Alfred Weinrich
Die Entwicklungspsychologie, die Hirnforschung und in deren Gefolge auch die Pädagogik stellen das Zusammenwirken von Hand und Auge stark in den Vordergrund.Die frühesten Anzeichen werden schon bei Säuglingen aufgespürt und in aufwendigen Versuchsanordnungen dokumentiert. Ganz sicher war in der Vorgeschichte der Menschheit die Freisetzung der Hände von der Fortbewegung ein entscheidender Schritt. Dass die Hände sich dann zu universalen Werkzeugen entwickelten und uns immer weiter von unseren tierischen Verwandten wegführten, hat viel damit zu tun, dass sie seit der Erfindung des aufrechten Gangs direkt vor den Augen, in unserem Gesichtsfeld, agieren können.
Ganz in diesem Sinne, als Angebot für Augen und Hände der Kinder, habe ich für den Treppenhandlauf eines Spielhauses statt hölzerner Rundstäbe metallene Gewindestäbe verwendet und darauf allerhand Spielzeug angebracht in Form von mit Muttern gehaltenen Holzkugeln und dicken metallenen Unterlegscheiben. Das silbrig glänzende Metall bildet einen reizvollen Kontrast zu den geölten Holzflächen, und die Kinderhände haben was zum Tasten, Greifen und Manipulieren. So dachte ich.
Doch was haben die Kinder als Erstes herausgefunden? Dass, wenn man die haltenden Muttern so weit wie möglich nach oben und unten schraubt und so auf den Gewindestäben eine möglichst lange freie Strecke schafft, die metallenen U-Scheiben, ganz nach oben geschoben und dann losgelassen, sich spiralförmig drehend und dabei ratschend und klirrend herunterrutschen. Und die Holzkugeln klappern auch ganz schön laut. Das macht den Kindern einen Heidenspaß und nervt die Erzieherinnen. Die Sache wurde mir vorgeführt bzw. zu Gehör gebracht.
Wir meinen zu wissen, was es heißt, dass Kinder die Welt mit allen Sinnen aufnehmen. Die Vorherrschaft des Sehens in unserer (erwachsenen) Kultur lässt den Satz aber auch schnell zum leeren Spruch werden. Wir vergessen leicht und müssen es uns immer von neuem und im einzelnen klarmachen: Neben dem Anblick der Welt interessiert Kinder immer auch, wie sie schmeckt und riecht, wie sie sich anfasst und anfühlt, was man damit machen kann und wie sie klingt, und bei all dem sind ihnen die Unterschiede zwischen den einzelnen Wahrnehmungsweisen kaum bewusst. Dass Dinge, die berührt und bewegt werden, Klänge und Geräusche machen, also antworten, scheint Kinder ganz besonders zu animieren, zu weiteren Erkundungen anzuspornen. Junge Mütter geben Säuglingen Rasseln in die Hände oder hängen rasselnde, klappernde Gegenstände in ihre Reichweite.
Zwei für uns Erwachsene manchmal anstrengende kindliche Lebensäußerungen treten häufig zusammen auf und sind den Kindern offenbar gleich wichtig und zugleich untrennbar: Bewegung und das Erzeugen von Geräuschen. Im ersten Ärger oder im Stress erleben wir sie manchmal als Toben und Lärmen, ziel- und sinnlos. Gerd E. Schäfer sagt: "Kinder leben in einer Handlungswelt." Mit gleichem Recht können wir sagen: Sie leben in einer Klang- und Geräuschewelt. Aber für die Kinder gibt es da keinen Unterschied.
Motorik und Hören scheinen zwei eng verwandte und verflochtene Wahrnehmungsformen und Entwicklungsbahnen zu sein. Die vernetzten Übermittlungs- und Steuerungsvorgänge zwischen Körper und Gehirn sind so komplex, dass noch nicht absehbar ist, ob die Wissenschaft sie je vollständig entschlüsseln wird. Warten wir nicht ab, sondern halten wir uns an das, was wir an Kindern beobachten und an uns selbst erfahren können!
