Martin R. Textor
In den 1960er und 1970er Jahren waren die Verhältnisse klar: Während der frühen Kindheit waren die Eltern für die Erziehung und Bildung ihrer Kinder verantwortlich. Nur ein Teil der Kleinkinder - zumeist Vier- und Fünfjährige - besuchte den (Halbtags-) Kindergarten, um soziale Kompetenzen zu erwerben und das Leben in einer Gruppe kennen zu lernen. Ab dem 6. Lebensjahr der Kinder übernahm die Schule die Bildung, aber nur für den Vormittag. Die Eltern blieben für die Erziehung zuständig sowie nachmittags und an den Wochenenden für die Bildung (z.B. für die Hausaufgaben und die Vorbereitung von Prüfungen).
Heute besuchen nahezu alle Drei- bis Fünfjährigen eine Kindertageseinrichtung, und zwar zunehmend ganztags: Nur noch ein Viertel der Kinder wird für weniger als fünf Stunden betreut. Auch immer mehr Ein- und Zweijährige befinden sich in Kindertagesbetreuung; bis zum Jahr 2013 soll es genug Plätze für ein Drittel aller Kinder unter drei Jahren geben. Kindertagesstätten werden nicht mehr als familienergänzende Einrichtungen der Sozialerziehung gesehen, sondern als Bildungseinrichtungen: Gesetze und Bildungspläne der Bundesländer sehen eine alle Bereiche der kindlichen Entwicklung umfassende Bildung und Erziehung von Kleinkindern vor. Schulkinder sind nicht mehr wie früher nur vormittags in der Schule, sondern zunehmend auch nachmittags. Immer häufiger werden die Hausaufgaben während der Schülermittagsbetreuung, in Ganztagsschulen oder im Kinderhort erledigt.
In den letzten 50 Jahren sind Erziehung und Bildung somit zunehmend vergesellschaftet worden: (Klein-) Kinder verbringen inzwischen mehr Zeit (in der sie wach sind) in öffentlichen Einrichtungen als in ihren Familien (siehe www.kindergartenpaedagogik.de/2227.html). Ältere Kinder und Jugendliche - insbesondere Gymnasiasten - müssen inzwischen auch während eines großen Teils der ihnen verbleibenden Freizeit für den Unterricht lernen, ohne dass ihre Eltern ihnen noch helfen können. So wirkt die Schule in die Familie hinein.
Je weniger Zeit Eltern mit ihren Kindern verbringen, umso geringer wird ihr Einfluss auf deren Entwicklung. Dennoch werden sie immer noch für die Erziehung und Bildung ihrer Kinder verantwortlich gemacht. Das ist nicht richtig! Je mehr die Erziehung und Bildung von (Klein-) Kindern vergesellschaftet wird und je umfassender in Gesetzen, Bildungs- und Lehrplänen der Auftrag von Kindertageseinrichtungen und Schulen definiert wird, umso mehr Verantwortung für die kindliche Entwicklung hat der Staat. Und es ist höchste Zeit, dass die Politik auch dazu steht!
In dem 1960er und 1970er Jahren konnten Kindertageseinrichtungen und Schulen noch die Eltern dafür verantwortlich machen, wenn ein in Deutschland geborenes Migrantenkind die deutsche Sprache nicht beherrschte, ein durchschnittlich begabtes Kind aus einer Arbeiterfamilie nicht den Hauptschulabschluss erreichte oder ein hoch begabtes Kind in die Sonderschule kam. Eine solche "Schuldzuweisung" kann heute nicht mehr gerechtfertigt werden, wenn bereits Kleinkinder mehr Zeit des Wachseins in öffentlichen Einrichtungen als in der Familie verbringen. Und das wird noch weniger gerechtfertigt werden können, wenn z.B. Kinder von HartzIV-Empfängern - wie von der Bundesregierung geplant - Sachleistungen wie die Betreuung in einer Kinderkrippe erhalten sollen, damit sie gleiche Startchancen wie Mittelschichtskinder haben (und ihre Eltern finanzielle Leistungen nicht "veruntreuen" können).
Wenn aber ein Staat gleiche Bildungschancen verspricht, wenn er dazu öffentliche Einrichtungen schafft, in denen Kinder den überwiegenden Teil des Tages verbringen, und wenn er zu deren Erziehung und Bildung sozialpädagogische Fachkräfte und Lehrer/innen einsetzt, von denen man (im Gegensatz von Eltern) eine professionelle Dienstleistung verlangen kann, dann ist der Staat auch dafür verantwortlich, wenn ein Kind sich nicht seiner Begabung entsprechend entwickelt oder verhaltensauffällig wird.
Erziehung und Bildung, die in öffentlicher Verantwortung erfolgen, sind Dienstleistungen, die den Kindern und ihren Eltern gegenüber von sozialpädagogischen Fachkräften und Lehrer/innen erbracht werden. Wenn in anderen Dienstleistungsberufen die erbrachten Leistungen nicht den Vorgaben entsprechen, besteht ein Anspruch auf Entschädigung: Die Kunden werden auf die eine oder andere Weise entschädigt. Das sollte auch für Kindertageseinrichtungen und Schulen gelten: Beispielsweise lässt sich die Intelligenz eines Kindes relativ verlässlich mit Hilfe von Intelligenztests bestimmen. Sollte ein Grundschüler den Übergang in das Gymnasium nicht schaffen, obwohl er einen IQ von 120 hat, hat die Grundschule (und/oder die zuvor besuchte Kindertageseinrichtung) versagt. Stellt ein Heranwachsender fest, dass er in einem hohen Maße für Musik begabt ist (und dies mit Hilfe entsprechender Tests belegt werden kann), diese Begabung von Erzieher/innen und Lehrer/innen aber nie entdeckt und dementsprechend nicht gefördert wurde, hat das Bildungssystem versagt. Wurde ein Kind über einen längeren Zeitraum hinweg von Klassenkameraden gemobbt und ist es deshalb verhaltensauffällig geworden, hat die Schule Schuld, weil die Lehrkräfte ihre Schüler/innen nicht genügend beobachtet bzw. bei Mobbing nicht eingegriffen haben. In solchen und ähnlich gravierenden Fällen sollte den Geschädigten ein Rechtsanspruch auf Entschädigung eingeräumt werden!
