Martin R. Textor
Es ist ungerecht, dass es in Deutschland vom Wohnort einer Familie abhängt, wie hoch ihre Chancen sind, einen Platz in einer Kindertageseinrichtung zu finden. Die Extreme in den Stadt- und Landkreisen lagen 2009 bei den Besuchsquoten unter Dreijähriger zwischen 3,6% im Landkreis Leer (Niedersachsen) und 61,8% im Landkreis Jerichower Land (Sachsen-Anhalt) sowie bei den Drei- bis unter Sechsjährigen zwischen 77,2% im Kreis Dithmarschen (Schleswig-Holstein) und 108,6% in Neubrandenburg (Mecklenburg-Vorpommern) (Statistische Ämter des Bundes und der Länder 2010)1). Dies beinhaltet zum einen eine Ungleichbehandlung von Kindern, die unterschiedlich früh die Bildungseinrichtungen des Elementarbereichs besuchen können, und zum anderen eine Ungleichbehandlung von Eltern, die unterschiedlich gute Chancen haben, Familie und Beruf miteinander zu vereinbaren.
Es ist ungerecht, dass es in Deutschland vom Wohnort einer Familie abhängt, wie groß ihre Chancen sind, eine ganztägige Betreuung für ein unter sechsjähriges Kind zu finden. Die Extreme bei den Ganztagsquoten unter Dreijähriger lagen 2009 je nach Bundesland zwischen 24,9% (Baden-Württemberg) und 85,8% (Thüringen) sowie bei den Drei- bis unter Sechsjährigen zwischen 12,0% (Baden-Württemberg) und 89,6% (Thüringen) (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2010). Dies bedeutet zum einen eine Ungleichbehandlung von Kindern, die unterschiedlich lange die Bildungseinrichtungen des Elementarbereichs besuchen können, und zum anderen eine Ungleichbehandlung von Eltern, die unterschiedlich gute Chancen haben, Familie und Vollzeiterwerbstätigkeit miteinander zu vereinbaren.
Es ist ungerecht, es in Deutschland vom Wohnort einer Familie abhängt, wie viel Eltern für einen Kita-Platz bezahlen müssen. Beispielsweise müssen im Kindergartenjahr 2009/2010 laut einem Vergleich von 100 Städten Eltern bei demselben Bruttoeinkommen von 45.000 € und in der gleichen Situation (ein Einzelkind im Alter von vier Jahren, das halbtags vormittags für eine Zeit von vier bis fünf Stunden in den Kindergarten geht) für den Kindergartenplatz zwischen 0 € (11 Städte) und 1.752 € (Bremen) bezahlen - und bei einem Bruttoeinkommen von 80.000 € zwischen 0 € (11 Städte) und 2.520 € (Duisburg) (INSM-Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft 2010). Dies beinhaltet eine Ungleichbehandlung von Familien, die für dieselbe Leistung höchst unterschiedliche Beträge entrichten müssen.
Es ist ungerecht, dass in Deutschland 2009 mit knapp 47% ein geringerer Prozentsatz der unter sechsjährigen Kinder mit Migrationshintergrund eine Tageseinrichtung besuchte als der deutschen Kindern mit rund 61% (Pressemitteilung Nr. 091 des Statistischen Bundesamtes vom 10.03.2010). Dies bedeutet eine Ungleichbehandlung von Kindern mit bzw. ohne Migrationshintergrund - und eine besondere Benachteiligung von Migrantenkindern, da diese im Schulsystem nur gleiche Bildungschancen haben, wenn sie in der frühen Kindheit die deutsche Sprache lernen. Dabei sind sie in hohem Maße auf Kindertageseinrichtungen angewiesen, zumal bei 61,2% von ihnen eine andere Sprache als Deutsch vorrangig in der Familie gesprochen wird (Statistisches Bundesamt 2010).