Die Lust und die Ausdauer, mit der Kinder sich bewegen, sich zu schaffen machen und dabei Geräusche erzeugen, beweisen schon genug. Wenn wir nur die geeignete Umgebung schaffen, d.h. Beziehungen, die halten, und Dinge, die auffordern, widerstehen, nachgeben, klingen und was Dinge sonst noch bieten können, dann demonstrieren uns die Kinder, dass sinnliche Vielfalt die Intensität ihrer Wahrnehmung steigert (vgl. Gerd E. Schäfers wunderbare Beschreibung des Bohnenbads!).
Offensichtlich registrieren und sortieren Kinder nicht bloß, was sie wahrnehmen. Sie lassen sich in ihrem Inneren davon bewegen. Innere Klangempfindungen und Bilder mögen dabei mit Gefühlen ununterscheidbar verschmelzen. Innere Bewegung drängt wieder nach draußen, in Ausdruck und Aktion. Auf diese Weise erfahren und erleben und erschaffen Kinder ihre Welt und entwickeln dabei ihre Wahrnehmungs-, Ausdrucks- und Handlungsfähigkeiten.
Nur die Kinder? Solches Erleben bildet auch bei uns Erwachsenen immer noch den Untergrund aller Erfahrung! Wir sind - vermeintlich - vernünftiger und d.h. stärker als die Kinder auf vorgesetzte Zwecke und Ziele orientiert. Das scheint auch beim Hören zu gelten. Wir wählen aus, was wir hören wollen, und überhören, was uns - im Augenblick - nicht interessiert.
Wir kennen aber sehr wohl auch andere Formen des Hörens: Geräusche, Klänge und Sprache umfangen uns lebenslang und zugleich bringen wir sie selbst hervor. Dieser Strom von Wahrnehmungen und von Gefühlen, die sie in uns erzeugen, wird uns nur selten bewusst. Zum Beispiel in Momenten der Stille, wenn es uns gelingt, zu horchen: auf den Wind, das Rascheln von Blättern, den Atem eines schlafenden, vertrauten Menschen, den eigenen Atem, das Pochen des Bluts in den Ohren, eine Musik. Wir können uns in unseren Hörwahrnehmungen treiben lassen oder sie bewusst erfahren und darauf antworten, uns ausdrücken und einmischen. Wir können sie überhören, dämpfen, übertönen, aber wir können sie nicht ganz ausschalten. Wir können die Ohren nicht schließen wie die Augen. Selbst im Schlaf hören wir noch. Es ist eine kleine, sehr dichte Welt. Hören - ein Fernsinn?
Wenn wir unsere eigene Erfahrung so aufschließen und entfalten, dann erhalten wir eine ganz andere Vorstellung vom Hören. Hören ist also eigentlich Teilnehmen, vermittelt durch ein Medium, das uns ständig umgibt: Fruchtwasser oder Luft, vor oder nach der Geburt. Die Fortdauer im fließenden Wandel gibt Gewissheit: Indem ich höre, bin ich in der Welt. Und: Was ich höre, berührt mich, bewegt mich in meinem Inneren. Wenn Gefühle zum Ausdruck drängen, dann will sich die Stimme erheben, wollen die Hände sich rühren: rufen, etwas anstoßen, zum Klingen bringen. Und die Welt antwortet. Manchmal kommt es zum Dialog: Ich kann mich mitteilen und etwas bewirken. Das stärkt das Vertrauen in die eigene Kraft und den eigenen Willen. Klar, dass Kinder diesem Ursprung noch viel näher sind!
