Professionelles Handeln im SystemPerspektiven pädagogischer Akteur*innen auf die Personalsituation in Kindertageseinrichtungen (HiSKiTa)

Im Interiew mit Prof. Dr. Julia Schütz, Dr. Stefan Klusemann und Dr. Lena Rosenkranz vom Lehrgebiet der Empirischen Bildungsforschung

Im Auftrag der Bertelsmann Stiftung wurde im Rahmen der Studie „Professionelles Handeln im System. Perspektiven pädagogischer Akteurinnen und Akteure auf die Personalsituation in Kindertageseinrichtungen (HiSKiTa)“ die Personalsituation in den Einrichtungen untersucht.

Prof. Dr. Julia Schütz, Dr. Stefan Klusemann und Dr. Lena Rosenkranz (FernUniversität in Hagen, Lehrgebiet für Empirische Bildungsforschung) haben im Rahmen des FachkräfteZOOMs die qualitative HiSKiTa-Studie mit insgesamt 128 pädagogischen KiTa-Akteur*innen aus 13 Bundesländern durchgeführt, um die Perspektive der pädagogischen Fachkräfte auf die aktuelle Personalsituation im FBBE-Feld zu erforschen.

Ein deutliches Ergebnis der HiSKiTa-Studie ist, dass der Personalmangel oftmals dazu führt, dass Erzieher*innen sich gezwungen sehen, „den Bildungsauftrag gegenüber der Aufsichtspflicht hintanzustellen“ (S. 8). Da Kindertagesstätten einen gesetzlichen Bildungsauftrag erfüllen müssen, wird ein Handlungsbedarf deutlich, auch um Bildungsgerechtigkeit zu gewährleisten.

Die Ergebnisse zeigen unterschiedliche Ausprägungen des Personalmangels. In besonders belasteten KiTas leidet die Qualität der pädagogischen Arbeit erheblich aufgrund der eingeschränkten personellen Ressourcen. Dies betrifft dann nicht nur die Erfüllung des Bildungsauftrags, sondern auch die Veränderung des pädagogischen Handelns aufgrund von Druck, zu großen Gruppen und einer fehlenden Kontinuität. Pädagogische Akteur*innen sind hier weitreichenden Überlastungs- und Überforderungssituationen ausgesetzt. Und der Personalmangel wirkt sich teils erheblich auf die Kinder aus: weil weniger oder gar keine individuelle Aufmerksamkeit möglich ist; weil ein verlässlicher Beziehungsaufbau zu den Kindern beeinträchtigt wird; und weil das pädagogische Handeln in Folge von Hektik und Druck restriktiver wird und den Kindern auch weniger Freiräume eingeräumt werden (können). Die Studie stellt einen akuten Handlungsbedarf von politischer Seite fest, um eine kindgerechte Betreuung, Bildung und Erziehung gewährleisten zu können.

Könnten Sie anhand einiger Beispiele aus der HiSKiTa-Studie erläutern, wie sich die aktuelle Personalsituation auf die Kinder und das professionelle Handeln in der Praxis auswirkt?

Julia Schütz: Die aktuelle Personalsituation ist durch einen personellen Mangel gekennzeichnet. Die Auswirkungen dieses personellen Mangels lassen sich auf der Grundlage der Aussagen der pädagogischen Akteur*innen auf der Ebene der Kinder und auf der Ebene des pädagogischen Personals erläutern, wobei der Fokus auf das professionelle Handeln, also auf die Professionalität der pädagogischen Fachkräfte liegt. Unser Blick auf Professionalität steht in Verbindung zum Zentrum für pädagogische Berufsgruppen- und Organisationsforschung (ZeBOHagen), dass sich im Kern allen Fragen rund um die Arbeit, dazu zählen Zugangswege ins Berufsfeld, Aus- und Weiterbildung und natürlich das konkrete Berufshandeln sowie das Nachdenken eben über das Handeln in pädagogischen Handlungsfeldern widmet.

