Michael Schnabel
1. Einleitung
"Begreifen kommt vom Greifen", dieser Satz war eine wegweisende Erkenntnis der Kleinkindererziehung in den 70er Jahren, als die kognitive Förderung der Kleinkinder hoch im Kurs stand. Er formuliert den Zusammenhang: Die kognitive Entwicklung des Kindes ist eng mit seinen motorischen Fähigkeiten verbunden. Jedoch stellt die Konzentration in der Kleinkinderziehung nur auf die kognitive Entwicklung des Kindes eine Verkürzung dar. Diese Verengung wurde durch die sogenannte Motopädagogik aufgebrochen.
Sie sieht bewusst die Förderung motorischer Fähigkeiten im Gesamtzusammenhang der Persönlichkeitsentwicklung des Kindes (Kiphard, 1990). Nach einer ersten Phase der Sammlung von praktischen Erfahrungen wird jetzt zusehends der Zusammenhang in der Ausbildung von motorischen Fähigkeiten mit der Entwicklung von kognitiven, emotionalen und sozialen Fähigkeiten wissenschaftlich untersucht (Kiphard, 1990).
Das Anliegen der Motopädagogik erscheint dringlich, weil die Wohnsituation der meisten Familien ein zwangloses Herumtollen der Kinder nicht erlaubt. Die Umgebung, in der Kinder heute aufwachsen, ist noch weniger dazu geeignet, dass sie unbeaufsichtigt spielen oder herumrennen könnten (Heide, 1981). Zu den eingeschränkten Bewegungsmöglichkeiten kommt noch eine Unlust der Kinder zur Bewegung, durch vieles Fernsehen oder durch zu häufiges Spielen mit dem Computer angelernt. Die Folgen dieser Einschränkungen sind Haltungs- und Kreislaufschäden bereits schon bei Kindergartenkindern.
Am Beispiel der Errichtung und Nutzung eines Spielhauses kann aufgezeigt werden, wie Erkenntnisse aus der Motopädagogik realisierbar sind. Kinder finden durch ein Spielhaus wieder Freude an Beweglichkeit und werden herausgefordert zur Geschicklichkeit und vielfältigen Sinneserfahrungen.
Die Erbauung und die Nutzung eines Spielhauses ist eine motopädagogische Baustelle im doppelten Sinn: Einmal werden Eltern und Kinder motopädagogisch beschäftigt, wenn sie das Spielhaus einrichten, zum anderen können Kinder und Erwachsene bei der Nutzung des Spielhauses Spaß und Freude an der Bewegung wiederfinden.
2. Grundprinzipien der Motopädagogik
Nach den Grundsätzen der Motopädagogik stellt der Mensch eine psychomotorische Einheit dar. Dies besagt: Motorik und Psyche sind eng miteinander verkettet (Kiphard, 1989). Die Beweglichkeit des Körpers ist auch mit der geistigen und inneren Dynamik des Menschen verbunden. Konkret wird angenommen: Kinder, die sich in Beweglichkeit und Geschmeidigkeit üben, werden auch beweglich in ihrem Denken und Handeln sein.
Weiterhin steht der Mensch in einem reziproken Verhältnis zur Umwelt (Kiphard, 1990). Dieser Grundsatz bringt zum Ausdruck, dass der Mensch sich einerseits an die gegebene Umwelt anpasst und zum anderen die Umwelt nach seinen Bedürfnissen gestaltet. Bei Kindern ist dieser wechselseitige Vorgang oft zu beobachten, z.B. benützen die Kinder im Winter einen Berg, um mit dem Schlitten hinunterzufahren. Ist die Herausforderung nicht mehr groß genug, so beginnen sie einen Hügel aus Schnee zu errichten, um somit über die Schanze beim Herunterfahren springen zu können. Diese enge Verkettung von Bewegung und Umwelt zeigt, dass bestimmte Gegebenheiten in der Umwelt an die Kinder Bewegungsappelle stellen und die Kinder zu freien Bewegungen herausgefordert werden, z.B. fordert ein Hügel die Kinder zum Hinunterrennen heraus.
