Wie lernen Kinder? Frühkindliche Bildung im Licht neuropsychologischer Forschung

Axel Bernd Kunze

Die Neurowissenschaften sind in den vergangenen zwei Jahrzehnten äußerst populär geworden. Neue Teildisziplinen an der Schnittstelle zwischen Hirnforschung sowie Geistes- und Sozialwissenschaft entstanden, so beispielsweise innerhalb der Wirtschaftswissenschaften die Neuroökonomie, innerhalb der Theologie oder Religionswissenschaft die Neurotheologie oder eben innerhalb der Pädagogik die Neurodidaktik. Wird nun erklärbar, was bisher nur alltagstheoretisch fassbar war?

Die Neurowissenschaften helfen uns, die Eigengesetzlichkeiten des Geistig-Psychischen besser zu verstehen - ohne dass der Mensch damit allein auf seine physikalischen, chemischen oder physiologischen Bedingungen zu reduzieren wäre. Hierauf hat Gerhard Roth (2015, S. 371) aufmerksam gemacht. Denn diese Eigengesetzlichkeiten, die als solche noch gar nicht verwundern, führen im Gehirn zu einer gewissen Autonomie geistiger Prozesse, die sich insbesondere bei der Verarbeitung neuer und für das Leben oder Überleben wichtiger Informationen als ordnungstiftende und gestaltende Faktoren zeigen. Damit sind wir beim Lernen.

Doch was wir als bunte Bilder vom Gehirn kennen, sind nicht einfach Abbildungen, beispielsweise von Lernprozessen. Vielmehr handelt es sich um hochverdichtete Konstrukte, welche die physiologischen Vorgänge, beispielsweise bei Lernprozessen, veranschaulichen sollen. Solche Forschungen können Pädagogik nicht ersetzen, aber sie lassen allgemeine Aussagen darüber zu, was Lernen fördert oder behindert. Eine mathematische Formel für menschliche Lernprozesse können die Neurowissenschaften nicht liefern; auch deren Erkenntnisse müssen pädagogisch rekontextualisiert werden, also anschlussfähig gemacht werden an die spezifische Situation, das lernende Individuum oder die konkrete Lerngruppe.

Ralph Schumacher (2012) hat das Verhältnis zwischen Neurowissenschaft und Pädagogik in folgendem Bild verdeutlicht: Die Neurowissenschaft stellt keine Anleitung zum Bau eines Segelbootes zur Verfügung, aber sie gibt Hinweise, wie das pädagogisch zu konstruierende Boot auf dem weiten Meer effizient genutzt werden kann. Lernen steht in einem größeren Kontext, den pädagogische Fachkräfte didaktisch erfassen müssen und der über den Horizont der Neurowissenschaft hinausreicht. Hier sind überzogene Erwartungen inzwischen zurückgenommen worden.

Aber die Neurowissenschaften können wichtige Hinweise liefern, auf die richtigen Bedingungen für gelingendes Lernen zu achten - mit dem Ziel, Kinder gut auf das Leben vorzubereiten, sie stark zu machen und zugleich widerstandsfähig, wenn Belastungen auf sie zukommen. Dabei können aus neurowissenschaftlicher Sicht Erfahrungen bestätigt werden, die schon lange aus pädagogisch-psychologischer Erfahrung bekannt sind.

Im Folgenden soll auf Basis neuro- und entwicklungspsychologischer Erkenntnisse gefragt werden:

  1. Wie lernen Kinder?
  2. Wie sollten Lernprozesse gestaltet sein?
  3. Was macht Kinder widerstandsfähig? - und
  4. Wie kann die Widerstandsfähigkeit in Kindertageseinrichtungen gefördert werden?

1. Wie lernen Kinder?

Die Suche nach dem berühmten "Nürnberger Trichter" mag verlockend sein, wird aber pädagogisch erfolglos bleiben. Denn Lernen erfolgt nicht passiv, sondern ist ein aktiver Vorgang der Informationsverarbeitung (vgl. für das Folgende Spitzer 2006/2014). Dabei lassen sich Veränderungen im Gehirn des Lernenden nachweisen. Eine besondere, wenn auch keine ausschließliche Rolle, spielt der Hippokampus im Inneren des Gehirns, ein Art "Arbeitsspeicher" (der Name bedeutet "Seepferdchen", was an das ungefähre Aussehen dieses Teils des Gehirns erinnert).

Pädagogisch geht es bei einer neuropsychologischen Sicht auf Lernen nicht in erster Linie um die Suche nach Defiziten. Vielmehr wird angestrebt, die Rahmenbedingungen für die Aktivität des Lernens möglichst förderlich zu gestalten. Dabei kommt es nicht allein auf die Quantität an - nach dem Motto: möglichst früh, möglichst viel. Dies war ein Denkfehler sogenannter "Hothousing"-Programme, die nach der ersten PISA-Studie in China und den USA um sich griffen. Babys sollten demnach bereits früh mit möglichst vielen Reizen konfrontiert werden.

