Aus: Martin R. Textor (Hrsg.): Verhaltensauffällige Kinder fördern. Praktische Hilfen in Kindergarten und Hort. Weinheim, Basel: Beltz Verlag, 3. Aufl. 2004, S. 18-37
Martin R. Textor
In diesem Artikel werden Ursachen von Verhaltensauffälligkeiten bei (Klein-) Kindern beschrieben, die in der Familie des jeweiligen Kindes, in der Gesellschaft und seinen Institutionen sowie im Kind selbst liegen. In der Regel tragen mehrere Faktoren zur Entstehung von Verhaltensauffälligkeiten bei. Wir neigen jedoch dazu, eine Ursache für die Verhaltensauffälligkeit eines Kindes zu betonen – und diese möglichst weit weg von uns selbst zu suchen (die Eltern bei der Erzieherin, die Erzieherin in der Familie usw.). Deshalb ist ein systemorientierter, integrativer Ansatz sinnvoll: Dieser geht davon aus, dass die Ursachen kindlicher Verhaltensauffälligkeiten in verschiedenen Systemen liegen, z.B. in der Familie, in der Kindertageseinrichtung, in der Gleichaltrigengruppe, und dass Erzieherinnen verhaltensauffälligen Kindern am besten helfen können, wenn sie in diese Systeme eingreifen bzw. wenn sie die Intervention von Dritten veranlassen, z.B. von Erziehungsberatern. Anstatt der früher üblichen kindzentrierten Sichtweise wird heute somit ein umfassenderer, ganzheitlicher Ansatz verfolgt, bei dem Problemursachen und Lösungsmöglichkeiten in allen relevanten Systemen gesucht werden.
Ursachen von Verhaltensauffälligkeiten in der Familie
Die Entwicklung von Kleinkindern wird zum einen durch ihre Anlagen, zum anderen durch ihre soziale Umwelt bestimmt. Kinder unter drei Jahren verbringen fast den ganzen Tag in der Familie. Eine Fremdbetreuung dieser Altersgruppe ist eher eine seltene Ausnahme, so dass die Kinder in diesem Alter nahezu ausschließlich von ihrer Familie geprägt werden. Aber auch bei Kindern im Alter von drei bis sechs Jahren behält die Lebenswelt „Familie“ in der Regel den größten Einfluss, wenn auch die Kindertageseinrichtung sowie zunehmend die Medien und die Gleichaltrigengruppe als neue und bedeutende Sozialisationsinstanzen hinzutreten.
So ist davon auszugehen, dass ein Großteil der Ursachen für eine als problematisch erlebte Entwicklung von jüngeren Kindern in ihrer Familiensituation liegt. Deshalb verwundert, dass der pathologischen Entwicklung in der frühen Kindheit einschließlich ihrer Ursachen weder in der empirischen noch in der klinischen Forschung genügend Aufmerksamkeit gewidmet worden ist. Und das überrascht umso mehr, wenn man bedenkt, dass Eltern, die von Schwierigkeiten im Umgang mit ihren Kindern im Säuglingsalter berichtet haben, häufig ihre Kinder im Kleinkind- und Schulalter als verhaltensauffällig erleben. Was sind nun mögliche Ursachen für Verhaltensauffälligkeiten von (Klein-) Kindern in der Familie?
Die Eltern
Eltern von „Problemkindern“ leiden überdurchschnittlich oft an Depressionen, Suchtkrankheiten, Psychosen, Angstzuständen und anderen psychischen Störungen und haben relativ häufig Beratungseinrichtungen besucht. Zwei Beispiele:
- Depressive Mütter zeigen weniger Zuwendung, stimulieren ihre Kinder weniger, ignorieren sie vielfach und berichten häufiger von Verhaltensauffälligkeiten. Ihre Kinder benehmen sich oft schon im Säuglingsalter ähnlich wie die Mütter: Sie lächeln weniger, wirken unzufriedener und sind reizbarer als andere Kinder.
- Alkoholkranke Eltern sind häufig aggressiv oder depressiv, verhalten sich ihren Kindern gegenüber wechselhaft und vernachlässigen die Erziehung und andere Familienfunktionen. Ihre Kinder sind überdurchschnittlich oft unsozial, impulsiv, rebellisch und ungehorsam oder ängstlich, unsicher und verschüchtert.