Diese Überlegungen machen bereits deutlich, dass es bei der Motopädagogik immer um die Förderung der Gesamtpersönlichkeit des Kindes geht. Bewegung soll mit Erlebnis verbunden sein, soll sich mit anderen Kindern oder Erwachsenen abspielen und wird somit auch eine Förderung der Sozialkompetenz beim Kind bewirken können. Bewegung, die mit Erlebnis und Freude verbunden ist, spornt die Begeisterung der Kinder an und ist auch ein emotionaler Gewinn für die Kinder. Freude und Begeisterung über die Bewegung führen insgesamt zur Lebensfreude und Lebensbejahung. Dadurch kann recht verstandene Bewegung auch zu einer positiven Lebenseinstellung der Kinder führen. Kinder mit diesen Erfahrungen sind Konflikten jeglicher Art möglicherweise mehr gewachsen und trauen sich zu, sie zu bewältigen.
Wenn die Bewegungsaktionen gemeinsam mit anderen Kindern oder Erwachsenen erfolgen, so muss das Kind Rücksicht nehmen auf die anderen, wird durch den Mut und die Begeisterung der anderen angesteckt und gewinnt somit mehr Sicherheit und Selbstvertrauen.
Diese grundsätzlichen Überlegungen verlangen von den Bewegungsaufgaben, dass sie den Einfallsreichtum, die Intelligenz und die Phantasie herausfordern können müssen. Daher lassen sich folgende motopädagogischen Prinzipien für Bewegungsaufgaben formulieren:
- Die Bewegungsaufgaben sollen persönlichkeitsorientiert sein, sie sollen dem Kind in seiner ganzen Persönlichkeit zugute kommen und nicht isoliert eine bestimmte sportliche Leistung der Kinder steigern.
- Die Bewegungsaufgaben sind individualisiert, d.h. jedes Kind kann die Bewegung so durchführen, wie es sie sich zutraut, und es kann je nach Bedürfnis die Schwierigkeit steigern, z.B. begehen die meisten Kinder zuerst einmal vorsichtig eine Rutsche, bremsen erheblich, wenn sie zum erstenmal rutschen, werden dann immer schneller, bis sie sich schließlich sogar bäuchlings herunter rutschen trauen.
- Die Bewegungsaufgaben sind prozessorientiert und nicht zielorientiert. Dies meint, es kommt nicht darauf an, eine bestimmte Fertigkeit einzulernen, sondern die Bewegung an sich ist das Entscheidende. Nicht das Üben hin zu bestimmten Leistungen, sondern der Vollzug der Bewegung steht im Vordergrund.
- Die Bewegungsaufgaben sind erlebnisorientiert und auf das Miteinander in der Gruppe ausgerichtet. Demnach ist es nicht im Sinne der Motopädagogik, wenn sich die Kinder zurückziehen, um eine bestimmte Übung einzulernen, die vielleicht vorgeführt werden sollte.
Daraus folgt: Die Motopädagogik will die Kinder nicht an Geräten beschäftigen, die nur bestimmte fest genormte Bewegungen zulassen, sondern die Bewegungssituationen sollen für eine große Vielfalt von Bewegungen offen sein. Bewegung ist nach den Forderungen der Motopädagogik auch vielfältige Sinneserfahrung. Die Kinder sollen neben den Bewegungen auch das Sehen, Hören, Riechen und Fühlen einsetzen können (Zinke-Wolter, 1991).
Alle diese Forderungen der Motopädagogik erscheinen vorbildhaft bei der Errichtung und beim Betrieb des Spielhauses in Stockdorf verwirklicht zu werden.