Es kommt vielmehr auf die Qualität der Lernprozesse an. In den frühen Jahren verändert sich das Gehirn sehr stark, daher darf die frühe Bildung für die Entwicklung des Einzelnen nicht unterschätzt werden. In den ersten zwei Lebensjahren sind die Nervenzellen als gleichmäßiges Netz verbunden, das so aber nicht erhalten bleibt. Die synaptischen Verbindungen zwischen den einzelnen Nervenzellen - sozusagen die wichtigen "Datenbahnen" in unserem Gehirn - nehmen zu. In den weiteren Jahren bis zur Pubertät verstärken sich einzelne dieser Bahnen, es kommt - um im Bild zu bleiben - zu "Datenautobahnen", die stärker, schneller und häufiger "befahren" werden als andere. Die Verstärkung einzelner Synapsen ist abhängig von Lernprozessen, von der Häufung der Impulse in Bezug auf bestimmte Gehirnaktivitäten, die beim Lernen eine Rolle spielen. Im Erwachsenenalter steht das bis dahin gebildete, mehr oder weniger strukturierte Netz zur Verfügung. Allerdings zeigen neuere Untersuchungen, dass unser Gehirn auch im Erwachsenenalter keineswegs starr ist. Abhängig vom "Input", das es erhält, baut sich unser Gehirn immer wieder um.

Die gespeicherten Informationen werden vom Gehirn nicht einfach als Abbild gespeichert; vielmehr handelt es sich um Repräsentationen in Form komplexer neuronaler Muster. Synapsen arbeiten nicht symbolisch, sie kennen nur die Aktivierung oder Hemmung durch Impulse. Die Informationen in unserem Gehirn werden durch Synapsenstärken repräsentiert. So wie wir bei der Arbeit am Computer nicht sehen, was in den einzelnen Chips abläuft, ist uns die "Arbeit" unserer Synapsen ebenfalls nicht direkt zugänglich; nur durch aufwendige bildgebende Verfahren ist es der Neurowissenschaft gelungen, einen Teil dieser Vorgänge nachzuvollziehen.

Im Vergleich zur Computertechnik "lernt" unser Gehirn äußerst langsam und muss durch Übung und Wiederholung beständig unterstützt werden; dafür verarbeitet und speichert es Informationen aber sehr viel komplexer. Denn es genügt nicht, dass wir beim Lernen einfach ein "Abbild" von etwas speichern. Es kommt auf die Regel dahinter an - nur dann können wir etwas Gelerntes auch unter anderen Bedingungen und in veränderter Form wieder abrufen. So ist es beim Spracherwerb für Kinder beispielsweise wichtig, nicht allein einzelne Wörter zu lernen, sie müssen die Regel dahinter verstehen und neuronal verarbeiten.

Insgesamt hat die Neuropsychologie darauf aufmerksam gemacht, welch wichtige Rolle Emotionen für ein ganzheitliches, effektives Lernen spielen. Unsere neuronalen Schaltkreise werden nicht unwesentlich durch zwischenmenschliche Erfahrungen bestimmt. Zu erklären versucht wird dies mit Hilfe sogenannter Spiegelneuronen, wie Giacomo Rizzolatti besondere Nervenzellen bezeichnet hat. Allerdings sind Forschungen in diesem Bereich, die zunächst an Primaten vorgenommen wurden, schwer auf den Menschen zu übertragen; die Untersuchung einzelner menschlicher Neuronen ist nur bei ganz bestimmten Krankheitsbildern möglich.

Spiegelneuronen ermöglichen es, mitzuvollziehen, was bei anderen abgeschaut wurde. Für Kinder sind Spiegelneuronen gleichsam die "Eintrittskarte" in die Welt, weil sie die unbewusste Tendenz zur Imitation begünstigen, z.B. im motorischen Bereich. Über Analogieschluss erfolgte die Annahme, dies gelte auch für Emotionen: Gefühlsbezogene Spiegelneuronen - so die Annahme -, ermöglichten es, sich an der Aktion eines anderen still mitzubeteiligen, machten empathiefähig und würden helfen, andere intuitiv - ohne längeres Nachdenken - zu verstehen. Gesicherte Belege für eine solche Annahme fehlen allerdings noch.

Kinder lernen am Modell, am lebendigen und erlebbaren Vorbild des Pädagogen - dessen sollten sich Erzieherinnen und Erzieher immer bewusst sein. Untersuchungen haben gezeigt, dass beim Einsatz von "Lernrobotern" die Spiegelneurone quasi ausgeschaltet sind. Aufgabe des Pädagogen ist es, sich in die Kinder hineinzuversetzen und eine Atmosphäre aufzubauen, in der Lernen Freude macht und gelingen kann. Die pädagogische Kunst besteht darin, die rechte Balance zwischen Verstehen und Führen deutlich zu machen.

