragten Eltern erwarteten, dass Erzieherinnen ausführliche Gespräche mit den Eltern verhaltensauffälliger Kinder führen und sie beraten. Generell waren fast drei Viertel bereit, sich von einer Mitarbeiterin des Kindergartens bei Erziehungsfragen oder sonstigen Problemen beraten zu lassen - ein großer Vertrauensbeweis.

Wir können Eltern bei Familienproblemen hinsichtlich des Umgangs mit schwierigen Kindern im Rahmen von Gesprächen "zwischen Tür und Angel" sowie zu fest vereinbarten Terminen beraten. Professor Dietrich (1985) stellte fest, dass Eltern für Erziehungsschwierigkeiten in erster Linie sich selbst verantwortlich machen - ihre Lebensumstände, die mangelnde Zeit für ihre Kinder, die eigene Unbeherrschtheit, Launenhaftigkeit, Ungeduld, Nachgiebigkeit usw. Daneben werden auch negative Umwelteinflüsse, die Ablenkung durch Medien und Charakteristika des Kindes genannt. Eltern sind also durchaus auch auf Erziehungsfehler ansprechbar, wenn wir dabei taktvoll vorgehen, Verständnis für die Schwierigkeiten und Belastungen der Eltern zeigen und uns selbst nicht als perfekt darstellen.

Im Rahmen von Beratungsgesprächen suchen Erzieherinnen und Eltern gemeinsam nach den Ursachen für die Erziehungsschwierigkeiten und das auffällige Verhalten des Kindes. Sie berichten, wie sich dieses zu Hause und in der Kindertagesstätte verhält, und werden dabei oft auf große Unterschiede stoßen. Im weiteren Verlauf der Gespräche wird deutlich werden, unter welchen Belastungen das Kind und seine Familie leiden, welche Erziehungsfehler von den Eltern bzw. den Erzieherinnen gemacht werden, welche Behandlungsversuche bei den Erziehungsschwierigkeiten bereits fehlgeschlagen sind usw. Wurden die Problemursachen ermittelt, können Erzieherinnen und Eltern gemeinsam einen Handlungsplan entwickeln und ihr Erziehungsverhalten gegenüber dem Kind abstimmen. Beispielsweise können sie sich darauf einigen, bestimmte Verhaltensweisen des Kindes sofort positiv zu verstärken, und es auf diese Weise zu einer Verhaltensänderung motivieren. Eltern berichten immer wieder, dass sie derartige Beratungsgespräche positiv und als hilfreich erlebten.

16 Vermittlung von Hilfsangeboten

In vielen Fällen werden wir bei Beratungsgesprächen feststellen, dass die Probleme des Kindes so groß oder seine Verhaltensauffälligkeiten so verfestigt sind, dass Maßnahmen spezialisierter Einrichtungen angebracht sind. Dasselbe gilt, wenn wir auf pathogene Familienstrukturen und -prozesse oder auf Belastungen von Familien treffen, auf die wir nicht einwirken können oder die außerhalb unseres Zuständigkeitsbereichs liegen. In diesen Fällen können wir familienunterstützend wirken, indem wir Eltern auf geeignete Hilfsangebote von Wohlfahrtsverbänden und Ämtern aufmerksam machen und sie zu deren Nutzung motivieren.

Laut der Befragung Passauer Eltern erwarteten knapp 61% vom Kindergarten Informationen über Hilfsangebote für Familien mit verhaltensauffälligen Kindern, Eheproblemen, pflegebedürftigen Mitgliedern usw. Haben Kinder größere Probleme, sprachen sich sogar 91% der Befragten für eine Vermittlung von Hilfsangeboten der Erziehungsberatungsstellen, schulvorbereitenden Einrichtungen, Frühförderstellen und anderen sozialen Diensten durch den Kindergarten aus. Rund 13% der Eltern hatten übrigens bereits von einer Erzieherin entsprechende Hinweise erhalten; 82% dieser Personen hatten die ihnen empfohlene Einrichtung aufgesucht.

Voraussetzung für die Vermittlung von Hilfsangeboten ist, dass wir die Maßnahmen öffentlicher und freier Träger der Wohlfahrtspflege kennen. Da diese Kenntnisse nur selten in der Aus- und Fortbildung erlangt werden, müssen sie während der Berufstätigkeit erworben werden. Geeignetes Informationsmaterial kann kostenlos bei den zuständigen Bundes- und Landesministerien sowie bei Wohlfahrtsverbänden angefordert werden. Hilfreich sind ferner Fachzeitschriften mit einem Schwerpunkt im Bereich der Jugendhilfe sowie praxisorientierte Fachbücher, die sich mit Hilfen für Familien befassen (siehe Literaturverzeichnis am Ende des Buches). Unsere Kenntnisse sollten die im nachstehenden Schema genannten Hilfsangebote für Familien und Kinder umfassen:

1. Angebote der öffentlichen und freien Jugendhilfe nach dem Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG), insbesondere

