Heike Baum
Begrenze dein Kind nicht auf das, was du gelernt hast,
denn es ist in einer anderen Zeit geboren.
Jüdisch
Kinder wollen sich die Welt zu Eigen machen. Sie sind neugierig zu verstehen, wie die Dinge funktionieren; sie sind leidenschaftliche Forscher, Denker und Erfinder. So ruft ein Kind auf der DVD "Magische Momente", als Flüssigkeit aus einem morschen Baum tritt: "Ich habe Öl gefunden!", und stellt sofort weitere Untersuchungen an.
Kinder entdecken etwas, sie stellen Thesen auf und überprüfen diese, verwerfen falsche Annahmen und forschen weiter, um ihr Weltwissen zu erweitern. So auch Bastian, der mit Leonie eine Legorutsche mit Schanze für Autos gebaut hat. Die Beiden stellen Versuche an, wie sie es anstellen müssen, damit die Autos am Ende der Schanze möglichst weit fliegen.
Wir Erwachsenen tun das oft als "Spielen" ab, vielleicht denkt die eine oder andere Erzieherin sogar, dass dies bei ihnen nicht erlaubt wäre, weil die Autos ja kaputt gehen könnten - doch das wäre sehr schade! Denn sehen wir genauer hin, dann betreiben Bastian und Leonie eine intensive Auseinandersetzungen mit statischen Gesetzen, mit der Schwerkraft, der Anziehungskraft der Erde, mit Energie, Trägheit der Masse, Reibungsverlust, Rollreibung und mit den Kräften, die beim Flug von Körpern wirken. Naturwissenschaftliche Gesetze werden hier also intensiv und an Hand von Versuch und Irrtum erforscht, was gleichzeitig die Fehlerfreundlichkeit und die Frustrationstoleranz weiterentwickelt.
Eine sichere Bindung ist das A, Bildungsoasen das O der Pädagogik
Denken Sie einmal daran zurück, als Sie das letzte Mal ein Ihnen unbekanntes Wohnzimmer betreten haben. Erinnern Sie sich, ob Sie neugierig waren, welche CDs, welche DVDs oder Bücher im Raum standen? Was hat diese Neugierde ausgelöst? War der Raum übersichtlich gestaltet? Hatte er eine angenehme Atmosphäre, welche Sie einlud, sich umzuschauen und neugierig sein zu dürfen?
Kinder brauchen diese atmosphärische Einladung auch. Gerade bei der Gestaltung von Räumen haben Sie als Erzieher/in einen hohen Einfluss darauf, ob Ihre Räume zu Bildungsoasen werden oder nicht. Diese Bildungsoasen und die sichere Bindung zur Fachkraft sind das A und das O des Lernens!
Um Kindern in Kindertagesstätten eine intensive Auseinandersetzung mit den von ihnen gewählten Themen zu ermöglichen, ist es sinnvoll, Funktionsräume und Lernwerkstätten zu schaffen. Das klingt einfach, bedeutet aber für Pädagog/innen eine wohldurchdachte Raumgestaltung, die sich täglich den Lernbedürfnissen der Kinder anpassen muss.
Funktionsräume sind Räume - oder Bereiche - in der Kita, in welchen sich die Kinder mit einem Thema intensiv auseinandersetzen können. Alle Materialien in diesem Raum sind auf den jeweiligen Themenkontext zugeschnitten. So gibt es in einem Funktionsraum "Bauen und Konstruieren" zum Beispiel Konstruktions- und Baumaterial, Legespiele, ein Architekturbüro mit Zeichenbrett, Holzstifte, Lineal und Zirkel. Die Puzzles zeigen Bagger, Flugzeuge und Co. An der Wand hängen in Wechselrahmen Bilder mit dem Querschnitt eines Autos oder der Washingtonbrücke. Die Bücher im Raum handeln vom Bauen, von Technik und so weiter. Es gibt alles, was ich für Zahlen, zum Messen und zum Wiegen brauche.