3. Die Entstehungsgeschichte des Spielhauses in Stockdorf
In Stockdorf, im Süden von München gelegen, stand dem Eltern-Kind-Programm e.V. über 20 Jahre die alte Volksschule zur Durchführung von Eltern-Kind-Aktionen zur Verfügung. Als von der dortigen Gemeinde beschlossen wurde, dieses Haus abzureißen, bildete sich eine Bürgerinitiative, die sich für die Erhaltung und Renovierung dieses Hauses einsetzte. - sie konnte erreichen, dass sich die Verantwortlichen der Gemeinde umstimmen ließen und eine Renovierung des Hauses durchführten. Mit Unterstützung des Deutschen Familienverbandes entschloss sich der Eltern-Kind-Programm e.V. dazu, in einem Raum dieses Hauses ein Spielhaus für Kinder einzurichten.
Zusammen mit der Holzwerkstatt German Heimrath wurde der Plan ausgearbeitet. Die Verantwortlichen im Eltern-Kind-Programm e.V. konnten bereits Erfahrungen zur Ausgestaltung eines Spielhauses einbringen, denn von ihnen wurde vor mehreren Jahren in der Familienerholungsstätte Köblitzplatte bei Burglengenfeld (Oberpfalz) ein Spielhaus eingerichtet.
Nach der Planung wurde ein Modell des Spielhauses erstellt, das den Eltern und Kindern den Bau plastisch veranschaulichen sollte. Nachdem Planung und Finanzierung standen, wurde mit sieben Familien an Wochenenden dieses Spielhaus errichtet.
Eltern und Kinder sägten, hobelten, schleiften, schabten und schmirgelten zuerst die Hölzer zurecht. Dann wurde Stück für Stück der Plan verwirklicht. German Heimrath stand den Eltern und Kindern zur Seite. Er zeigte die einzelnen Arbeitsgänge, beriet beim Bau und überwachte die Ausführung. Für viele Väter, Mütter und Kinder war es ein Erlebnis, einmal selbst eine Bank, ein Podest, eine Leiter oder eine Treppe errichtet zu haben. Nach 12 Wochen intensiver Arbeit konnte das Spielhaus in Stockdorf feierlich eröffnet werden.
In Stockdorf waren die Kinder wegen der Enge des Raumes vorwiegend nur bei den Vorbereitungen tätig. Dagegen konnten in der Familienerholungsstätte Köblitzplatte sich die Kinder in dem großen Raum immer beteiligen. Oftmals entwickelten die Kinder ganz eigene Ideen der Ausgestaltung, die - soweit es möglich war - realisiert wurden, oder sie schufen aus den Holzabfällen Geräte und Spielsachen für sich.
4. Die Spielmöglichkeiten des Spielhauses
Das Spielhaus in Stockdorf, das nur auf einem sehr kleinen Raum von ca. 4 x 4 Metern eingerichtet wurde, bietet auf drei Ebenen den Kindern folgende Möglichkeiten:
- Auf der untersten Ebene können die Kinder Theater spielen, werken und mit verschiedenen Klanginstrumenten Töne erzeugen. In einer Trennwand sind Klangstäbe befestigt, die helle Töne erzeugen. Darunter, in einer Höhle, ist eine Zungentrommel, mit der sich dumpfe und sanfte Töne erzeugen lassen. Sogar am Holzgeländer der Treppe, an den Trennwänden und an den Podesten lassen sich klänge verschiedener Stimmungen erzeugen. Zum Theater spielen sind auf dieser Ebene Stockpuppen aufgestellt und Möglichkeiten zum Verkleiden geboten.
- Im Zwischengeschoss sind zwei Kuhlen, in die sich die Kinder zurückziehen können, um sich auszuruhen. Weiterhin sind Schaumwürfel vorhanden zum Bauen. Es soll noch eine Hängematte angebracht werden, die beim sanften Schaukeln ein Schlummern und Dösen erlaubt. Zugleich können die Geländer an der Treppe und an der Empore zum Hanteln und Klettern benutzt werden.
- Auf der dritten Etage befindet sich die Attraktion für die Kinder: eine Rutsche und eine Hüpfmöglichkeit. Um zur Rutsche zu gelangen, müssen die Kinder über ein Podest klettern und durch eine Eingangsrundung kriechen. Am Ende der Rutsche liegt eine Schaumstoffmatte, damit sie sich nicht verletzen. Neben der Rutsche befindet sich ein höheres Podest, von dem die Kinder herunterspringen können.