Aber diese Klangwelt ist nicht etwa, wie man vermuten könnte, eine allgemein menschliche, für alle gleiche, alle verbindende, sondern jeder hat seine ganz eigene, individuelle. Der französische Arzt und Wissenschaftler Alfred A. Tomatis hat die Anfänge des Hörens im Mutterleib erforscht. Seine These: Der Embryo lernt, den Tumult an Geräuschen, denen er ausgesetzt ist, zu filtern, sich auf die Stimme der Mutter zu konzentrieren. Die vorgeburtliche Aneignung der Stimme der Mutter schaffe die eigene Hörweise eines jeden einzelnen und drücke sich aus in seiner individuellen Stimme. Tomatis spricht sogar vom Klang des Lebens und legt uns nahe, uns diesem Klang (wieder) horchend zu öffnen. Viele Musiktherapeuten berufen sich auf ihn.
Die neuere Entwicklungspsychologie und die Säuglingsforschung haben diesen Ansatz aufgegriffen. Sie haben nachgewiesen, dass Neugeborene die Stimme ihrer Mutter von anderen Stimmen unterscheiden können, dass sie auf Sprache überhaupt anders reagieren als auf sonstige Geräusche und Töne, indem sie nämlich, anders als bei sonstigen Reizen, bei Sprachlauten dem Vertrauten länger Aufmerksamkeit schenken als dem Neuen. Ja, sie erkennen sogar schon besondere Eigenheiten der Muttersprache. Man vermutet daher auch hier, dass diese Fähigkeit im Mutterleib vorgebildet wird und eine wichtige Vorübung bildet für das spätere Erlernen der Sprache.
Gleichviel, ob Bildung nun mit oder vor der Geburt beginnt, auf jeden Fall ist sie, wenn offizielle Bildungsmaßnahmen einsetzen, bei jedem Kind längst im vollen Gang, auf seinem je eigenen Weg der Selbstbildung. Und es gilt, vor jedem pädagogischen Zugriff genau und achtsam hinzusehen und hinzuhören.
Das setzt voraus, dass Erwachsene, die mit Kindern umgehen, sich auf deren Erfahrungsweise einlassen können, und das können sie nur, wenn sie mit ihren eigenen Sinnen sozusagen gut Freund sind. Diese Anforderung ist nicht neu. Sie entspricht den besten Traditionen der Frühpädagogik seit Comenius. Neu ist nur, dass moderne Erkenntnisse von Entwicklungspsychologie und Hirnforschung sie stützen.
Auch die Beachtung der Dingwelt, die wir den Kindern anbieten, die Gestaltung ihrer Spiel-, Lern- und Erfahrungsräume, hat eine lange Tradition. Dabei sind die Klangeigenschaften dieser Dingwelt in den letzten Jahrzehnten in den Hintergrund gerückt. Die Akustik von Kindertageseinrichtungen wurde fast ausschließlich als eine Frage der Schalldämmung behandelt. Es gilt aber, den Klang der Räume, des Außenbereichs, der gesamten Ausstattung auch positiv, als akustischen Erfahrungsraum, zu gestalten. Da hat pädagogische Raumgestaltung eine Aufgabe, die erst noch zu entfalten ist.
Literatur
Gerd E. Schäfer (Hrsg.): Bildung beginnt mit der Geburt. Förderung von Bildungsprozessen in den ersten sechs Lebensjahren. 2003 (Zitat S. 55 und Beschreibung des Bohnenbads S. 58 f.)
Hellgard Rauh: Vorgeburtliche Entwicklung und Frühe Kindheit. In: Rolf Oerter & Leo Montada (Hrsg.): Entwicklungspsychologie, 5. Auflage 2002, S. 131-208
Alfred A. Tomatis: Der Klang des Lebens. Vorgeburtliche Kommunikation - die Anfänge der seelischen Entwicklung. Reinbek (rororo Sachbuch) 11. Aufl. 2001 (Hier sind auch die physiologischen Grundlagen und Zusammenhänge des Hörens detailliert abgehandelt.)
Friedrich Wilkening & Horst Krist: Entwicklung der Wahrnehmung und Psychomotorik. In: Rolf Oerter & Leo Montada, Entwicklungspsychologie, 5. überarb. Aufl. 2002, S. 395-417 (insbes. S. 398 f.)