Um Bastian und Leonie in ihrer Experimentierfreude zu unterstützen, könnte die Erzieherin eine Sandwanne bereitstellen. Anhand der Abdrücke können die Beiden leichter feststellen, wann welches Autos weiter fliegt. Die Autos können gewogen werden. Fliegt das Schwere weiter als das Leichtere? Warum ist das so? Wie weit fliegt ein Gummiball im Gegensatz zu einem Holzwürfel? Wie weit fliegt das Auto, wenn ich die Unterlage verändere? Schmierseife verringert die Reibung; darauf Sand gestreut erhöht die Reibung wieder. Mit diesen bewusst von der Erzieherin eingesetzten zusätzlichen Materialien und Impulsfragen, die sie dazu stellt, bietet sie den Kindern eine tiefe Einsicht. Grundverständnisse für physikalische Gesetze entstehen wie von selbst durch das Erleben.
Die Lernwerkstatt ist ein Bereich innerhalb eines Funktionsbereiches. Sie bietet den Kindern die Möglichkeit, sich selbständig und selbstbestimmt mit Themen intensiv auseinander zu setzen. So könnten im Funktionsraum "Musik und Rhythmus" Experimente angeboten werden zu den Themen Vibration, Schwingungen, Akustik, Schall, Echo, auditive oder akustische Wahrnehmung. Ferner gibt es Materialien zum Thema Ohr, Gehör, Hören.
Auch ein Xylophon, für das die Erzieherin unterschiedliche Melodien aufgezeichnet (zum Beispiel mit Farbpunkten) und laminiert hat, und die die Kinder nachspielen können, kann als Arbeitsplatz innerhalb einer "Lernwerkstatt Musik" angeboten werden. Natürlich kann nicht immer alles auf einmal bereit stehen. Je kleiner die Räume sind, umso mehr werden die Erzieher/innen gefordert sein, nach den Bildungsinteressen der Kinder die Lernwerkstatt umzugestalten.
Selbst das Arbeiten mit Bügelperlen kann als Lernwerkstatt gestaltet werden. Die von den Kindern so geliebten Bügelperlen werden von vielen Fachleuten kritisch betrachtet. Kindern macht diese Beschäftigung aber Spaß. Die Aufgabe der Fachkraft könnte hier sein, sich zu überlegen, was Kinder beim Gestalten eines Bügelperlenbildes alles lernen, trainieren und erfahren können. Kurz zusammengefasst könnten wir sagen: Kinder setzen ein Bild, das sie im Kopf haben, in eine reale Gestalt um. Sie brauchen eine gute Augen-Hand-Koordination, trainieren im großen Maße ihre Feinmotorik, sind kreativ, bilden ihr Ästhetikbewusstsein aus, konzentrieren sich, haben Ausdauer und lernen den achtsamen Umgang mit einem heißen Bügeleisen.
So kann aus einem Platz, an dem zwei Kinder arbeiten und auch bügeln können, eine Lernwerkstatt gemacht werden. Das bedeutet, die Bügelperlen werden nicht nur eindimensional im herkömmlichen Sinne angeboten, sondern es stehen den Kindern Pinzetten zu Verfügung, mit denen sie arbeiten können. Die Bügelperlen können farblich in durchsichtige Sortierbehälter gelegt und immer wieder sortiert werden. Die Erzieher/nnen gestalten selbst Bilder und fotografieren sie. Die Fotos werden laminiert und stehen den Kindern in einer Schale oder einem Karton zur Verfügung. Dabei geht es nicht darum, das schönere Pferd zu machen, sondern rhythmische Farbmuster zu gestalten. Die leichten Versionen könnten geradlinig sein und einem symmetrischen Muster folgen. Die schwereren Bilder haben bunte Kreise und andere geometrische Figuren, die immer kleiner werden, oder die Farben bilden Zick-Zack-Linien. Auch nicht symmetrische Bilder bieten den Kindern eine Herausforderung für die Wahrnehmung, zum Erfassen von Mengen, von Zahlen und (geometrischen) Figuren oder Farbmustern.