Es ist ungerecht, wenn sich mehr als ein Drittel (34,1%) der Kinder mit nichtdeutscher Familiensprache - und sogar die Hälfte in Berlin (56,6%) und Bremen (49,1%) - in Kindertageseinrichtungen ballt, in denen mehr als 50% der Kinder zu Hause eine andere Sprache sprechen (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2010). Dies beinhaltet eine Ungleichbehandlung von Migrantenkindern, die in Kindertageseinrichtungen mit weniger als 25% Kinder mit nichtdeutscher Familiensprache bessere Lernchancen (bezogen auf das Erlernen der deutschen Sprache) haben als in Kindertageseinrichtungen mit mehr als 50% oder gar mit mehr als 75% Kinder mit nichtdeutscher Familiensprache.
Es ist ungerecht, dass es in Deutschland vom Wohnort einer Familie abhängt, wie ein behindertes Kleinkind betreut wird. Im Jahr 2009 variierten laut Bundesländer-Vergleich der Prozentsatz in Sondereinrichtungen zwischen den Extremen 0,0% (Sachsen-Anhalt) und 65,3% (Bayern) sowie der Anteil in integrativen Tagesstätten zwischen den Extremen 34,3% (Bayern) und 99,9% (Sachsen-Anhalt) (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2010). Dies impliziert eine Ungleichbehandlung behinderter Kinder.
Es ist ungerecht, dass es in Deutschland vom Wohnort eines Kindes abhängt, ob es in einer kleinen oder in einer großen Gruppe betreut wird. Im Vergleich der Bundesländer lagen 2007 die Extreme bei den Gruppengrößen in Kinderkrippen zwischen 8,1 (Bremen) und 13,4 Kindern (Hamburg) sowie in Kindergärten zwischen 15,1 (Rheinland-Pfalz) und 23,8 Kindern (Bayern bzw. Nordrhein-Westfalen) (Lange 2010). Dabei muss man berücksichtigen, dass es sich hier um Durchschnittswerte handelte: Viele Kleinkinder wurden also in noch größeren Gruppen betreut. Dies beinhaltet zum einen eine Ungleichbehandlung von Kindern, da nach wissenschaftlichen Untersuchungen die Qualität frühkindlicher Bildung mit der Gruppengröße korreliert, und zum anderen eine Ungleichbehandlung der Fachkräfte, die je nach Land mit unterschiedlich vielen Kindern pädagogisch arbeiten müssen.
Es ist ungerecht, dass es in Deutschland vom Wohnort eines Kindes abhängt, ob es sich die Zuwendung einer Fachkraft mit vielen oder wenigen Kindern teilen muss. So schwankte 2009 der Personalschlüssel im Vergleich der Bundesländer bei Kinderkrippen zwischen den Extremen 1 zu 3,5 (Saarland) und 1 zu 7,5 (Brandenburg) sowie bei Kindergärten zwischen 1 zu 7,4 (Bremen) und 1 zu 13,1 (Mecklenburg-Vorpommern) (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2010). Zum einen bedeutet dies eine Ungleichbehandlung von Kindern, wenn z.B. ein unter Dreijähriges in der einen Krippe die Pflege-, Erziehungs- und Betreuungszeit einer Fachkraft mit nur zwei und in der anderen Einrichtung mit sieben oder noch mehr Kleinstkindern teilen muss (es handelt sich auch bei den zuvor genannten "Extremen" um Durchschnittswerte), zumal nach wissenschaftlichen Untersuchungen die Qualität frühkindlicher Bildung mit dem Personalschlüssel korreliert. Zum anderen impliziert dies eine Ungleichbehandlung der Fachkräfte, die je nach Land für die Betreuung, Erziehung und Bildung von unterschiedlich vielen Kindern zuständig sind.
Und es ist ungerecht, dass im Jahr 2009 unter Dreijährige in Gruppen mit unter und über Dreijährigen sowie in für Zweijährige geöffneten Kindergartengruppen auf Personalschlüssel von bis zu 1 zu 12,8 (Mecklenburg-Vorpommern) trafen - hier dürfte die seitens der Fachkraft erfahrene Zuwendung, statistisch gesehen, nur halb so groß sein wie in einer Krippengruppe mit einem (bundesweit) durchschnittlichen Personalschlüssel von 1 zu 5,8. Dies beinhaltet eine große Ungleichbehandlung von unter Dreijährigen.