2. Wie sollten Lernprozesse gestaltet sein?

Welche Hinweise kann die Neurowissenschaft für die Gestaltung einer gedeihlichen Lernatmosphäre und erfolgreicher Lernprozesse geben? Wie schon immer in der Geschichte der Erziehung gilt auch hier: Es kann nicht um fertige Rezepte gehen, womöglich noch für einen Einheitsbrei, der jedem schmeckt - denn jedes Kind ist anders. Formulieren lassen sich aber Prinzipien, an denen sich pädagogisches Handeln orientieren kann (zusammengestellt nach Caspary 2012 und Jackel 2008).

  1. Die Neurowissenschaft hat darauf aufmerksam gemacht, dass Lernen gleichfalls ein physiologischer Vorgang Kinder lernen effektiver, wenn sie Erfahrungen machen können, die ihre Sinne in vielfältiger und komplexer Weise ansprechen. Kinder, die beispielsweise in einem längeren Projekt ein Floß gemeinsam gebaut und dann auch ausprobiert haben, werden mehr gelernt haben als bei vielen kleinen Einzelaktivitäten: von den ersten Überlegungen, dem Erstellen eines Plans über die Informationssuche, die Herstellung eines Modells bis zur Bau-, Test- und Reflexionsphase.
  2. Das Gehirn ist ein "soziales Organ" - oder anders gesagt: Lernen läuft in entscheidendem Maße über den Einbezug sozialer Interaktionen. Diese kommen z.B. zum Tragen bei theaterpädagogischen Lernformen, beim Philosophieren mit Kindern oder bei gemeinsamen Bewegungsspielen.
  3. Die menschliche Beziehung zwischen Kind und Erzieher/in spielt eine entscheidende Rolle. Kinder lernen effektiver, wenn ihre Interessen und Ideen von der Erzieherin gewürdigt und einbezogen werden, wenn das Gelernte als persönlich bedeutsam eingestuft wird. Formen der Partizipation sollten daher immer wieder eingezogen werden, genauso wie Dokumentations- und Präsentationsformen, welche die eigene Leistung würdigen.
  4. Lernen geschieht, wie deutlich geworden ist, durch die Bildung von neuronalen Mustern, ist entscheidend ein Vorgang der Ordnung und Kategorisierung. Kinder lernen, indem sie vorhandenes Vorwissen mit neuen Mustern verknüpfen, beispielsweise wenn sie ein bestimmtes technisches Können, das bereits vorhanden ist, mit einer neuen Erfahrung verbinden können. Je stärker ein neuer Inhalt anschlussfähig ist an bereits Vorhandenes, desto stärker wird er durch neuronale Repräsentationen verankert.
  5. Eine wichtige Rolle bei dieser Musterbildung spielen Begleitende positive Emotionen verstärken die Aufnahme und Verarbeitung von Informationen - z.B. das Kuscheln beim Vorlesen.
  6. Unser Gehirn verarbeitet Informationen gleichzeitig in Teilen und als Ganzes. Verstehen setzt voraus, dass übergeordnete Regelhaftigkeiten erkannt werden: Neues aufnehmen - einordnen - einüben. Beim Lernen sollte ein Verständnis des Ganzen vermittelt werden, damit Kinder die einzelnen Details miteinander verbinden können.
  7. Lernen geschieht über periphere wie gerichtete Aufmerksamkeit. Die Aufmerksamkeit kann durch klar strukturierte, rhythmisierte oder bewusst gestaltete Lernumgebungen vertieft werden. Zum Beispiel kann beim Forschen und Experimentieren (in der naturwissenschaftlichen Frühbildung) die Aufmerksamkeit fokussiert werden, indem das Experiment auf einer Pappunterlage räumlich abgegrenzt durchgeführt wird. Spiele mit sogenanntem "Flitzebogeneffekt" - wie "Alle Vögel sind schon da" - schulen Aufmerksamkeit und Reaktionsschnelle.
  8. Lernen geschieht sowohl bewusst als auch unbewusst. Zur Vertiefung ist es wichtig, dem einzelnen Kind Zeit und Raum zu geben, das eigene Lernen bewusst zu reflektieren, beispielsweise über Portfolioarbeit, eine ausgebaute Feedbackkultur, Tages- und Wochenplanungen oder die Arbeit mit "Stärkeprofilen".
  9. Unser Gedächtnis kennt verschiedene Wege, Informationen aufzunehmen und zu verarbeiten. Beim Lernen sollten verschiedene Wege zugelassen werden, damit vielfältige Verknüpfungen zwischen unterschiedlichen Informationen, bereits Gelerntem und neuen Erfahrungen entstehen. Die Verknüpfung von Lerninhalten mit persönlicher Leistung führt dazu, dass diese besser haften bleiben.
  10. Gleichzeitig sollten beim Lernen die individuellen Unterschiede hinsichtlich der Entwicklung, der Kenntnisse, Fertigkeiten und Bedürfnisse berücksichtigt werden. Lernen ist ein individueller, entwicklungsabhängiger Prozess. Innere Differenzierung, individuelle Förderpläne und kindaktive Lernmethoden nehmen auf diese Erkenntnis Rücksicht.
  11. Dauerhafte Angst ist ein schlechter Ratgeber - auch beim Lernen (etwas anderes ist die Angst in Alarmsituationen, die mitunter lebensrettend sein kann). In einer unterstützenden, motivierenden, wertschätzenden Umgebung fällt das Lernen leichter. Das heißt aber nicht, dass Kinder unterfordert werden sollten: Es bedarf einer herausfordernden Umgebung für das Lernen. Wer Kindern die notwendige Förderung, aber auch die Forderung, sich anzustrengen, verweigert, nimmt ihnen wichtige Anregungen, ihre eigenen Fähigkeiten im Bestehen der Herausforderung weiter zu entwickeln. Es geht um eine Atmosphäre "entspannter Aufmerksamkeit", durch die der Geist zu höher geordneten Funktionen angetrieben wird. Bewegung und entdeckendes Spiel unterstützen Lernvorgänge, was z.B. bei Rhythmik- und Klatschspielen ausgenutzt wird.
  12. Ein weiterer Punkt schließt direkt an: Ohne Bindung keine Bildung. Kinder müssen sich sicher fühlen, damit sie Neues entdecken können. Die pädagogische Fachkraft ist eine wichtige Wegbegleiterin, die durch einen guten Kontakt zu den Kindern deren Lernen unterstützt und aktiviert. Die Bedeutung des Kontaktaufbaus wird gleichfalls deutlich, wenn es um die Frage geht, was Kinder lernen und erwerben sollten, damit sie auch mit belastenden Situationen zurechtkommen können. Zuvor genannte Lernprinzipien werden dabei als Schutzfaktoren wiederkehren.

