Martin R. Textor
Vorbemerkung: Dieser Artikel wurde 1991 verfasst. Er bezieht sich somit in erster Linie auf die "Gastarbeiter", die ab den 1960er Jahren nach Deutschland kamen, und auf deren Familien. Der Begriff "Familien mit Migrationshintergrund" wurde in den 1990er Jahren nicht verwendet.
In den letzten beiden Jahrzehnten hat die Zahl der berufstätigen Ausländer abgenommen. Aufgrund ihrer schlechteren Qualifikationen (wenige Jahre Schulbildung, keine deutschen Maßstäben entsprechende Berufsausbildung), aber auch aufgrund von Diskriminierung, finden Ausländer zumeist nur schlecht bezahlte Arbeit und haben wenig Aufstiegsmöglichkeiten. Da sie die deutsche Sprache nicht vollkommen beherrschen, stehen ihnen selten Angestelltenberufe offen. So fallen Ausländerhaushalte in der Regel in untere und mittlere Einkommensgruppen. Auch sind Ausländer aufgrund ihrer schlechteren Qualifikationen stärker von Arbeitslosigkeit bedroht als Deutsche; ihre Arbeitslosenquote ist besonders hoch.
Zumeist sind die Wohnverhältnisse von Ausländerfamilien schlecht. Ihre Wohnungen sind vielfach zu klein (geringere Pro-Kopf-Wohnfläche als bei Deutschen) und unzureichend ausgestattet hinsichtlich sanitärer Anlagen, Heizung und Kälteschutz. Dennoch ist die Miete häufig überdurchschnittlich hoch. Viele wohnen in Sanierungsgebieten oder reinen Ausländervierteln, in denen es oft an Spielplätzen, Erholungsräumen und sozialen Einrichtungen mangelt, das Verkehrsaufkommen jedoch recht groß sein kann. Die meisten Ausländer leben gerne in einem Stadtteil mit einem hohen Ausländeranteil, da sie sich dort unter ihresgleichen wohler fühlen als in einem hauptsächlich von Deutschen bewohnten Viertel.
Viele Ausländerfamilien sind nur schlecht in die deutsche Gesellschaft integriert. Der Kontakt zu Deutschen ist zumeist etwas intensiver, wenn Ausländer relativ jung sind, gute Deutschkenntnisse besitzen, bereits lange in der Bundesrepublik Deutschland leben, eine deutsche Schule besuchen (beziehungsweise besucht haben) oder in einem Gebiet mit geringem Ausländeranteil wohnen. Auch Ausländer der zweiten Generation berichten von mehr Freundschaften. Am besten haben sich in der Regel Jugoslawen und Spanier in die deutsche Gesellschaft eingefügt, am wenigsten hingegen Türken: Sie haben weniger Kontakt zu Deutschen und fühlen sich häufiger ungerecht behandelt (Statistisches Bundesamt 1985, 1987a). Auch haben sie einen besonders extremen Kontextwechsel erlebt, da sie aus einem überwiegend agrarisch strukturierten und durch den Islam geprägten Herkunftsland in eine moderne, hoch industrialisierte Gesellschaft wechselten. Für sie ist der aus der Lösung aus der traditionellen ethnischen Gruppe und den Verlust von Verwandtschaftskontakten resultierende Stress besonders groß.
Generell fühlte sich jeder fünfte Ausländer in seinem Wohlbefinden stark oder sogar sehr stark beeinträchtigt, weil er von Deutschen nicht geachtet oder ungerecht behandelt wurde. In Ausländerfamilien sind zumeist geschlechtsspezifische Rollenunterschiede stärker ausgeprägt als in deutschen. So werden beispielsweise Mütter noch seltener von ihren Partnern bei Haushaltsführung und Kinderbetreuung entlastet. In vielen Fällen ist nach der Einreise in die Bundesrepublik Deutschland jedoch auch eine Tendenz zu mehr Gleichberechtigung und Mitbestimmung der Frauen festzustellen, die mit einer stärkeren Emotionalisierung der Gattenbeziehung und einer größeren Achtung der Frau durch den Mann verbunden ist. Hier dürfte von Bedeutung sein, dass viele Frauen in der Bundesrepublik Deutschland (erstmals) erwerbstätig werden und oft einen hohen Beitrag zum Haushaltseinkommen leisten. Da ihre Kinder aufgrund der (im Vergleich zu den Herkunftsländern) sehr viel längeren Schul- und Ausbildungszeit länger von der Familie abhängig bleiben und ihre Erziehung größere Anforderungen an die Eltern stellt, gewinnen viele Frauen einen höheren Status auch aufgrund der größeren Bedeutung ihrer erzieherischen Tätigkeit.