Es ist ungerecht, dass es in Deutschland vom Wohnort eines Kleinkindes abhängt, wie gut das es betreuende Personal qualifiziert ist: Bei Kindertageseinrichtungen variierte 2009 im Vergleich der Bundesländer der Anteil höher qualifizierter Diplom-Sozialpädagog/innen und Erzieher/innen zwischen den Extremen 53,7% (Bayern) und 93,8% (Thüringen), der Anteil niedriger qualifizierter Kinderpfleger/innen zwischen 0,6% (Thüringen) und 38,7% (Bayern) sowie der Anteil der Praktikant/innen und Mitarbeiter/innen ohne Ausbildung zwischen 2,0% (Brandenburg) und 18,6% (Bremen) (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2010). Dies impliziert eine große Ungleichbehandlung von Kleinindern, denn die Qualifikation der Betreuungspersonen korreliert laut wissenschaftlicher Untersuchungen mit der Qualität von Kindertagesbetreuung.
Es ist ungerecht, wenn 2009 beim Vergleich der Bundesländer der Anteil vom Gruppendienst freigestellter Leiter/innen von Kindertageseinrichtungen zwischen 6,8% (Bayern) und 71,4% (Hamburg) variierte (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2010). Zum einen beinhaltet dies eine Ungleichbehandlung von Kindern in Gruppen mit "reinen" Gruppenleiter/innen, und Kinder in Gruppen, in denen die Gruppenleiter/innen zugleich Kita-Leiter/innen sind - bedingt durch die Leitungsaufgaben werden sich diese Fachkräfte häufiger in ihr Büro zurückziehen müssen und somit weniger Zeit für die pädagogische Arbeit haben. Zum anderen impliziert dies eine Ungleichbehandlung der Leiter/innen von Kindertageseinrichtungen, die sich in einigen Bundesländern zu einem viel höheren Prozentsatz voll den Leitungsaufgaben widmen können und in den anderen diese quasi nebenher erledigen müssen.
Es ist ungerecht, wenn in Deutschland einige Kinder von Tagespflegepersonen betreut werden, die eine pädagogische Ausbildung haben und zusätzlich einen Qualifizierungskurs absolviert haben (2009: 33,0% aller Tagespflegepersonen), andere Kinder hingegen von Personen ohne jegliche formale Qualifizierung (14,0%) (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2010). Zudem dürfte es einen großen Unterschied machen, ob nur ein oder zwei Kinder von einer Tagespflegeperson betreut werden (2009: 58,8%) oder fünf und mehr Kinder (15,2%). Dies bedeutet eine Ungleichbehandlung von Kleinkindern, da nach wissenschaftlichen Untersuchungen die Qualität der Betreuung mit der Qualifikation der Tagespflegeperson korreliert und da die Kinder mit unterschiedlich vielen anderen Kindern die Zuwendung der Tagesmutter teilen müssen.
Es ist ungerecht, dass es in Deutschland vom Wohnort eines Kindes abhängt, wie viel Geld seitens des Landes und der Kommunen für seine Betreuung ausgegeben wird. So variierten 2008 laut Jugendhilfestatistik die Ausgaben der öffentlichen Hand pro betreutem unter 14-jährigem Kind beim Bundesländer-Vergleich zwischen 7.116 € (Berlin) und 2.698 € (Mecklenburg-Vorpommern) (Textor 2010). Zum einen bedeutet dies eine Ungleichbehandlung von Kindern und Eltern, da höhere Ausgaben ein besseres Angebot implizieren. Zum anderen beinhaltet dies eine Ungleichbehandlung der Fachkräfte, da verschieden hohe Ausgaben unterschiedliche Beschäftigungsverhältnisse (z.B. Anteil der Vollzeitstellen) und Rahmenbedingungen (z.B. Personalschlüssel) vermuten lassen.
Fazit
Das System der Kindertagesbetreuung in Deutschland ist durch viele Ungerechtigkeiten für Kinder, Eltern und Fachkräfte gekennzeichnet. Besonders problematisch ist die Ungleichbehandlung von Kleinkindern, da eine vom Umfang und von den Rahmenbedingungen her unterschiedliche Betreuung große Auswirkungen auf ihre Entwicklung und ihre Bildungschancen haben dürfte. So sind die ersten Lebensjahre die wichtigsten Bildungsjahre. Kleinkinder gehören zu den Schwächsten in unserer Gesellschaft, und so ist es verwunderlich, dass ihre Rechte so wenig vom Staat geschützt werden.