3. Was macht Kinder widerstandsfähig?

Ausgangspunkt der Resilienzforschung war die Beobachtung, dass einzelne Menschen trotz widrigster Bedingungen mitunter erstaunliche Lebensverläufe hervorbringen können. Resilienz bezeichnet die Fähigkeit, mit belastenden Lebensumständen oder negativen Stressfolgen umgehen zu können.

Risikofaktoren, die Krankheiten begünstigen oder die Entwicklung zu hemmen vermögen, können sowohl in der Person des Einzelnen selbst als auch in der familialen oder weiteren sozialen Umwelt liegen. Kindbezogene Vulnerabilitätsfaktoren sind beispielsweise Geburtskomplikationen, chronische Erkrankungen, Anomalien, eine geringe Fähigkeit zur Selbstregulation von An- und Entspannung, psychophysiologische Faktoren wie ein auffälliges Aktivitätsniveau oder unsichere Bindung. Bei den Stressoren, die sich aus der psychosozialen Umwelt ergeben, sind beispielsweise der Verlust einer nahen Bezugsperson, Mobbing durch Gleichaltrige, Alkohol- und Drogenmissbrauch der Eltern, sehr junge Elternschaft oder unerwünschte Schwangerschaft, häufige Umzüge, ein niedriger sozioökonomischer Status oder große Geschwisterzahl zu nennen.

Viele Wirkmechanismen sind daran beteiligt, ob Risikofaktoren durchschlagen oder nicht, beispielsweise deren Dauer, Kontinuität, Intensität, Abfolge oder Häufung. Allgemein lässt sich sagen: Je mehr Risikofaktoren vorhanden sind, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit einer Entwicklungsbeeinträchtigung. Und je früher eine Belastung eintritt, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass weitere Risikofaktoren später zu Gefährdungen führen.

Allgemein durchgesetzt hat sich in der Resilienzdebatte die Definition von Corinna Wustmann. Die Referentin am Deutschen Jugendinstitut versteht Resilienz als "psychische Widerstandsfähigkeit gegenüber biologischen, psychologischen und psychosozialen Entwicklungsrisiken" (2004, S. 18). Eine solche Widerstandsfähigkeit ist weder angeboren noch ein bloßer individueller Charakterzug oder eine Persönlichkeitseigenschaft. Für fehlende Resilienz kann ein Kind nicht einfach selbst verantwortlich gemacht werden.