Erwerbstätige Mütter sind aufgrund der Mehrfachbelastung durch Beruf, Haushalt und Erziehung oft physisch und psychisch erschöpft - vor allem, wenn sie mehrere Kleinkinder versorgen müssen. Vielfach stellt sich für sie auch das Problem der Kinderbetreuung während ihrer berufsbedingten Abwesenheit. So stehen zum Beispiel Großeltern nur selten zur Verfügung. Auch mangelt es generell an Plätzen in Krippen, Kindergärten und Horten. Zudem ist es in ihren Heimatländern unüblich, Kinder in Tagespflege zu geben.
Das vorgenannte Problem, die in der Bundesrepublik Deutschland sehr hohen Kosten für Kinder und die beengten Wohnverhältnisse dürften dazu beigetragen haben, dass im Verlauf der letzten Jahre bei Ausländerfamilien die Geburtenzahl sehr stark zurückgegangen ist. Jedoch werden noch immer höhere Kinderzahlen in Ausländerfamilien erreicht. Vielfach spielt beim Kinderwunsch die Erwartung eine Rolle, dass die Kinder später finanzielle Leistungen für die Herkunftsfamilie und einen Beitrag zur Alterssicherung ihrer Eltern erbringen werden.
Ausländische Eltern besitzen oft weniger Erziehungswissen als deutsche. Zudem praktizieren sie noch häufiger einen autoritären Erziehungsstil. Vielfach erfolgt die Verhaltenskontrolle aber auch über zärtliche Beschützung, Behütung und emotionale Bindung. Viele Sozialisationspraktiken ausländischer Eltern wandeln sich mit zunehmender Dauer ihres Aufenthalts in der Bundesrepublik Deutschland, während bei ihren Erziehungseinstellungen eine Veränderung weniger deutlich ist. So wird zum Beispiel ihre Erziehung im Verlauf der Zeit weniger autoritär und geschlechtsspezifisch.
Ausländische Eltern tendieren dazu, bei der Erziehung von Söhnen deutsche Leitbilder zu beachten, während sie sich bei der Erziehung von Töchtern mehr an ihren eigenen Kindheitserfahrungen orientieren. Mit zunehmender Integration in den deutschen Kulturkreis werden Mädchen weniger und Jungen etwas mehr zur Hausarbeit herangezogen. Generell werden in ausländischen Familien Kinder mehr an der Hausarbeit und der Betreuung jüngerer Geschwister beteiligt.
Ausländische Kinder besuchen seltener einen Kindergarten als deutsche. So werden sie oft zu wenig auf die Schule vorbereitet und erhalten keine Sprachförderung. Viele bleiben aufgrund ihrer mangelnden Sprachkenntnisse schon in der Grundschule sitzen. Manche erwerben keinen Schulabschluss –beim vorzeitigen Schulabgang beherrschen sie häufig weder die deutsche noch ihre Herkunftssprache. Viele Schüler besuchen aber auch Hausaufgabenhilfen oder erhalten privaten Nachhilfeunterricht, sodass es ihnen häufiger gelingt, qualifizierte Schulabschlüsse zu erwerben. Immer mehr ausländische Kinder wechseln zudem an weiterführende Schulen mit dem Ziel eines späteren Studiums. Aber auch für sie sind Schwierigkeiten mit der deutschen Sprache oft ein großes Problem.