  • Beratung in allgemeinen Fragen der Erziehung und Entwicklung
  • Erziehungsberatung
  • Beratung in Fragen der Partnerschaft, Trennung und Scheidung
  • Beratung und Unterstützung bei der Ausübung der Personensorge
  • Erziehungsbeistandschaft
  • Sozialpädagogische Familienhilfe
  • Vollzeitpflege
  • Heimerziehung
  • Kindertageseinrichtungen
  • Tagespflege
  • selbstorganisierte Förderung von Kindern
  • Betreuung und Versorgung von Kindern in Notsituationen
  • Familienfreizeit und Familienerholung
  • Kinder- und Jugenderholung
  • Jugendarbeit
  • Familienbildung

2. Finanzielle Leistungen für Familien und Kinder, insbesondere

  • Kindergeld, Erziehungsgeld, Ausbildungsförderung, Steuererleichterungen
  • Wohngeld, Förderung des (sozialen) Wohnungsbaus
  • nach dem Bundessozialhilfegesetz (BSHG)
  • nach dem Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG)
  • nach dem Unterhaltsvorschussgesetz (UVG)
  • durch Bundes- und Landesstiftungen

3.Hilfsangebote für erwachsene Familienmitglieder wie

  • Schwangerenberatung
  • Ehe- und Lebensberatung
  • Ernährungs- und Verbraucherberatung
  • Selbsthilfegruppen

4. Hilfsangebote für Familien mit besonderen Belastungen wie

  • Teilfamilien
  • Familien mit arbeitslosen Mitgliedern
  • sozial schwache Familien
  • Familien mit behinderten oder pflegebedürftigen Angehörigen
  • Familien mit suchtkranken Mitgliedern
  • Ausländer- und Aussiedlerfamilien

Wichtig ist auch zu wissen, welche sozialen Dienste und Einrichtungen in der Umgebung der Kindertagesstätte die genannten Maßnahmen anbieten. So sollten die Anschriften und Telefonnummern von Jugendamt, Allgemeinem Sozialdienst, Sozialamt, Wohnungsamt, Beratungsstellen, Geschäftsstellen der Wohlfahrtsverbände, Frühförderstellen, Selbsthilfegruppen usw. ermittelt werden. Diese Informationen können auch von mehreren Kindertagesstätten aus einer kleineren Stadt oder einem Landkreis gemeinsam gesammelt und in einem Beratungsführer niedergelegt werden. Auch ist es sinnvoll, mit den wichtigsten dieser Einrichtungen telefonisch oder persönlich Kontakt aufzunehmen. Dann können wir uns über deren Hilfsangebote, Arbeitsweise, Wartezeiten u. Ä. informieren. Auch fällt es uns dann leichter, im Einzelfall einer hilfsbedürftigen Familie die jeweils geeignete Maßnahme vorzustellen und sie mit dem zuständigen Mitarbeiter des sozialen Dienstes oder der Behörde in Verbindung zu bringen. Dies sollte grundsätzlich in einer aktuellen Problemsituation geschehen, da dann der Leidensdruck die Nutzung des jeweiligen Angebots wahrscheinlicher macht.

Durch die Vermittlung von Hilfsangeboten, aber auch durch das Auslegen bzw. Aushängen von diesbezüglichen Informationen, können wir einen gewichtigen Beitrag zur Prävention, zur Unterstützung von Familien und zur Vernetzung verschiedener Einrichtungen zu einem Jugendhilfeverbund leisten. Zudem entstehen verlässliche Strukturen der Zusammenarbeit zwischen Kindertagesstätten und relevanten sozialen Diensten. Wir können das gesamte Angebotsspektrum der Wohlfahrtspflege nutzen und entdecken dabei oft auch Beratungsmöglichkeiten für uns selbst (z.B. bei der Konfrontation mit einer unbekannten kindlichen Symptomatik; Fallsupervision durch Mitarbeiter einer Erziehungsberatungsstelle).

17 Nachwort

Unter den heutigen Lebensbedingungen gewinnen die familienergänzenden und -unterstützenden Funktionen von Kindertagesstätten immer mehr an Bedeutung. Deutlich wird, dass die Entwicklung von Kindern nicht nur direkt durch erzieherische und bildende Aktivitäten der Fachkräfte gefördert werden kann, sondern auch indirekt durch die Stärkung der Erziehungsfähigkeit der Eltern und die Hilfe bei Familienproblemen. Präventive und beratende Aufgaben müssen vermehrt von Kindertagesstätten wahrgenommen werden, da sie neben den Schulen die einzigen Institutionen sind, die alle Familien und Kinder erreichen. Je mehr sich Einrichtungen für Familien öffnen, die Lebenslagen von Kindern bei der Entwicklung ihrer pädagogischen Konzeption und in der täglichen Arbeit beachten, neue Formen der Elternarbeit praktizieren und Familien beraten, umso mehr ändern sich auch das Berufsbild von Erzieherinnen und der Eindruck von ihrer Tätigkeit in der Öffentlichkeit.