Resilienz ist vielmehr ein dynamischer Anpassungs- und Entwicklungsprozess. Erziehung, Bildung, Familie und andere soziale Netzwerke haben hierauf zentral Einfluss. Und gerade dies macht Resilienz zu einem wichtigen Thema frühkindlicher Bildung. Erzieherinnen und Erzieher können in ihrer Arbeit eine Menge dazu beitragen, die Resilienz bei Kindern zu stärken - was allerdings nicht heißt, Resilienz werde vom Kind einfach passiv übernommen. Resilienz wird vielmehr in der Interaktion zwischen dem Kind und seiner Umwelt erworben. Das Kind wirkt also selbst aktiv am Aufbau und an der Ausformung seiner Stärken mit.

Resilienz ist kein ein für alle Mal fest erworbener Besitzstand, sondern eine variable Größe. Der Einzelne kann sich in einer spezifischen Situation oder einer bestimmten Lebensphase als resilient erweisen, in einer anderen nicht. Auch muss Resilienz nicht in allen Lebensbereichen gleichermaßen ausgeprägt sein. Ein Kind kann sich in der Freizeit als widerstandsfähig und lebenskompetent erweisen, im Kindergarten oder in der Schule hingegen mit Schwächen kämpfen müssen.

Resilienzorientierte Konzepte interessieren sich vor allem für die schützenden Faktoren in einem risikoreichen Umfeld. Das Konstrukt "Schutzfaktor" wurde als positiver Gegenbegriff zu den angesprochenen Risikofaktoren entwickelt, ist aber keineswegs einfach die Kehrseite der Medaille - so als ginge es nur um das Fehlen entsprechender Risiken. Vielmehr kommt es für die protektive Wirkung auf das Zusammenspiel risikofördernder und risikomildernder Faktoren an. Ein bestimmter Faktor wird erst dann ausdrücklich zu einem "Schutzfaktor", wenn eine Gefährdung oder Risikobelastung vorliegt und deren pathogene Wirkung gemildert oder kompensiert wird. Wirkt sich ein Faktor auch ohne Vorliegen einer Risikobelastung aus, ist nicht von einem Schutzfaktor, sondern möglicherweise allgemein von einer entwicklungsförderlichen Bedingung zu sprechen.

Schutzfaktoren fördern die Anpassung eines Individuums an seine Umwelt und erschweren, dass sich Störungen festsetzen. Das Kind kann so besser mit Problemsituationen umgehen. Wie bei den Risikofaktoren spielen auch hier kindbezogene, familiale und im sozialen Umfeld zu suchende Faktoren zusammen. Eine gute Anpassung an Übergangs- oder Stresssituationen garantieren multiple schützende Bedingungen. Sehr wichtig ist eine stabile Bezugsperson, die Vertrauen und Autonomie fördert. Weitere Schutzfaktoren in der Familie können beispielsweise ein autoritativer Erziehungsstil, Stabilität der Familiensituation, unterstützendes familiäres Netzwerk, konstruktive Kommunikation, altersangemessene Verpflichtungen im Haushalt oder enge Geschwisterverbindungen sein. Als resilienzfördernde Faktoren im sozialen Umfeld können beispielsweise positive Freundschaftsbeziehungen, prosoziale Rollenmodelle, Verstärkungen der kindlichen Leistungen und seiner Anstrengungsbereitschaft sowie klare, transparente Regeln ausgemacht werden.

Für die frühe Bildung besonders interessant sind vor allem die personalen, kindbezogenen Resilienzfaktoren, deren Aufbau durch die pädagogische Arbeit in der Kindertageseinrichtung entscheidend gefördert werden kann. Klaus Fröhlich-Gildhoff und Maike Rönnau-Böse (2010) von der Evangelischen Hochschule Freiburg nennen vor allem sechs Faktoren:

  1. Selbst- und Fremdwahrnehmung: die Fähigkeit, eigene und fremde Gefühle und Gedanken angemessen wahrzunehmen und sich selbst reflektieren zu können.
  2. Selbststeuerung: die Fähigkeit, die eigenen Gefühlszustände und das eigene Handeln regulieren zu können.
  3. Selbstwirksamkeit: ein Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten und die Überzeugung, ein Ziel auch gegen Widerstände erreichen zu können.
  4. Soziale Kompetenz: im Einschätzen sozialer Situationen und im angemessenen Umgang mit anderen.
  5. Stressmanagement: durch eine angemessene Einschätzung der Situation und das rechte Wissen um die eigenen Grenzen und Möglichkeiten.
  6. Problemlösefähigkeit in Verbindung mit kognitiver Flexibilität: Gemeint sind Strategien zur Analyse und zum Bearbeiten komplexer Situationen unter Rückgriff auf vorhandenes Wissen und Können.

Erzieherinnen und Erzieher sollten bei ihren Beobachtungen und Entwicklungsgesprächen diese Faktoren besonders im Blick behalten.

