Die neue Kindheit - ihre Chancen und Gefahren!

Charmaine Liebertz

Wie hat sich Kindheit verändert?

"Das gab es bei uns nicht!" Immer wenn Sie in die Versuchung kommen, diesen Spruch zu äußern, dann bedenken Sie bitte: Jede heranwachsende Generation hat ihre ganz spezifischen Chancen und Probleme. Die Lebensbedingungen der Kinder haben sich heute allerdings so grundlegend verändert, dass zwischen unserer alten und der neuen Kindheit kaum noch Gemeinsamkeiten bestehen.

Da hilft kein wehmütiger Blick in vergangene Zeiten. Vielmehr müssen wir die neue Kindheit analysieren und uns mit den aktuellen Zahlen auseinandersetzen (diese Zahlen beziehen sich auf Kinder aus deutschen Großstädten und Ballungszentren):

  • 25% Rechtschreib- und Leseschwäche
  • 30% Wahrnehmungsdefizite
  • 34% Sprachstörungen
  • 35% Rechenschwäche
  • 38% psychosomatische Erkrankungen

Hinter diesen erschreckenden Zahlen verbirgt sich das größte Problem der neuen Kindheit: Die Unausgewogenheit. Wir bieten den Kindern:

  • zu viele künstliche Welten; zu wenig reale Erfahrungsräume,
  • zu viel Passivität, zu wenig Bewegung und Eigentätigkeit,
  • zu viele Seh- und Hörreize, zu wenig andere Sinneseindrücke,
  • zu viele Informationen aus zweiter Hand, d.h. aus den Medien, zu wenig Primärerfahrungen aus der realen Welt,
  • zu viel Konsum, zu wenig Kreativität.

In diese Falle der unausgewogenen Entwicklungskost geraten heute immer mehr Kinder. Sie leiden an Bewegungs-, Wahrnehmungs- und Konzentrationsstörungen, klagen über Kopfschmerzen, Nervosität und Schlaflosigkeit. "Sie zahlen für die fortgeschrittene Industrialisierung und Urbanisierung einen hohen Preis, der sich in körperlichen, psychischen und sozialen Belastungen ausdrückt", meint der Pädagoge Klaus Hurrelmann (1990, S. 58).

In der neuen Kindheit spiegeln sich die Vor- und Nachteile unserer Informationsgesellschaft wider. Unsere Kinder werden sich keine handgeschriebenen Briefe mehr schicken, sie werden die Kurzsprache des Emails und Internets perfekt beherrschen. Sie werden über weite Distanzen in kurzer Zeit mit dem globalen Weltdorf multimedial vernetzt sein und mit Informationen aus den Medien überrollt werden. Heute schon beträgt der durchschnittliche Fernsehkonsum von 4- bis 14-Jährigen vier Stunden täglich! Und wer viel fernsieht, hat wenig Zeit für Gespräche. In immer weniger Familien gibt es Gespräche, in denen Einschätzungen und Meinungen über das reale Leben ausgetauscht werden. Eine neue Studie des Familienministeriums meldet Erschreckendes: 3 Stunden und 35 Minuten sind Eltern täglich mit ihren Kindern zusammen, davon eine Stunde vor dem Fernseher. Für Gespräche bleiben täglich ganze 19 Minuten! Wen wundert's da noch, dass der Anteil sprachgestörter Kinder im Alter von drei bis vier Jahren seit 1982 von 4% auf heute 34% gestiegen ist?

Bei allem Fortschrittsglauben sollten wir daher nicht vergessen: Die Kinder dieser Mediengeneration werden zwar mehr kommunizieren, aber sich immer weniger begegnen! Sie werden im Computer- und Gameboyspiel unschlagbar sein, vereinzelt in ihren Zimmern eine hochtechnisierte Scheinkommunikation führen - aber ihre sozialen Kompetenzen wie Teamfähigkeit und Mitverantwortung drohen dabei auf der Strecke zu bleiben. Kommunikation und Begegnung, Information und Erfahrung, Wissen und Fertigkeiten sind eben nicht das Gleiche!

Was brauchen unsere Kinder heute?