Zunächst einmal beschreiben die befragten Fachkräfte die Auswirkungen des Personalmangels auf der Ebene der Kinder. Pädagogisches Handeln kann mit Blick auf die Entwicklung von Kindern Positives oder auch Negatives aktivieren und steht im unmittelbaren Zusammenhang mit den vorhandenen Ressourcen. Professionalität kann nur realisiert werden, wenn eine angemessene Ressourcenausstattung überhaupt bereit steht. Mit Ressourcen sind sowohl die personelle Ausstattung als auch Raum, Zeit und Geld gemeint. Ermöglichen die bereitgestellten Ressourcen professionelles Handeln, erleben die Befragten auf Seiten der Kinder unterschiedliche Facetten des Wohlbefindens, beispielsweise Entfaltung, Genuss, Offenheit oder Erzählfreudigkeit. Sind die Ressourcen dagegen zu knapp bemessen und beschränken das pädagogische Handeln, kann dies Gereiztheit, Ungeduld, fehlende Konzentration, Konflikte, hohe Stresszustände und auch Angst bei den Kindern auslösen. Das empirische Material der HiSKiTa-Studie zeigt, dass sich pädagogisches Handeln aufgrund des Personalmangels teilweise verändert und sich aus dem (notgedrungenen) Abrücken von professionellen Ansprüchen Nachteile für die anvertrauten Kinder und deren Entwicklungspotentiale ergeben. Wir konnten in unserer Studie einen sogenannten „Spagat“ identifizieren, nämlich den Spagat zwischen vorhanden Ressourcen und den Ansprüchen an die eigene Professionalität der pädagogischen Fachkräfte.

Dieser Spagat zwischen Ressourcen und Professionalitätsansprüchen wird von den pädagogisch Tätigen unterschiedlich stark wahrgenommen und von ihnen auch unterschiedlich bearbeitet. Insgesamt jedoch hat die unzureichende personelle Ausstattung in KiTas nach Aussage der Akteur*innen erheblichen Einfluss auf die stattfindenden Bildungsprozesse, auf den Grad an Autonomieerleben der Kinder und ihr Wohlbefinden. Dabei sind diese Ebenen aus erziehungswissenschaftlicher Perspektive nicht unabhängig voneinander zu sehen; sie befördern oder hemmen sich vielmehr gegenseitig. Die Befragten berichten, dass sich ihr Fokus durch einen Personalmangel oftmals auf die Erfüllung der Aufsichtspflicht reduziert. Entsprechend schwindet der Raum für Bildungsprozesse. Über alle untersuchten KiTa-Teams hinweg wird beschrieben, dass infolge der dünnen Personaldecke einzelne Bildungsangebote verschoben werden oder ausfallen müssen. Dies betrifft auch Bildungsanlässe, die in sämtlichen Interaktionsprozessen zwischen pädagogischen Akteur*innen und Kindern gegeben sind.

Stefan Klusemann: Insgesamt zeigen die Studienergebnisse, dass grundlegende Merkmale professionellen Handelns infolge des Personalmangels nicht eingelöst werden können. Die Fachkräfte nehmen wahr, dass sich bei knappen personellen Ressourcen ihr Handeln beschleunigt und sich ihr Wahrnehmungsspektrum reduziert und sie nicht mehr angemessen auf Äußerungen oder Bedürfnisse der Kinder eingehen – und stattdessen teils sehr restriktiv handeln: ihre Wahrnehmungs- und Deutungssensibilität genauso wie die sensitive Responsivität reduzieren sich. Für einige Fachkräfte gestaltet sich der Alltag als ‚Jonglieren und Improvisieren‘. Sie beschreiben körperliche und psychische Belastungen, Hektik, (Zeit)druck, bis hin zu Überforderungsgefühlen als Resultat von Personalmangel und Personalfluktuation. Sie können den Blick für das einzelne Kind kaum aufrechterhalten und den vielfältigen Bedürfnisse der Kinder und ihren individuellen Lebenssituationen nicht ausreichend Aufmerksamkeit schenken. Und dies betrifft im Kern auch den Raum für Reflexionsprozesse, die ein zentrales Fundament pädagogischer Professionalität bilden. Sie finden nur verkürzt statt oder müssen teils ausgesetzt werden. Auch dadurch wird das professionelle Handeln der pädagogischen Akteur*innen in KiTas bedroht, in einigen Fällen gar paralysiert. Pädagogische Akteur*innen können noch so gut sein. Wenn die Arbeitsbedingungen nicht stimmen, lässt sich Professionalität nicht umsetzen.