4. Wie kann die Widerstandsfähigkeit in Kindertageseinrichtungen gefördert werden?

Kindertageseinrichtungen sind wichtige Sozialisationsinstanzen. Sie erreichen die Kinder (und ihre Eltern) - anders als die Schule - schon sehr frühzeitig und können so bereits von klein auf eine Menge dazu beitragen, die Widerstandsfähigkeit bei Kindern nachhaltig zu stärken (vgl. für das Folgende Rönnau-Böse/ Fröhlich-Gildhoff 2010).

Resilienzförderung im Bereich früher Bildung ist dabei umso wirksamer, wenn diese auf mehreren Ebenen ansetzt und in ein pädagogisches Gesamtkonzept einer Einrichtung eingebettet ist. Aber auch für das beste Präventionsprogramm gilt, dass es kein Standardprogramm gibt, das für alle Zielgruppen und alle Umgebungen gleichermaßen geeignet wäre. Pädagogische Fachkräfte müssen die erzieherischen, didaktischen und diagnostischen Fähigkeiten besitzen, die Maßnahmen auf ihre Einrichtung und die spezifische Situation hin anzupassen. Im Folgenden soll aufgezeigt werden, an welchen Stellen in einer Kindertageseinrichtung ein resilienzorientiertes Arbeiten verankert werden kann:

  1. auf Ebene des Leitbilds und der Organisationsentwicklung,
  2. in der Arbeit mit den Kindern,
  3. in der Arbeit mit den Eltern und
  4. auf Ebene der Netzwerkbildung.

Erstens: Viele gutgemeinte Programme oder Projekte hängen am Engagement einzelner Personen - und verschwinden sofort, wenn ein personeller Wechsel erfolgt. Nachhaltigkeit ist nur dann gesichert, wenn ein Programm durch einen Prozess der Leitbild-, Team- und Organisationsentwicklung konzeptionell verankert worden ist. Ein Leitbild ist kein Selbstzweck. Vielmehr geht es um einen gemeinsamen Prozess, in dem sich die Teammitglieder auf gemeinsame Ziele verständigen.

Ein solcher Prozess beginnt damit, dass ein Team die eigenen Belastungen und Ressourcen in den Blick nimmt. Die Anforderungen im Beruf sind keinesfalls geringer geworden: Pädagogische Fachkräfte sollen heute die Selbstbildungsprozesse der Kinder kokonstruktiv begleiten, die Erziehungspartnerschaft mit den Eltern aktiv gestalten, auf herausforderndes Verhalten von Kindern angemessen reagieren und die eigene Arbeit mit anderen Institutionen vernetzen. Verhaltens- wie verhältnisbezogene Maßnahmen zur Sicherung der eigenen Widerstandsfähigkeit und Arbeitszufriedenheit dürfen darüber nicht vergessen werden - im Gegenteil.

Wenn eine Einrichtung sich entschließt, resilienzorientiert zu arbeiten, kommt dies allen Kindern zugute und kann eine entlastende Wirkung auf die Arbeit in der Einrichtung haben. Haben sich Probleme verfestigt, beanspruchen Kinder sehr viel pädagogische Aufmerksamkeit und Ressourcen erzieherischer Unterstützung. Umso wichtiger und auch erleichternder für die Arbeit ist es, nicht allein indizierte oder selektive Prävention zu üben, sondern im Sinne universeller Prävention in der Breite anzusetzen. Erfahrungen aus entsprechenden Programmen zeigen, dass dies zu einem entspannten pädagogischen Arbeiten beiträgt.

Zweitens: In der direkten Arbeit mit den Kindern geht es um zwei Wege, zum einen um strukturierte Programme und zum anderen um Präventionsarbeit und Resilienzförderung in der alltäglichen Arbeit. Dabei muss das Rad nicht immer neu erfunden werden, denn vieles läuft bereits - ist aber möglicherweise gar nicht bewusst. Im Rahmen der Team- und Organisationsentwicklung kommt es dann möglicherweise weniger darauf an, alles neu zu machen, als vielmehr die Gewichte neu zu verteilen. Und es ist von Bedeutung, den Kindern das, was sie im Alltag erfahren, durchleben und bewältigen, bewusst zu machen. Dann werden soziale Erfahrungen tatsächlich zu Bildungserfahrungen, zu denen sich die Kinder bewusst verhalten können und die ihre Selbstbestimmung erweitern helfen. Ausgangspunkt aller Prävention und Resilienzförderung bleiben der Kontaktaufbau und die Bindung zum Kind.

Wie können die zuvor genannten Resilienzfaktoren in der pädagogischen Arbeit mit den Kindern gefördert werden?