Für solche Untersuchungsergebnisse gibt es verschiedene Erklärungsmöglichkeiten: So ist denkbar, dass die Kinder das depressive (aggressive, ängstliche usw.) Verhalten ihrer Eltern nachahmen oder dass sie von diesen die genetische Prädisposition für Depressionen oder andere psychische Störungen geerbt haben. Auch ist es möglich, dass depressive oder sehr ängstliche Eltern Verhaltensweisen ihrer Kinder als auffällig und belastend empfinden, die für andere Eltern normal und altersgemäß sind, sodass die Kinder ungerechtfertigterweise als „schwierig“ bezeichnet werden. Schließlich können die Verhaltensauffälligkeiten der Kinder die Ursache für die Depressionen, den psychischen Stress oder die emotionale Labilität der Eltern sein. Beispielsweise weinen manche Säuglinge häufig und untröstlich (so genannte „Schreibabys“), wecken einige Kleinstkinder ihre Eltern mehrmals pro Nacht, sind manche Kleinkinder sehr „anstrengend“ und verlangen fortwährend die Aufmerksamkeit ihrer Eltern – wodurch es schnell zu einer Überlastung kommt.
Hier können auch „Teufelskreise“ entstehen: Der Säugling weint oft, die Mutter ist gestresst und ignoriert zunehmend das Kind, dieses weint noch häufiger, um die Aufmerksamkeit der Mutter zu erlangen, diese wird mit der Zeit depressiv und vernachlässigt das nun schon etwas ältere Kind, das nur noch durch sehr auffällige Verhaltensweisen Reaktionen der Mutter hervorrufen kann.
Pathogene Familienstrukturen und Ehekonflikte
Nach der Systemtheorie wird jede Familie als ein System verstanden, als ein Komplex von miteinander interagierenden und zugleich voneinander abgegrenzten Subsystemen (Ehe-, Eltern-Kind-, Geschwistersubsystem, Individuum), aber auch als Teil größerer Systeme (Verwandtschaft, Netzwerk, Gemeinde, Gesellschaft usw.). Jedes Familiensystem besitzt eine charakteristische Struktur (Hierarchie), erfüllt bestimmte Funktionen und strebt nach der Bewahrung seiner Ganzheit sowie nach Aufrechterhaltung des in ihm bestehenden Gleichgewichts (Äquilibrium). Dies bedeutet, dass die Ursachen von Verhaltensauffälligkeiten nicht nur im Eltern-Kind-Subsystem, sondern auch in anderen Subsystemen und im Gesamtsystem liegen können. Beispielsweise kann die Wiederaufnahme der Erwerbstätigkeit durch die Mutter nach dem Erziehungsurlaub das Gleichgewicht im Familiensystem für längere Zeit nachhaltig stören und zu Konflikten und Belastungen führen, unter denen dann auch die Kinder leiden.
In manchen Familien ist das Gleichgewicht so starr, sind die Familienregeln so unveränderbar, die Interaktionsmuster so eingeschliffen, die Grenzen zur Außenwelt hin so undurchdringlich, dass notwendige Veränderungen und Anpassungen ausbleiben, also das ganze Familiensystem pathogen wird. Im gegenteiligen Fall (labiles Gleichgewicht, fehlende oder inkonstante Regeln, ganz offene Grenzen) kommt die Familie hingegen nie zur Ruhe, herrscht Chaos, gibt es immer wieder Einmischung von außen. Problematisch ist auch, wenn sich die Subsysteme zu stark oder zu wenig voneinander abgrenzen, es über die natürlichen Subsysteme hinweg zu Symbiosen oder Bündnissen kommt bzw. einzelne Familienmitglieder ausgeschlossen oder ausgestoßen werden.
Wie wichtig die Ehequalität der Eltern für die Entwicklung der Kinder ist, berichten Weindrich und Kollegen (1992): „Kinder aus disharmonischen Partnerbeziehungen weisen im Alter von 2 Jahren hochsignifikant mehr Symptome auf als Kinder aus harmonischen Beziehungen“ (S. 115). Bei einer Verschlechterung der Paarbeziehung entwickeln sich Kinder ungünstiger, bei einer Verbesserung positiver. „Offensichtlich werden bei einer sich verschlechternden Beziehung Kräfte aus der Erziehung und Betreuung des Kindes abgezogen, die für die Auseinandersetzungen zwischen den Eltern bzw. zur Neuorientierung der Eltern gebraucht werden“ (a.a.O., S. 117). Auch nach einer Trennung kommt es oft zur Ausbildung oder verstärkten Ausprägung von Verhaltensauffälligkeiten, wozu einschneidende Veränderungen in der Lebenssituation (wie Schul- und Wohnungswechsel) und der häufige Verlust eines Elternteils beitragen.