Lena Rosenkranz:  Durch die knappen personellen Ressourcen entsteht zudem nicht selten die Notwendigkeit, das angehende Personal mit hohen Verantwortlichkeiten im Gruppendienst einzusetzen. Dies berichten alle befragten Fach- und Berufsschüler*innen. Die Praxis geht so weit, dass mitunter den Fach- und Berufsschüler*innen die Verantwortung für ganze Gruppen übertragen wird. Dass KiTas sich zu einem solchen Vorgehen gezwungen sehen, ist kritisch zu betrachten: Zum einen sind bei dem angehenden pädagogischen Personal die umfangreichen Kompetenzen, die eine Betreuung, Erziehung und Bildung von Kindern erfordert, noch nicht ausgereift, und eine geprüfte Lizenz liegt zum Teil noch nicht vor. Zum anderen wird das Stadium des Moratoriums für die Fach- und Berufsschüler*innen aufgelöst – die Zeit, zu lernen, zu beobachten und zu reflektieren, bevor das verantwortliche Handeln beginnt, wird notgedrungen verkürzt. Das Bild der grundsätzlich belasteten KiTas wird durch diese Praxis verstärkt und es markiert eine Tendenz der Deprofessionalisierung in den Qualifikationsphasen.

Wie könnte der Personalbedarf Ihrer Meinung nach in Zukunft besser abgedeckt werden?

Julia Schütz: Ein wesentlicher Ansatzpunkt liegt sicherlich in der Ge- und Ausgestaltung des pädagogischen Handlungsfeldes, damit verbunden der Zugangswege sowie der Entwicklungsmöglichkeiten durch Fort- und Weiterbildung in der Frühkindlichen Bildung, Betreuung und Erziehung. Die Entscheidung für diesen Beruf ist häufig stark intrinsisch motiviert, d.h. die Berufseinsteiger*innen – in der Hauptsache sind es junge Frauen – entscheiden sich nicht für diesen Beruf, um unter schwierigen, ressourcenknappen Bedingungen Kinder zu betreuen. Und damit meine ich jetzt: Darauf aufzupassen, dass alle möglichst unversehrt durch den Tag kommen. Sie entscheiden sich für diesen anspruchsvollen Beruf, weil sie Menschen in den ersten Jahren ihres Lebens professionell begleiten möchten, Lern- und Bildungsprozesse initiieren und unterstützen wollen. Sie wollen Bildungsarbeit leisten. Hierzu bedarf es einer umfassenden Aufwertung der Berufsgruppen in der FBBE. Diese Aufwertung muss sich in allen Phasen der Berufstätigkeit abzeichnen: beim Einstieg bzw. Zugang in das Berufsfeld, innerhalb der pädagogischen Praxis sowie in der Ermöglichung von Fort- und Weiterbildungen; auch vor dem Hintergrund einer Ausdifferenzierung im beruflichen Handlungsfeld, z.B. durch Spezialisierung und in Hinblick auf eine leistbare Berufsausübung bis zum Renteneintritt.

Lena Rosenkranz: Wir regen in Anbetracht der Qualitätsdiskussion sowie der empirisch gesicherten Erkenntnis des Zusammenhangs von Professionalisierung und Reflexionsfähigkeit die integrative Einbindung von Reflexionsmöglichkeiten bzw. -anlässen für das Personal in der pädagogischen Praxis an. Räume für Reflexionen können Druck und Hektik seitens der pädagogischen Akteur*innen reduzieren und somit nicht nur für die Kinder, sondern auch für die Fachkräfte Entlastungen schaffen.