  1. Selbstwahrnehmung: Eine "Gefühlsuhr", die statt Zahlen verschiedene Gesichter zeigt, kann dem Kind helfen, seine Stimmung mitzuteilen und auf die eigene Mimik und Gestik zu achten. Wichtig ist, dass die Erzieher/innen, die damit arbeiten, selbst über ihre eigenen Gefühle sprechen und ihre Körpersprache abstimmen können. Eine angemessene Selbstwahrnehmung kann ferner durch Spiele, Sinnesräume oder Bilderbücher zum Thema Gefühle gefördert werden. In medial geprägten Zeiten müssen Kinder die Wahrnehmung mit allen Sinnen teilweise erst lernen, indem einzelne Sinne spielerisch separiert werden (dies leisten z. B. Tastmemorys oder ein Barfußparcours).
  2. Selbststeuerung: Regelmäßigkeiten im Tagesablauf, klare Strukturen und Rituale fördern die Selbststeuerung, aber auch Regelspiele. Kindern gelingt es anders als Erwachsenen noch nicht so gut, innere Abläufe im Kopf durchzuspielen, gedanklich kurz "durchzuatmen", bevor es weitergeht. Sie benötigen deutliche Rückmeldungen über ihr Handeln und äußere Erinnerungen, die zur Selbstberuhigung und Impulskontrolle anhalten, beispielsweise ein "Ampelsystem" (das zugleich ihre Eigenverantwortung stärkt). Ritualisierungen im pädagogischen Alltag schränken den Handlungs- und Interpretationsspielraum der Beteiligten ein, sie entlasten und schaffen Freiräume. Ritualisierungen standardisieren und beschränken aber auch die subjektive Verfügbarkeit einzelner Situationen. Doch erst die Frage nach ihrer Bedeutung macht aus einer bloßen Ritualisierung ein Ritual, eine Inszenierung, in der sich eine für das Subjekt oder die Gemeinschaft bedeutsame Erfahrung symbolisch vermittelt. Daher bleibt es für den bildenden Umgang mit Ritualisierungen wichtig, nach der Bedeutung zu fragen, die sich in diesen Konstellationen ausdrückt.
  3. Selbstwirksamkeit: Altersgerechte Herausforderungen, eine Atmosphäre des Zutrauens in die Fähigkeiten der Kinder, die Übertragung von Verantwortung (z.B. bei der Vorbereitung des Essens) oder Formen der Beteiligung (z.B. in Form einer Kinderkonferenz) fördern die Selbstwirksamkeit.
  4. Soziale Kompetenz: Rollen- und Kooperationsspiele fördern Sozialverhalten, Beziehungs- und Empathiefähigkeit. Vor allem sollte nicht die Bedeutung von Alltagssituationen für die Förderung sozialer Kompetenzen unterschätzt werden. Im Zuhören, in der konstruktiven Konfliktlösung oder durch die Übernahme von Patenschaften für Jüngere sammeln Kinder gehaltvolle soziale Erfahrungen. Wichtig ist, dass die Erzieher/innen den Kindern ermöglichen, ihre alltäglichen Erfahrungen in der Gruppe zu reflektieren und so bewusst damit umgehen zu lernen.
  5. Umgang mit Stress: Zu fördern ist ein aktives und flexibles Bewältigungsverhalten gegenüber Stresssituationen, aber auch Vermeidungsstrategien, gerade gegenüber unkontrollierbaren Stressfaktoren. Der Stressbewältigung dienen auf der einen Seite Entspannungsübungen, Phantasiereisen sowie Rückzugsmöglichkeiten, Räume oder Ecken der Stille, auf der anderen Seite aber auch ausreichend Bewegungsmöglichkeiten, z. B. Bewegungsspiele oder Bewegungsbaustellen.
  6. Problemlösefähigkeit: Planungs- und Strukturierungsfähigkeit lernen die Kinder in der Bewältigung komplexer Alltagsaufgaben, z.B. beim gemeinsamen Einkaufen und Kochen. Die Erzieher/innen leben durch ihr Modellverhalten konstruktives Problemlöseverhalten vor. Auch Bilderbuchbetrachtungen und das Vorlesen machen problemlösendes Verhalten anschaulich.

So hat die Deutschdidaktikerin Saskia Koj (2008) explizit unter dem Resilienzgedanken Kriterien für die Auswahl von Bilderbüchern zusammengestellt. Diese lauten:

  • Im Buch werden Bewältigungsstrategien und alternative Lösungsmöglichkeiten vorgestellt, wobei die Belastungssituation umfassend, aber nicht überfordernd dargestellt wird.
  • Die Lösung des Problems wird von der Hauptfigur angestoßen. Es werden erfolgreiche Strategien zur Regulierung von Emotionen vorgestellt.
  • Die Geschichte stellt positive Beziehungsformen vor und ermöglicht den Kindern einen Perspektivwechsel.
  • Die Hauptfigur wird ernstgenommen, auch in ihren Schwächen.
  • Schließlich werden Rollenstereotype vermieden.