Immer mehr Kinder geraten unter den Anforderungen der Informationsgesellschaft und den neuen Bedingungen ihrer Kindheit aus dem Gleichgewicht. Kindergarten und Schule drohen zu Reparaturbetrieben zu werden. Viele Problemkinder werden in den Therapiebereich abgedrängt. Und nun haben wir in Deutschland ein Heer von Therapeuten, die mit den Defiziten der kindlichen Entwicklung vollauf beschäftigt sind. Wäre es nicht effektiver, die Alarmglocken noch vor den Therapeuten läuten zu hören?

Es ist höchste Zeit, dass Eltern und Pädagogen die Frage nach der Qualität des Lernens in den Mittelpunkt ihres Interesses rücken! Zeitgemäßes, qualitativ hochwertiges Lernen erreichen wir nur, wenn wir die Kinder fit machen für die neuen Herausforderungen der Zeit. Aber welche Kenntnisse und Fähigkeiten benötigen sie denn heute?

Unsere Gesellschaft wechselte am Ende des Jahrhunderts ihre ökonomischen und technologischen Grundlagen. Der rasche Wechsel von der nationalen Industriegesellschaft in die internationale Informationsgesellschaft, die anhaltende Arbeitslosigkeit, die ständige Sorge um ausreichendes Wirtschaftswachstum, die internationale Konkurrenz und die rasant wechselnden Berufsanforderungen verunsichern die Menschen. Ihr Wohlstand wird nicht mehr davon abhängen, was sie gelernt haben, sondern wie schnell und flexibel sie hinzu- und umlernen können. Der soziale Erfolg wird nicht mehr nur davon abhängen, wie gut das staatliche Sozialwesen funktioniert, sondern wie eigen- und mitverantwortlich jeder handelt und denkt. Die neuen Schlüsselworte wie globaler Arbeitsmarkt und multikulturelle Gesellschaft verdeutlichen, welch ein gehöriges Maß an Mobilität, Flexibilität, Kreativität und Selbstständigkeit unsere Kinder in Zukunft benötigen.

In der Gesellschaft des 21. Jahrhunderts werden nur selbstbestimmte, vielseitige und flexible Menschen sich dauerhaft behaupten. Erst die maximale Ausschöpfung ihrer Kreativitäts- und Denkreserven wird sie konkurrenzfähig machen. Intelligenz wird die Währung der Zukunft und das trainierte Hirn zum Maßstab der Dinge werden. Schon jetzt geben deutsche Firmen etwa 30 Milliarden Mark jährlich aus, um mehr aus den Köpfen ihrer Mitarbeiter herauszuholen! Fähigkeiten wie Teamgeist, Eigen- und Mitverantwortung sind heute gefragter denn je, Alleingänge und Ellbogenmentalität dagegen unerwünscht. Denn Firmen, in denen Platzhirsche regieren, Mitarbeiter sich auf Kosten anderer profilieren, Mobbing und Machtkämpfe an der Tagesordnung sind, werden auf dem Markt nicht bestehen.

Und wir sollten eines nicht vergessen: Je stärker wir uns auf die Entfaltung der eigenen Persönlichkeit und Leistung beschränken, um so egozentrischer und einsamer werden wir. Ein Bildungssystem, das den Erfolg des Einzelnen über den Mißerfolg der Anderen erstrahlen lässt, fördert nur die weitverbreitete Kultur des Narzissmus.

Nur wenn wir Kinder aktiv in Entscheidungsprozesse einbeziehen, fördern wir ihre soziale Kompetenz. Sie sollten Einsichten in Kommunikationsstrukturen gewinnen, um Konflikte adäquat lösen zu können. Denn sie werden kaum noch feststehende Normen finden, die ihnen angemessenes Verhalten in allen Lebenslagen vorgeben. In unserer schnelllebigen Konsumwelt, in der es alles, nur keine fertigen Pakete für richtiges Leben zu kaufen gibt, müssen Kinder lernen, ihre Ziele und Regeln ständig neu auszuhandeln. Und sie müssen selbstbewusst genug sein, um dem Einfluss des Zeitgeistes, der Medienflut, politischer und religiöser Manipulierung einen eigenen kritischen Standpunkt entgegenzusetzen. Das heißt, sie müssen mehr denn je Selbsteinschätzung und -verantwortung entwickeln, um den großen Freiheitsgrad unserer Gesellschaft unbeschadet nutzen zu können.