In einer Ecke des Raumes ist eine Kuhle. Hier können sich die Kinder, die noch nicht den Mut zum Rutschen oder zum Springen haben, zurückziehen und vorerst einmal aus sicherer Position zuschauen.
Das sind die vorgeplanten Bewegungsmöglichkeiten des Spielhauses. Wer die Kinder beim Spielen in diesem Haus beobachtet, wird eine Vielzahl von Möglichkeiten sehen, wie die Kinder die Einrichtung zu einfallsreichen Bewegungen nutzen.
Wenn jetzt nur die Bewegungsmöglichkeiten der Kinder beschrieben wurden, so besagt dies nicht, dass nicht auch die Erwachsenen im Spielhaus herumtollen können. Es gibt kaum eine Mutter oder einen Vater, der nicht auch die Rutsche probiert, vom Podest springt, die Klangstäbe anschlägt oder auch versucht, in eine Kuhle zu kriechen.
5. Den Kindergarten oder das Wohnzimmer zum Spielhaus umbauen?
Muss es unbedingt ein eigenes Gebäude, eine Familienerholungsstätte, ein Familienzentrum sein, um ein Spielhaus einrichten zu können? Das Beispiel in Stockdorf hat gezeigt, dass oftmals schon ein kleiner Raum genügt, um durch entsprechende Ausstattung den Kindern eine Vielzahl von Bewegungsmöglichkeiten bieten zu können. In Kindergärten ist häufig ein derartiger Raum vorhanden, der mit den Eltern zusammen als Spielhaus umgebaut werden könnte. Ein Spielhaus im Kindergarten wäre eine vorzügliches Angebot, die Kinder psychomotorisch zu fördern, weil durch die Einrichtung selbst die Kinder zur Bewegung herausgefordert werden. Der Erzieher braucht nicht zum Bewegen ermahnen, nicht ein Programm der Beschäftigung ausarbeiten und nicht ständig durch neue Ideen die Kinder für die Sportstunde zu motivieren. Eine Rutsche, ein Podest zum Springen hat einen derartigen Aufforderungscharakter, dass es wahrscheinlich kaum ein Kind geben wird, das nicht mitmachen will.
Zusätzlich ergibt sich die Möglichkeit, durch die Errichtung des Spielhauses mit den Eltern eine praxis- und handlungsorientierte Elternarbeit zu verwirklichen. Eltern lernen sich durch die gemeinsame Aktion näher kennen und sehen, wie den Kindern vielleicht auch in der eigenen Wohnung derartige Bewegungsangebote ohne großen Aufwand geboten werden können.
Wer selbst ein Haus besitzt und seinen Kindern eine Vielfalt an Bewegungs- und Fördermöglichkeiten schaffen will, kann sich ein derartiges Spielhaus selbst anfertigen. Aber auch in einer Wohnung lassen sich mit überlegten Holzeinbauten Möglichkeiten schaffen, die die Kinder zum Hängen, Strecken, Hochziehen, Springen und Klettern verleiten.
Diese geschaffenen Gelegenheiten zur Bewegung für Kinder werden deshalb immer unverzichtbarer, weil die Zubetonierung der Landschaft stetig weitergeht, der Verkehr immer mehr zunimmt und es bald nur noch abgegrenzte Bezirke (wie Spielplätze) geben wird, in denen Kinder sich aufhalten können.
Literatur
Heide, Christine: Kind in Deutschland. Hamburg 1981, S. 62 ff
Kiphard, Ernst: Motopädagogik. Dortmund 1990/4, S. 10, 13, 23
Kiphard, Ernst: Psychomotorik in Praxis und Theorie. Ausgewählte Themen der Motopädagogik. Dortmund 1989, S. 11
Zinke-Wolter, Petra. Spüren - Bewegen - Lernen. Handbuch der mehrdimensionalen Förderung bei kindlichen Entwicklungsstörungen. Dortmund 1991, S. 227 ff