Drittens geht es darum, die Eltern oder andere wichtige Bezugspersonen in die Arbeit einzubinden. Auch hier ist die Haltung des Teams entscheidend: Was verstehen wir im Team unter Erziehung? Wie möchten wir mit den Eltern zusammenarbeiten? Wo liegen auch Grenzen einer Zusammenarbeit? In welchen Punkten müssen wir uns möglicherweise Unterstützung von außen holen, beispielsweise durch Supervision? Die Bedarfs- und Möglichkeitsanalyse sollte ehrlich sein; praktische Fragen, wie die Erreichbarkeit der Eltern, dürfen nicht aus dem Blick geraten. Allgemein ist die Konzentration auf Schwerpunkte ratsam - kein Team kann alles machen und die Welt verändern. Auch sollten Eltern nicht durch eine zu hohe Komplexität der Erwartungen und Maßnahmen überfordert werden. Wie schon in der Arbeit mit den Kindern gibt es auch in der Arbeit mit den Eltern zwei Wege: strukturierte Elternkurse sowie die Etablierung vermehrter oder verbesserter Kommunikationsmöglichkeiten in der alltäglichen Begegnung mit den Eltern. Reine Information jedoch, z.B. in der Form von Elternbriefen, ist nicht wirksam, wie Studien zeigen konnten.

Viertens ist die Netzwerkbildung zu anderen Partnern (z.B. Vereinen, kulturellen oder Beratungseinrichtungen) zu nennen. Eine zielgruppenspezifische Netzwerkbildung setzt voraus, dass die Bedarfe sorgfältig erhoben und analysiert werden. Netzwerke sind keine Selbstläufer, sie müssen gepflegt und immer wieder reflektiert werden.

Dies leitet über zum fünften Punkt: Die Arbeit sollte evaluiert werden - und zwar auf allen bisher genannten Ebenen: Die pädagogischen Fachkräfte erhalten so Argumente, die für das Einwerben künftiger Ressourcen gegenüber dem Träger wichtig sind. Sie dokumentieren die Stärken der Kinder, beispielsweise in einem Portfolio oder Stärkeprofil. Sie nehmen die eigenen Stärken und Erfolge bewusster wahr. Sie erhalten eine gute Grundlage für Entwicklungsgespräche mit den Eltern, und sie können die weitere Arbeit zielgruppenorientierter planen. Hilfreich ist es, im Sinne der Triangulation verschiedene Perspektiven und Methoden bei der Evaluation miteinander zu verbinden.

Schlusswort

Lernen wird durch das Gehirn ermöglicht, aber durch die Umwelt gesteuert. Dabei kennt Lernen viele Wege, nur nicht den Nürnberger Trichter, der den Einzelnen von jeder Lernanstrengung befreien könnte. Neuro- und entwicklungspsychologische Bedingungen machen Lernen auch in dieser Hinsicht nicht neu. Aber sie geben wichtige Hinweise, wie wir die Bedingungen für erfolgreiche Lern- und Bildungsprozesse förderlich gestalten können. Erzieher/innen, Lehrer/innen und Pädagog/innen sind es gewohnt, interdisziplinär zu arbeiten. Es ist ihr Beruf, psychologische, soziologische und eben nun auch neurowissenschaftliche Erkenntnisse in ihre Bildungs- und Erziehungsarbeit einzubinden.

Literatur

Caspary, R. (Hrsg.): Lernen und Gehirn. Hamburg: Nikol, 7. Aufl. 2012

Jackel, B.: Lernen, wie das Gehirn es mag. Praktische Lern- und Spielvorschläge für Kindergarten, Grundschule und Familie. Kirchzarten: VAK 2008

Koj, S.: Kindliche Kraft und Kinderliteratur. Kriterien zur Beurteilung von Kinderbüchern unter dem Aspekt "Förderung von Resilienz", bearbeitet und herausgegeben von Jochen Hering. Bremen 2008

Rönnau-Böse, M./Fröhlich-Gildhoff, K.: Resilienzförderung im Kita-Alltag. Was Kinder stark und widerstandsfähig macht. Freiburg im Breisgau: Herder 2010

Roth, G./Strüber, N.: Wie das Gehirn die Seele macht. Stuttgart: Klett-Cotta, 5. Aufl. 2015

Schumacher, R.: Wie viel Gehirnforschung verträgt die Pädagogik? Über die Grenzen der Neurodidaktik. In: Spitzer, M.: Lernen. Gehirnforschung und die Schule des Lebens. Heidelberg: Spektrum Akademischer Verlag 2006/2014

Wustmann, C.: Resilienz. Widerstandsfähigkeit von Kindern in Tageseinrichtungen fördern. Weinheim: Beltz 2004

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