Diese Funktionsbereiche und Lernwerkstätten stehen den Kindern während der selbstgestalteten Bildungszeit (der angemessenere Ausdruck für Freispielzeit) zur Verfügung. Für diese selbstgestaltete Bildungszeit sollten den Kindern mindestens 2,5 Stunden am Tag zur Verfügung stehen, und sie darf durch keinerlei (!) Angebot von den Erzieher/innen unterbrochen sein.
Während der selbstgestalteten Bildungszeit ist es nicht notwendig, dass sich in jedem Raum und im Garten eine Fachkraft aufhält. Es reicht, wenn die Kinder für alle Räume einen "Führerschein" gemacht haben, also altersangemessen erklären können, was an Regeln in den einzelnen Räumen gilt. Das bedeutet, Kinder lernen in kleinen Gruppen (maximal acht Kinder), welche Regeln und welche Besonderheiten es in den einzelnen Funktionsbereichen gibt, und erhalten eine Urkunde, eine Bestätigung oder einen Führerschein, dass sie die Regeln kennen und sich ohne Erzieher/in in diesem Funktionsbereich aufhalten können.
Tipp: Ein gute Möglichkeit, das Portfolio zu erweitern: Schreiben Sie auf, welche Regeln für die einzelnen Funktionsbereiche vom Kind formuliert worden sind. Dabei sehen Sie auch, was dem Kind in den einzelnen Räumen wichtig ist.
Kinder brauchen in ihren Bildungsräumen klare Strukturen und ein überschaubares Materialangebot
In ihren Bildungsräumen brauchen Kinder klare Strukturen. Das heißt, das Kind muss mit einem Blick von der Türe aus entdecken können, welche Materialien ihm in diesem Raum zur Verfügung stehen. Auch im Detail bekommen Kinder schneller und besser den Überblick, wenn zum Beispiel in einem Regal nur fünf Bücher liegen - dafür aber mit dem Buchdeckel oben auf -, sodass die Kinder mit einem Blick erkennen, um welches Buch und um welchen Inhalt es sich handelt.
Auch lagern in vielen Kitaräumen viel zu viele Puzzles, Brettspiele und Steckspiele. Von allem bedarf es maximal drei für die jeweiligen Altersgruppen (drei bis vier und fünf bis sechs Jahre). Die Spiele, Materialien und die Bücher werden je nach Interessen der Kinder von Zeit zu Zeit ausgetauscht.
Tipp: Kitas, die kleine oder wenig Räume haben, können einige Lernwerkstätten oder auch den Funktionsbereich "Werken" in den Garten verlegen. Es können auch zwei oder drei Funktionsbereiche innerhalb eines Raumes untergebracht werden. Es gibt Kindergärten, da werden die Lernwerkstätten in Kisten gestapelt und regelmäßig ausgetauscht. Auf was Sie aber auf keinen Fall verzichten sollten, ist ein Raum - oder der Garten -, in dem sich die Kinder den ganzen Tag selbständig bewegen können. Gerade körperintensive Bewegungserfahrungen machen aus unseren Kindern Schnelldenker und Überlebenskünstler.
Am eigenen Interesse zu wachsen ist sinnstiftender als an den eigenen Schwächen zu verzweifeln!
Diese pädagogische Perspektive setzt sich im Alltag in Kindertagesstätten immer mehr durch und kann auch Berücksichtigung in der Raumgestaltung finden.
- Kinder, die einen Raum betreten, in dem sie ihre Interessen wiederfinden, ohne lange suchen zu müssen, sind motiviert und engagiert!
- Kinder, die nicht Fragen müssen, um etwas zu nehmen, sondern die wissen, dass das Material und die Räume ihnen zur Verfügung stehen, erleben, dass sie und ihre Interessen willkommen sind.