Die durch den Strukturwandel der Familie und die Charakteristika heutiger Kindheit bedingten neuen Funktionen von Kindertagesstätten verlangen eine bessere Aus- und Fortbildung von Erzieherinnen. Beispielsweise müssen sie besser für die Tätigkeitsfelder Elternarbeit, Erwachsenenbildung, Gruppenarbeit mit Eltern, Gesprächsführung und Familienberatung vorbereitet werden. Nur dann werden sich Erzieherinnen nicht mehr durch familienergänzende und -unterstützende Aufgaben überfordert fühlen, sondern sie als selbstverständlich betrachten. Auch sind die Rahmenbedingungen ihrer Arbeit zu verbessern – insbesondere benötigen sie mehr Zeit für Elterngespräche und neue Formen der Elternarbeit. Ferner sollten beim Neu- und Umbau von Kindertagesstätten Räume geschaffen werden, in denen sich Eltern treffen und wohlfühlen können. So können Tagesstätten zu gemeinwesenorientierten Zentren für Familien und Kinder werden. Wenn in der Öffentlichkeit deutlich wird, wie anspruchsvoll die Tätigkeit von Erzieherinnen geworden ist und dass sie einen großen Beitrag zum Kindes- und Elternwohl leisten, wird sich auch eher eine größere gesellschaftliche und finanzielle Anerkennung erreichen lassen.

18 Zitierte Literatur und Literaturempfehlungen

Literaturempfehlungen sind mit einem * gekennzeichnet

* Berger, M.: Der Übergang von der Familie zum Kindergarten. Anregungen zur Gestaltung der Aufnahme in den Kindergarten. München, Basel: Reinhardt 1986

Blatchford, P., Battle, S., Mays, J.: The first transition. Home to pre-school. Windsor: NFER-Nelson 1982

Buber, M.: Die Schriften über das dialogische Prinzip. Heidelberg: Schneider Lambert 1954

Dietrich, G.: Erziehungsvorstellungen von Eltern. Ein Beitrag zur Aufklärung der subjektiven Theorie der Erziehung. Göttingen, Toronto, Zürich: Verlag für Psychologie - Dr. C.J. Hogrefe 1985

Ferchhoff, W., Olk, T.: Strukturwandel der Jugend in internationaler Perspektive. In: W. Ferchhoff, T. Olk (Hg.): Jugend im internationalen Vergleich. Sozialhistorische und sozialkulturelle Perspektiven. Weinheim, München: Juventa 1988, S. 9-30

* Haberkorn, R., Hagemann, U., Seehausen, H. (Hg.): Kindergarten und soziale Dienste. Praxisberichte zu ausgewählten Aspekten der pädagogischen Arbeit in Kindertagesstätten sowie zur Zusammenarbeit mit der Erziehungsberatung. Freiburg: Lambertus 1988

Hentig, H. von: Was ist eine humane Schule- Drei Vorträge. München, Wien: Hanser 1976

Krüsselberg, H.-G., Auge, M., Hilzenbecher, M.: Verhaltenshypothesen und Familienzeitbudgets - Die Ansatzpunkte der "Neuen Haushaltsökonomik" für Familienpolitik. Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz: Kohlhammer 1986

Lachenmaier, W.: Öffnungszeiten von Kindergärten - eine Erhebung in drei bayerischen Regionen. Manuskript. München: Staatsinstitut für Frühpädagogik und Familienforschung 1990

Luban-Plozza, B.: Familie, Risiken und Chancen. In: Familie - Herausforderung der Zukunft. Freiburg/Schweiz 1982

Maslow, A.H.: Motivation and personality. New York: Harper 1954

Mayr, T.: Untersuchung "Situation allein erziehender und gemeinsamerziehender Familien" - Erwartungen der Eltern an den Kindergarten. Manuskript. München: Staatsinstitut für Frühpädagogik und Familienforschung 1990

Montessori, M.: Kinder sind anders. Stuttgart: Klett-Cotta, 9. Aufl. 1971

Statistisches Bundesamt (Hg.): Datenreport 1989. Zahlen und Fakten über die Bundesrepublik Deutschland. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 1989

Statistisches Bundesamt (Hg.): Familien heute. Strukturen, Verläufe und Einstellungen. Ausgabe 1990. Stuttgart: Metzler-Poeschel 1990

Stein, A.: Selbstbild und Erziehungsverständnis junger Ehepaare. Konstanz: Hartung-Görre 1983

* Textor, M.R. (Hg.): Hilfen für Familien. Ein Handbuch für psychosoziale Berufe. Frankfurt: Fischer Taschenbuch 1990

* Textor, M.R.: Familien: Soziologie, Psychologie. Eine Einführung für soziale Berufe. Freiburg: Lambertus 1991a

* Textor, M.R.: Familienpolitik: Probleme, Maßnahmen, Forderungen. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 1991b

Textor, M.R. (Hg.): Praxis der Kinder- und Jugendhilfe. Handbuch für die sozialpädagogische Anwendung des KJHG. Weinheim: Beltz, 2. Aufl. 1995

Anzeige: Frühpädagogik bei Herder