Kurzum, wir brauchen heute Menschen, die trotz allem persönlichen Ehrgeiz und beruflichem Erfolgsdenken tolerant, solidarisch und kritisch sind - Menschen, die Mut zur Kreativität und zum Querdenken haben und die Lernen als lebenslangen Prozess verstehen.

"Es geht um eine Persönlichkeitsbildung, die es möglich macht, unsere Informationsgesellschaft engagiert mitzugestalten, und die uns wetterfest genug macht, auch nach persönlichen Rückschlägen nicht zu resignieren, sondern nach neuen Chancen zu suchen. Unter dieser Lebenskompetenz verstehe ich folgende Eigenschaften: Selbstständigkeit und Bildungsfähigkeit, Verantwortungsbereitschaft und Verlässlichkeit, Kreativität, Wahrnehmungsfähigkeit und Urteilskraft, Toleranz, Kultur- und Weltoffenheit. Aber auch ein In-sich-selbst-ruhen" (Herzog 1998).

Es ist ein ganzheitliches Menschenbild, das der Ex-Bundespräsident Roman Herzog fordert. Es stellt hohe Anforderungen an Eltern, Erzieher und Lehrer. Höchste Zeit also für den Abschied vom alten Pauksystem und für pädagogische Innovationen! Es gilt nun, die Teamarbeit zu fördern und Lernmethoden einzusetzen, die alle Fähigkeiten des Kindes erschließen. "Bildung kann nicht länger eine große Sonderveranstaltung sein, die gewissermaßen vom Leben abgekoppelt ist" (Herzog 1998).

Denn Lernen ist heute mehr als nur der Erwerb von Wissen und Kulturtechniken. Die Tatsache, dass Kinder sich eines Tages alle Informationen aus dem Internet in ihr Gehirn herunterladen können, kann hilfreich und schädlich zugleich sein. Denn unsere Gesellschaft verdoppelt ihre Wissensmenge alle fünf Jahre! Also ist die Quantität von Informationen zweitrangig geworden. Die Qualität, mit ihnen umzugehen und sie effektiv einzusetzen, ist heute für Kinder entscheidend!

"Die neuen Medien akkumulieren und servieren Millionen von Informationsschnipseln. Wer Probleme lösen will, muss Ordnungen im Informationsbrei schaffen. Und es muss die Kunst des Weglassens und des Abschaltens gelernt werden. Kinder müssen lernen: Wie wähle ich Informationen aus, wie organisiere und beurteile ich sie, wie komme ich zu Entscheidungen und Lösungen?" (Herzog 1998).

Die Informationsgesellschaft hat eine neue Kindheit hervorgebracht, die wie nie zuvor nach ganzheitlicher Erziehung lechzst. Kinder brauchen heute Lebensräume, in denen das Wahrnehmen, Fühlen, Denken und Bewegen eine Einheit bilden. Es geht um das Erziehen und Lernen mit allen Sinnen - mit Kopf, Herz und Hand! Wenn wir alle bereit sind, den verlorenen Zusammenhang von Greifen und Begreifen, von Wirken und Wirklichkeit wiederzuentdecken, dann werden wir die neue Kindheit als Chance für eine Neubesinnung unserer Erziehung verstehen: Erziehungmuss heute den Menschen in seiner Ganzheit verstehen, mit all seinen Anlagen und Bedürfnissen, seinen Interessen und Gefühlen.

Literatur

Herzog, Roman: Erziehung im Informationszeitalter. Rede des Ex-Bundespräsidenten zur Eröffnung des Paderborner Podiums im Heinz Nixdorf Museums-Forum am 9. Juni 1998.

Hurrelmann, Klaus: Familienstress, Schulstress, Freizeitstress. Gesundheitsförderung für Kinder und Jugendliche. Weinheim 1990.

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