- Kinder, welche ihre Räume vorbereitet vorfinden (z.B. die Stifte gespitzt und gut sortiert), werden die Wertschätzung, die darin liegt, spüren und bald wissen, dass ein gut aufgeräumter Arbeitsplatz die Arbeit erleichtert und die Lust sich anzustrengen erhöht.
- Kinder, die, wenn sie am nächsten Tag wiederkommen, nicht nur ihr Material zu ihrem Thema wiederfinden, sondern sehen, dass die Erzieherin hilfreiche Materialien, Bücher usw. ergänzt hat, weiß, dass die Erwachsenen das eigene Tun für wertvoll erachten!
Auch wenn die Funktionsbereiche nicht immer von einer Erzieherin betreut sind, ist es gut, wenn jeder Funktionsbereich einer Fachkraft zugeordnet ist. Diese bereitet die Arbeitsplätze vor, hält die Ordnung und sorgt dafür, dass funktionsfähige Materialien, die gebraucht werden, zur Verfügung stehen. Sie ist Ansprechpartnerin für die Kinder, unterstützt sie auf Anfrage, reflektiert mit den Kindern ihr Tun und schafft neue Anreize.
Das Beobachten und Dokumentieren ist die wesentlichste Aufgabe der Fachkräfte, auch um die Interessen und die bevorzugten Tätigkeiten der Kinder herauszufinden. Dies ist wichtig für die Dokumentation der Bildungsentwicklung jedes einzelnen Kindes, aber vor allem auch dafür, um herauszufinden, welche Lernstrategie welches Kind nutzt. Denn dies hat unabdingbar Auswirkungen auf die Raumgestaltung und das angebotene Material.
Die Analyse der Beobachtung folgt deshalb folgenden Fragen:
- Was tut das Kind?
- Welches Lerninteresse zeigt es damit?
- Welche Erkenntnisse hat es bereits erworben?
- Was könnten seine nächsten Lernziele sein?
- Welche Materialien könnten das Kind dabei unterstützen?
- Hat das Kind meine Interpretationen über sein Tun bestätigt?
- Gibt es Impulsfragen, die ich ihm stellen kann?
Um den von der Erzieherin erkannten Interessen der Kinder zu folgen, werden die Materialien von Zeit zu Zeit gewechselt. Diese Rhythmisierung ermöglicht es den Kindern, die Bildungsinteressen in die Breite und in die Tiefe zu verfolgen. Für Bastian und Leonie würde die Breite bedeutet, viele unterschiedliche Materialien auf ihre Flugtauglichkeit zu testen. In die Tiefe arbeiten die Beiden, wenn sie Flugdauer und Flugweite messen und diese Daten mit dem Gewicht oder der Schanzenbeschaffenheit vergleichen. Oder gar, wenn die Flüge mit einer Kamera aufgenommen werden und damit dann die Flugbahnen vergleichbar sind. Das bedeutet vor allem: Kinder brauchen Raum und Zeit, um mit den Materialien zu experimentieren.
Anmerkung
Dieser Artikel wurde von der Zeitschrift klein&groß (C Oldenbourg Schulbuchverlag GmbH, München, www.kleinundgross.de) redaktionell überarbeitet und in einer anderen Version in Ausgabe 05/2013, Seite 6, veröffentlicht.
Literatur
AWO Schleswig-Holstein: DVD Weltenentdecker. Selbstverlag, 2007
Baum, H.: Gestaltungsmöglichkeiten von Funktionsräumen. www.kindergartenpaedagogik.de/2222.html
Baum, H.: Raster für die Entwicklung einer Konzeption für Kindertagesstätten.
www.kindergartenpaedagogik.de/2239.html
Komm lass uns Spielen. Entdeckerkiste, Heft 4/2014, Herder Verlag
Gerwig, K.: DVD Bäume, Bach und Bildungsplan. AV1 Kaufungen 2009
Miedzinski, K./Fischer, K.: Die neue Bewegungsbaustelle. Borgmann Media 2009
Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg: DVD Magische Momente. Selbstverlag 2011
Schönrade, S.: LebensOrt Kindergarten. Borgmann Media 2009