Darüber hinaus sollten gesamtgesellschaftliche Entwicklungen in KiTas aufgegriffen werden. Dies betrifft z.B. die Einbindung digitaler Bildungsangebote in KiTAs. Die tiefgreifenden Veränderungen infolge der Digitalisierung gilt es bereits in den ersten Lebensjahren pädagogisch zu bearbeiten. Dies betrifft aber auch den Ausgleich von Bildungsungerechtigkeit. Das Ziel der Chancengleichheit wird konzeptionell in KiTas proklamiert. Um dies auch in der täglichen Praxis einlösen zu können, braucht es eine Verbesserung der Rahmenbedingungen. Eine Aufwertung der frühkindlichen Bildung würde die Ausgangslage für den weiteren Lebensweg der Kinder – in der Schule, in ihren Ausbildungen und letztlich ihren Berufen bedeuten.

Stefan Klusemann: Sowohl mit Blick auf die einzelnen Einrichtungen als auch auf das System insgesamt legen die Interviews nahe, dass eine Verbesserung der Arbeits- und Ausbildungsbedingungen in den Einrichtungen sowie ein Ausbau der Begleitung durch Fach- und Praxisberatung zentrale Einflussfaktoren sind.

Einige Einrichtungen haben teils erhebliche Personalfluktuation und längerfristig unbesetzte Stellen. Für KiTas, die von mehreren Formen von Personalmangel betroffen sind und sich in einem ‚Negativkreislauf‘ befinden, können sich massive Belastungen für das KiTa-Personal und ihr professionelles Handeln ergeben. Die Auswirkungen auf die Teams, die einzelnen pädagogisch Tätigen und die Kinder potenzieren sich; Entfremdungsprozesse vom Beruf sind erkennbar. Hier sind umgehende und umfassende Aufmerksamkeit und Unterstützung geboten in Form von langfristiger und zeitlich umfangreicher externer Begleitung durch Fach- und Praxisberater*innen – idealerweise bei personaler Differenzierung zwischen Fach- und Dienstaufsicht.

Der generelle Ausbau fachberaterlicher Personal- und Zeitressourcen und die Stärkung des Aufgabenschwerpunkts, Teams und pädagogisch Tätige fachlich zu begleiten, könnte zudem insgesamt zur Minderung von Personalfluktuation in den Einrichtungen beitragen - und zugleich zur Sicherung von Professionalität.

Der grundsätzliche Bedarf an zusätzlichen Ressourcen macht darüber hinaus eine Erhöhung der Ausbildungskapazitäten zwingend erforderlich – vor allem auch aufgrund der eingeschränkten Verfügbarkeit von fachlich einschlägig qualifiziertem Personal in einigen Regionen und angesichts der Belastungen, die für die Teams durch unbesetzte Stellen entstehen. Eine Herabsetzung der Qualifikationsanforderungen für pädagogisches Personal ist keine Alternative zur Sicherung hoher Qualität in der FBBE.

Es müssen jedoch nicht nur Ausbildungszahlen erhöht werden. Uns ist vielfach berichtet worden, dass durch die angespannte Personalsituation auch Bewerber*innen eingestellt werden, die nicht in die Teams passen und die auch nicht die eigentlich erforderlichen Kompetenzen mitbringen. Insofern braucht es auch dringend Investitionen in die Qualitätsentwicklung der Ausbildung. Dazu gehört auch, die zeitlichen Ressourcen in den Einrichtungen für die Begleitung der pädagogischen Nachwuchskräfte zu erhöhen. Durch knappe Ressourcen ist eine intensive Praxisanleitung des angehenden Personals zzt. nur eingeschränkt gegeben. Die Professionalisierung der Mentor*innen in den KiTas sollte darüber hinaus durch Fort- und Weiterbildungen intensiver unterstützt werden. Konsultations-KiTas können hierbei aufgrund ihrer partizipativen Konzeption eine wichtige Ressourcenquelle für kollegiale Beratung und Unterstützung sein.

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