Rainer Kessler
1. Allgemeines
Die wichtigste gesetzliche Grundlage des Kinder- und Jugendhilferechts wird in Literatur und Rechtsprechung mit unterschiedlichen Abkürzungen zitiert: mal als SGB VIII, mal als KJHG. Heißt das vielleicht, dass beide Zitierweisen richtig sind und man sich je nach Geschmack für die eine oder andere entscheiden kann? Wer auf formale Korrektheit wenig Wert legt, mag das so sehen und sich von dem Gedanken leiten lassen, dass "die Bezeichnung 'KJHG' ... einen Inhalt transportiert, während die Bezeichnung 'SGB VIII' blutleer und technokratisch erscheint" (Wiesner 2000, S. 110). Richtig ist indes allein die Bezeichnung "SGB VIII"; sie steht für "Sozialgesetzbuch (SGB) Achtes Buch (VIII) Kinder- und Jugendhilfe". Das SGB VIII wurde eingeführt durch das "Gesetz zur Neuordnung des Kinder- und Jugendhilferechts (Kinder- und Jugendhilfegesetz - KJHG)" vom 28. 6. 1990 (BGBl. I S. 1163), und zwar als Art. 1 dieses Gesetzes. Die weiteren Artikel des KJHG beinhalten Änderungen anderer Gesetze (z.B. des BGB) sowie Überleitungs- und Schlussvorschriften. Von daher ist es ungenau, wenn etwa hinsichtlich der Hilfe zur Erziehung "§ 27 KJHG" zitiert wird. Wer unbedingt die Abkürzung KJHG verwenden will, müsste eigentlich "Art. 1 § 27 KJHG" schreiben. Besser (und richtig) ist dann doch: § 27 SGB VIII.
Im Übrigen ist diese Abkürzung nicht inhaltsleer, verweist sie doch auf den inhaltlich höchst bedeutsamen Umstand, dass das Kinder- und Jugendhilferecht in das Sozialgesetzbuch integriert und damit Teil des Sozialrechts ist.
2. Zum Begriff des Sozialrechts
In der rechtswissenschaftlichen Diskussion unterscheidet man zwischen einem formellen und einem materiellen Sozialrechtsbegriff (vgl. v. Maydell 1996, Rz 6 ff.).
Zum Sozialrecht im formellen Sinne gehören diejenigen Rechtsbereiche, welche Bestandteile des Sozialgesetzbuchs sind. Auf das Kinder- und Jugendhilferecht trifft dies zweifellos zu.
Beim materiellen Sozialrechtsbegriff geht es um eine inhaltliche Umschreibung. Ausgangspunkt für diese sind die Ziele des Sozialrechts, wie sie im Allgemeinen Teil des SGB (vgl. dazu unten 3.) aufgeführt sind (§ 1 Abs. 1). Das Sozialrecht soll hiernach zur Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit und sozialer Sicherheit Sozialleistungen einschließlich sozialer und erzieherischer Hilfen gestalten. Es soll dazu beitragen,
- ein menschenwürdiges Dasein zu sichern,
- gleiche Voraussetzungen für die freie Entfaltung der Persönlichkeit, insbesondere auch für junge Menschen, zu schaffen,
- die Familie zu schützen und zu fördern,
- den Erwerb des Lebensunterhalts durch eine frei gewählte Tätigkeit zu ermöglichen und
- besondere Belastungen des Lebens, auch durch Hilfe zur Selbsthilfe, abzuwenden oder auszugleichen.
Bei diesem Zielkatalog handelt es sich um eine Konkretisierung des Sozialstaatsprinzips (Art. 20, 28 GG). "Danach hat der Staat die Rahmenbedingungen für die Entfaltung der Freiheitsrechte des einzelnen zu schaffen, namentlich Menschenwürde, Handlungsfreiheit, Familie und Erwerbsfreiheit (Art. 1, 2, 6 12 GG) zu sichern." (Eichenhofer 1997, Rz 7) Wenn das Sozialrecht mithin die materiellen Voraussetzungen für die Freiheitsausübung gewährleisten soll, so ist dies Ausdruck des Postulats der sozialen Gerechtigkeit. Mit diesem steht die soziale Sicherheit als sozialstaatliche Zielsetzung (Sicherung eines Existenzminimums in Notfällen bzw. Sicherung erworbenen Lebensstandards bei Eintritt bestimmter Risiken) in engem Zusammenhang, "da soziale Gerechtigkeit nicht ohne soziale Sicherheit denkbar ist" (Schulin/Igl 1999, Rz 9).