Ausländische Schüler fühlen sich vielfach gegenüber ihren Mitschülern benachteiligt. Sie erfahren sie als unabhängiger und freizügiger, lehnen aber meistens ein derartiges Verhalten für sich selbst ab. Häufig erleben sie Schwierigkeiten im Kontakt zu deutschen Kindern und Jugendlichen. Hinzu kommt, dass die Möglichkeiten von Mädchen, sich Gruppen gleichaltriger Deutscher anzuschließen, von ihren Eltern zumeist stark eingeschränkt werden. Sie werden seltener aufgeklärt und sollen ihre Jungfräulichkeit bis zur Ehe bewahren. So haben sie nur selten gegengeschlechtliche Freunde. Ihre Freizeit spielt sich in erster Linie in der Familie ab - sie helfen im Haushalt, hören Musik, lesen oder schauen Fernsehen.
Viele ausländische Kinder werden erst in der Schule intensiver mit deutschen Werten, Normen und Erziehungszielen konfrontiert. Diese werden wohl von ihren Eltern toleriert, aber nur ansatzweise übernommen. So wachsen die Kinder in zwei Kulturen auf: Sie erleben in ihrer Familie die Heimatkultur, außerhalb der Familie die deutsche Kultur. Da Integrationsbemühungen in der Schule zumeist nur sprachbezogen sind, erfahren die Kinder nur wenig Vermittlung zwischen beiden Kulturen. So besteht die Gefahr von Kulturkonflikten und Orientierungsschwierigkeiten. In vielen Fällen erweist sich der Einfluss der in der Familie erfahrenen Heimatkultur als stärker - zudem rechnen die älteren Familienmitglieder auch damit, dass sie irgendwann in ihr Herkunftsland zurückkehren werden, und drängen dementsprechend auf ein Beibehalten der dort vorherrschenden Sitten und Gebräuche. In anderen Fällen passen sich Jugendliche und junge Erwachsene aber stärker an die deutsche Kultur an und geraten dann oft in Konflikte mit ihren Eltern. Sie stellen auch eher Vergleiche der eigenen Lebensbedingungen mit denen der Deutschen als mit denen in ihrem Heimatland an. Da ihre Lebens- und Arbeitssituation zumeist schlechter als die der meisten Deutschen ist, sind sie häufig unzufrieden und fühlen sich benachteiligt.
Mit zunehmender Dauer ihres Aufenthalts in der Bundesrepublik Deutschland entfremden sich aber alle Ausländer immer mehr ihrer Heimatkultur. Zudem bekommen sie den dort ablaufenden, oft sehr raschen soziokulturellen Wandel nicht mehr mit. So wird die heimatliche Kultur ebenfalls fremd, ist auch bei einer Rückkehr in das Herkunftsland mit Anpassungsschwierigkeiten zu rechnen.
Literatur
Galanis, G.: Griechische Migrantenmädchen von 15 bis 18 Jahren in Deutschland. In: Stiksrud, A./Wobit, F. (Hrsg.): Adoleszenz und Postadoleszenz. Beiträge zur angewandten Jugendpsychologie. Eschborn 1985, S. 126-137
Nauck, B.: Zwanzig Jahre Migrantenfamilien in der Bundesrepublik Deutschland. Familiärer Wandel zwischen Situationsanpassung, Akkulturation und Segregation. In: Nave-Herz, R. (Hrsg.): Wandel und Kontinuität der Familie in der Bundesrepublik Deutschland. Stuttgart 1988, S. 279-297
Nauck, B.: Individualistische Erklärungsansätze in der Familienforschung: die rational-choice Basis von Familienökonomie, Ressourcen- und Austauschtheorien. In: Nave-Herz, R./Markefka, M. (Hrsg.): Handbuch der Familien- und Jugendforschung. Bd. 1: Familienforschung. Neuwied 1989, S. 45-61
Nauck, B./Özel, S.: Erziehungsvorstellungen und Sozialisationspraktiken in türkischen Migrantenfamilien. Eine individualistische Erklärung interkulturell vergleichender empirischer Befunde. Zeitschrift für Sozialisationsforschung und Erziehungssoziologie 1986, 6, S. 285-312
Textor, M. R.: Was wird aus unseren Migrantenkindern? Familiensituation und Lebensweg. 2008, https://www.kindergartenpaedagogik.de/fachartikel/soziologie/1738/