Dieser Anspruch sollte gegenüber dem Staat bestehen - keinesfalls gegenüber (einzelnen) Erzieher/innen oder Lehrer/innen. Denn der Staat ist für die Aus- und Fortbildung der in Bildungseinrichtungen tätigen Personen und für die Rahmenbedingungen zuständig. Wenn Fach- bzw. Lehrkräfte keine gute pädagogische Arbeit leisten können, weil ihnen nicht die für das Erkennen von besonderen Begabungen oder von psychischen Problemen nötigen Kompetenzen vermittelt wurden, weil sie nicht im Umgang mit verhaltensauffälligen oder wenig motivierten Kindern geschult wurden, weil sie keine modernen Lehrmethoden beherrschen, weil ihre Kindergruppen bzw. Schulklassen zu groß sind usw. usf., dann ist der Staat dafür verantwortlich. Nur in Kindertageseinrichtungen (und Schulen) mit einem freien Träger (z.B. einer Kirche oder einem Wohlfahrtsverband) ist dieser mitverantwortlich - aber nur in einem sehr begrenzten Rahmen, da auch in diesen Fällen der Staat die Ausbildung der Fach- bzw. Lehrkräfte, die Vorgaben für ihre pädagogische Arbeit (z.B. Kita- und Schulgesetze, Bildungs- und Lehrpläne) und die Rahmenbedingungen verantwortet.
Die vom Staat bei einem Versagen der öffentlichen Bildung und Erziehung zu leistende Entschädigung könnte finanzieller Natur sein (z.B. "Schmerzensgeld" für Eltern, wenn ihr Kind in der Schule schwer verhaltensauffällig geworden ist und nun die ganze Familie darunter leidet) und/oder in der Form von Maßnahmen erfolgen, die weit über die derzeitigen Angebote (wie Verweis der Eltern an eine Frühförder- oder Erziehungsberatungsstelle, Umschulung des Kindes in eine Sonderschule, Jugendsozialarbeit usw.) hinaus gehen sollten: Ist z.B. ein überdurchschnittlich intelligentes Kind in der 4. Grundschulklasse aufgrund seiner Leistungen oder seines Verhaltens nicht "reif" für das Gymnasium, hat die Schule die Ursachen zu ermitteln und diesen durch "geballte" Fördermaßnahmen zu begegnen. Wird erst in der 7. Klasse eine musikalische Hochbegabung entdeckt, sind die von Fachleuten empfohlenen Maßnahmen zu finanzieren. Ist ein Kind sehr schüchtern und ängstlich, beteiligt es sich deshalb kaum am Unterricht und kann es somit sein Potenzial nicht entfalten, wird so früh wie möglich ein Selbstsicherheitstraining oder eine ähnliche Maßnahme in die Wege geleitet.
Wenn der Staat die von einer misslingenden öffentlichen Bildung und Erziehung Betroffenen entschädigen muss, wird er größtes Interesse daran entwickeln, dass Kindertageseinrichtungen und Schulen auf dem höchsten realisierbaren Qualitätsniveau operieren. Er wird die Aus- und Fortbildung von Erzieher/innen und Lehrer/innen verbessern, die Gruppen- bzw. Klassenstärken reduzieren, diagnostische, (heil-, sonder-) pädagogische und beraterische Kompetenzen von Fach- und Lehrkräften schulen, ihnen Zeit für das Gespräch mit einzelnen Kindern bzw. für deren individuelle Förderung einräumen, Qualitätssicherungsmaßnahmen einführen, unfähige Mitarbeiter/innen entlassen etc.
Die Gesellschaft sollte ein großes Interesse daran haben, dass der Staat endlich die Verantwortung für eine unzureichende oder misslingende Bildung und Erziehung übernimmt und unverzüglich kompensierende Maßnahmen einleitet: Schließlich finanzieren die Bürger/innen über ihre Steuern und Sozialabgaben Menschen über viele Jahrzehnte hinweg, die z.B. die Schule nicht abgeschlossen haben und deshalb (auf Dauer) keine Arbeit finden, die aufgrund ihres Verhaltens keinen Ausbildungsplatz bekommen und mangels Lebensperspektiven kriminell geworden sind oder die aufgrund von in der Schulzeit entstandenen psychischen Problemen seelisch behindert sind. Die Gesellschaft hat aber nicht nur ein Interesse daran, dass ihr solche Kosten erspart bleiben, sondern es wird für sie auch immer wichtiger, dass das Potenzial eines jeden jungen Menschen voll entfaltet wird: Schließlich wird es in den kommenden Jahrzehnten unter Rahmenbedingungen wie Wissensgesellschaft, verstärkter Wettbewerbsdruck durch Schwellenländer, Überalterung der deutschen Bevölkerung usw. auf die Leistung eines jeden Erwachsenen im Erwerbsalter ankommen - und diese sollte "Spitze" sein!
Anmerkung
Ergänzende Ausführungen können unter www.kindergartenpaedagogik.de/2227.html abgerufen werden.