Die Bundesregierung ist gefordert, den skizzierten großen Ungerechtigkeiten im Rahmen der Bundesgesetzgebung zu begegnen - heißt es doch in Artikel 72 Absatz 2 des Grundgesetzes: "Auf den Gebieten des Artikels 74 Abs. 1 Nr. 4, 7, 11, 13, 15, 19a, 20, 22, 25 und 26 hat der Bund das Gesetzgebungsrecht, wenn und soweit die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet oder die Wahrung der Rechts- oder Wirtschaftseinheit im gesamtstaatlichen Interesse eine bundesgesetzliche Regelung erforderlich macht". Derzeit gibt es im deutschen System der Kindertagesbetreuung weder "gleichwertige Lebensverhältnisse" noch eine "Rechtseinheit"!2)
Anmerkungen
1) Detaillierte Ausführungen und Tabellen zu den Unterschieden zwischen den Bundesländern befinden sich im Internet unter der URL http://www.kindergartenpaedagogik.de/1763.html.
2) Art. 72 Abs. 2 kann aber nur auf die Kindertagesbetreuung angewandt werden, wenn diese entsprechend Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 der "öffentlichen Fürsorge" (und nicht dem Bildungsbereich) zugeordnet wird. Dies ist durch die bundesrechtliche Verankerung der Kindertagesbetreuung im Sozialgesetzbuch Achtes Buch (§§ 22 ff. SGB VIII) gegeben (vgl. Bullinger 2010, Wissenschaftlicher Beirat für Familienfragen beim Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2008, S. 31 f.).
Literatur
Autorengruppe Bildungsberichterstattung: Bildung in Deutschland 2010. Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zu Perspektiven des Bildungswesens im demografischen Wandel. http://www.bildungsbericht.de/daten2010/bb_2010.pdf (17.06.2010)
Böttcher, A./Krieger, S./Kolvenbach, F.-J.: Kinder mit Migrationshintergrund in Kindertagesbetreuung. Wirtschaft und Statistik 2010, Heft 2, S. 158-164
Bullinger, G.M.: Rechtliche Möglichkeiten des Bundesgesetzgebers zur Verbesserung der Qualität (Betreuungsschlüssel, Gruppengrößen, Qualifikation des Personals) in Kindertagesstätten. http://www.kindergartenpaedagogik.de/2097.html (16.07.2010)
INSM-Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (Hrsg.): Der INSM-ELTERN-Kindergartenmonitor 2010. http://www.insm-kindergartenmonitor.de (27.06.2010)
Lange, J.: Kindertagesbetreuung in Deutschland. Kennzahlen - Indikatoren - Daten. Zentrale Befunde aus der amtlichen Kinder- und Jugendhilfestatistik zum 15.03.2007. http://www.akjstat.uni-dortmund.de/akj/Downloads/Kita2008.pdf (20.06.2010)
Statistische Ämter des Bundes und der Länder: Kindertagesbetreuung regional 2009. Ein Vergleich aller 413 Kreise in Deutschland. Wiesbaden: Statistisches Bundesamt 2010
Statistisches Bundesamt: Statistiken der Kinder- und Jugendhilfe. Kinder und tätige Personen in Tageseinrichtungen und in öffentlich geförderter Kindertagespflege am 01.03.2009. Revidierte Ergebnisse. Wiesbaden: Statistisches Bundesamt 2010
Textor, M.R.: Pro-Kopf-Ausgaben für Kindertagesbetreuung - zwischen 2006 und 2008 um 725 Euro gestiegen!? http://www.ipzf.de/PKA3.html (27.06.2010)
Wissenschaftlicher Beirat für Familienfragen beim Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: Bildung, Betreuung und Erziehung für Kinder unter drei Jahren - elterliche und öffentliche Sorge in gemeinsamer Verantwortung. Berlin: Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2008