Von daher kann kein Zweifel daran bestehen, dass das Kinder- und Jugendhilferecht auch im materiellen Sinne Teil des Sozialrechts ist. Wie Richter (2000) eingehend begründet, lässt sich nämlich das SGB VIII als Konkretisierung von Grundrechten (z.B. Art. 2 Abs. 1, 6 GG), deren gleiche Inanspruchnahme der Staat gewährleisten muss, und zugleich als Umsetzung der Sozialstaatsklausel des GG verstehen.
3. Das (unvollendete) Sozialgesetzbuch
Das Sozialrecht ist gegenwärtig noch in eine Vielzahl von Einzelgesetzen aufgesplittert. Allerdings wird - schon seit den 70er Jahren - daran gearbeitet, die sozialrechtlichen Gesetze des Bundes zu einem einheitlichen Gesetzbuch (Sozialgesetzbuch bzw. SGB) zusammenzufassen. Wesentliche Teile des SGB sind bereits in Kraft getreten.
Das SGB unterteilt sich in einzelne Bücher. Neben dem Buch I: Allgemeiner Teil (SGB I) beinhaltet es mehrere besondere Teile. Die Vorschriften des SGB I (z.B. über das Sozialgeheimnis oder die Mitwirkung des Leistungsberechtigten) gelten für alle Sozialleistungsbereiche. Auch das Buch X: Verwaltungsverfahren ... (SGB X) enthält Bestimmungen für alle Sozialleistungsbereiche (z.B. über die Akteneinsicht oder die Datenerhebung, -verarbeitung und -nutzung). Die übrigen besonderen Teile des SGB gelten dagegen jeweils nur für bestimme Sozialleistungsbereiche. Sie beinhalten vor allem die Vorschriften über Voraussetzungen, Art und Umfang der einzelnen Sozialleistungen.
Bislang sind folgende Bücher des SGB in Kraft getreten:
Buch I: Allgemeiner Teil (SGB I) [ 01.01.1976]
Buch III: Arbeitsförderung (SGB III) [01. 01. 1998]
Buch IV: Gemeinsame Vorschriften für die Sozialversicherung (SGB IV) [ 01.07.1977]
Buch V: Gesetzliche Krankenversicherung (SGB V) [ 01.01.1989]
Buch VI: Gesetzliche Rentenversicherung (SGB VI) [ 01.01.1992]
Buch VII: Gesetzliche Unfallversicherung (SGB VII) [01.01. 1997]
Buch VIII: Kinder- und Jugendhilfe (SGB VIII) [ 01.01.1991]
Buch X: Verwaltungsverfahren, Schutz der Sozialdaten, Zusammenarbeit der Leistungsträger und ihre Beziehungen zu Dritten (SGB X) [ 01.01.1981 bzw. 01.07.1983]
Buch XI: Soziale Pflegeversicherung (SGB XI) [ 01.01.1995].
Im Gesetzgebungsverfahren befindet sich z.Z. das Buch IX: Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen (SGB IX).
Mehrere sozialrechtliche Gesetze, die der Konzeption nach Bestandteil des SGB sein sollen, wurden bislang noch nicht in dieses eingefügt (z.B. Bundessozialhilfegesetz). Es gibt allerdings eine Übergangsvorschrift (Art. II § 1 SGB I), wonach bestimmte - einzeln aufgeführte - Gesetze bis zu ihrer Einordnung in das SGB als besondere Teile des SGB gelten. Zu diesen Gesetzen gehören u.a.: das Bundesausbildungsförderungsgesetz, das Bundesversorgungsgesetz, das Bundeskindergeldgesetz, das Wohngeldgesetz, das Bundessozialhilfegesetz, das Adoptionsvermittlungsgesetz, das Unterhaltsvorschußgesetz, der 1. Abschnitt des Bundeserziehungsgeldgesetzes, das Altersteilzeitgesetz, das Gesetz zur Hilfe für Frauen bei Schwangerschaftsabbrüchen in besonderen Fällen. Aus der Übergangsvorschrift folgt: Auch in den durch die genannten Gesetze geregelten Sozialleistungsbereichen gelten die Vorschriften des SGB I und des SGB X.
Wie die Entwicklung des SGB weitergeht, d.h. welche Gesetze (nach Verabschiedung des SGB IX) überarbeitet und in das SGB eingefügt werden, ist z.Z. nicht absehbar (vgl. dazu Zacher 2001, S. 25 ff.).
4. Sonstiges Sozialrecht
Es gibt einige Leistungsbereiche, die zwar Funktionen der sozialen Sicherheit erfüllen, aber gleichwohl nicht in das SGB aufgenommen werden (Sozialrecht im materiellen Sinne). Dazu gehören Sondersysteme, die dem Ausgleich von Schäden infolge des 2. Weltkrieges und des NS-Regimes dienen (z.B. Lastenausgleich, geregelt im Lastenausgleichsgesetz). Des weiteren werden auch die Versorgungssysteme der Beamten, Richter und Soldaten sowie der Ärzte und anderer in Kammern organisierter Berufsgruppen nicht in das SGB einbezogen. Ein neueres Sozialleistungsgesetz, das nicht zum SGB gehört, ist das Asylbewerberleistungsgesetz.
Völlig außerhalb des Sozialrechts liegen dagegen die betrieblichen Sozialleistungen (die einschlägigen gesetzlichen Vorschriften gehören zum Arbeitsrecht) und die sozialpolitisch motivierten Steuervergünstigungen (die einschlägigen gesetzlichen Vorschriften gehören zum Steuerrecht).
5. Paradigmenwechsel in der Kinder- und Jugendhilfe?
In der Fachdiskussion stößt man häufig auf die These, mit dem SGB VIII sei ein neues Verständnis der Kinder- und Jugendhilfe als soziale Dienstleistung - im Gegensatz zum vorwiegend an Kontrolle und Eingriff orientierten alten Jugendwohlfahrtsgesetz (JWG) - fixiert worden (vgl. z.B. Wiesner 1997). Die Einbeziehung des Kinder- und Jugendhilferechts in das Sozialrecht könnte als Beleg für diese These herangezogen werden. "Die sozialrechtliche Ausgangslage hat aber nicht zur Folge, daß jeglicher Zwang oder Freiheitsentzug aus der Kinder- und Jugendhilfe verbannt wären. Das Familienrecht gibt weiterhin den Hintergrund dafür ab, Leistungen des Kinder- und Jugendhilferechts durch staatlichen Zwang zu erbringen. ... Darüber hinaus kennt das SGB VIII in einem Falle Zwang und Freiheitsentziehung auf eigenständiger Rechtsgrundlage. Dabei handelt es sich um die Inobhutnahme. In ihrem Rahmen sind unter den Voraussetzungen des § 42 Abs. 3 auch freiheitsentziehende Maßnahmen zulässig." (Mrozynski 1998, Einf., Rz 28) Sehr kontrovers wird die Frage eines (vermeintlichen) Paradigmenwechsels im Kinder- und Jugendhilferecht im Hinblick auf das Problem der strafrechtlichen Garantenstellung von Fachkräften des Jugendamtes in Fällen von Kindesmisshandlung und -vernachlässigung diskutiert (vgl. Fieseler 2000, S. 17, 21).
Literatur
Eichenhofer, Eberhard: Sozialrecht, 2. Auflage, Tübingen 1997
Fieseler, Gerhard: Staatliches Wächteramt und Garantenstellung von Mitarbeitern der Jugendhilfe, in: Sozialextra 7-8/2000, S. 14-23
Maydell, Bernd Baron von: Zur Einführung: Das Sozialrecht und seine Stellung im Gesamtsystem unserer Wirtschafts- und Rechtsordnung, in: ders./Franz Ruland (Hg.), Sozialrechtshandbuch, Neuwied etc. 1996, S. 1-23
Mrozynski, Peter: Kinder- und Jugendhilfegesetz (SGB VIII), 3. Auflage, München 1998
Richter, Ingo: Das Kinder- und Jugendhilferecht als Teil des Sozialrechts, in: Recht der Jugend und des Bildungswesens 2000, S. 112-123
Schulin, Betram/Igl, Gerhard: Sozialrecht, 6. Aufl., Düsseldorf 1999
Wiesner, Reinhard: Freud und Leid eines KJHG-Kommentators, in: Recht der Jugend und des Bildungswesens 2000, S. 110-111
Wiesner, Reinhard: Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG), in: Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge (Hg.), Fachlexikon der sozialen Arbeit, 4. Auflage, Frankfurt/M. 1997, S. 545-546
Zacher, Hans F.: Das Vorhaben des Sozialgesetzbuchs, in: Beiträge zum Recht der sozialen Dienste und Einrichtungen, Heft 47 (2001), S. 1-28