Zumeist sind aber chronisch disharmonische Ehen belastender für die kindliche Entwicklung als das Erleben von Trennung und Scheidung. Im erstgenannten Fall treten eher folgende Prozesse auf: Beispielsweise werden schon Kleinkinder verhaltensauffällig, um unbewusst die Ehe ihrer Eltern zu retten – durch ihre Symptome lenken sie diese von ihren Konflikten ab und zwingen sie, sich auf ihr Kind zu konzentrieren, über es zu sprechen und zwecks Kontrolle seines Verhaltens zusammenzuarbeiten. Das Kind kann auch zum Sündenbock gemacht und für die Familienprobleme verantwortlich erklärt werden. Dann können die Ehepartner ihre Aggressionen an ihm anstatt aneinander abreagieren. Dies verhindert aber eine Lösung der Ehekonflikte.
In anderen Fällen wird Kindern die Rolle eines Ersatzpartners zugeschrieben. Sie sollen die affektiven Bedürfnisse eines Elternteils befriedigen und werden an diesen symbiotisch gebunden. Ältere Kinder können auch zum Verbündeten oder Schiedsrichter gemacht und in die Konflikte hineingezogen werden. Alle diese Rollen sind nicht kind- und altersgemäß; sie führen damit oft zur Ausbildung von Verhaltensauffälligkeiten.
Sehr negativ auf die Entwicklung wirkt sich aus, wenn Kinder immer wieder Zeuge von Gewalttätigkeiten zwischen ihren Eltern werden. Nach Untersuchungen weisen sie dann schon im Kleinkindalter überdurchschnittlich viele internalisierende oder externalisierende Verhaltensauffälligkeiten auf – und zwar schlimmere als Kinder, die nur verbale Aggressivität zwischen ihren Eltern erleben. Ihre Familiensituation wird häufig noch durch weitere Stressoren belastet, wie Alkohol- bzw. Drogenmissbrauch oder niedriges Einkommen.
Ähnliches gilt für Kinder, die selbst Opfer von Gewalt werden. Auch sie wachsen überdurchschnittlich oft in einkommensschwachen Familien auf, in denen es häufig zu Konflikten zwischen den Mitgliedern kommt. Diese sind sozial isoliert und erfahren wenig Unterstützung aus ihrem Netzwerk. Die Eltern zeigen ihren Kindern nur wenig Zuneigung und Liebe, vernachlässigen sie, lehnen sie ab, fördern kaum ihre Autonomie und Weiterentwicklung, ärgern sich immer wieder über sie und verfügen zumeist nur über körperliche Disziplinierungstechniken. Viele physisch misshandelte Kinder sind z.B. aggressiv, ungehorsam und abweisend, zeigen wenig Lernmotivation und entwickeln Verhaltensauffälligkeiten.
Ähnliches gilt für Kinder, die sexuell missbraucht wurden. Ihr Verhalten ändert sich oft ohne erkennbaren Grund: Sie werden ängstlich, ziehen sich zurück, erbringen nicht mehr die gewohnte Leistung, können sich nur noch schwer konzentrieren, sind nervös oder zeigen sexualisierte Reaktionen. Mit der Zeit werden die Verhaltensauffälligkeiten immer ausgeprägter.
Problematische Erziehungsstile
Im vorausgegangenen Absatz wurde erneut deutlich, dass es keine monokausalen Erklärungen gibt wie „Häufige körperliche Misshandlungen führen zu Verhaltensstörungen“. In der Regel muss von einem Zusammenspiel verschiedener Faktoren ausgegangen werden, die gemeinsam eine für das jeweilige Kind negative Familiensituation erzeugen. Hier spielt das Erziehungsverhalten der Eltern eine entscheidende Rolle, wobei sich einige Erziehungsstile als problematisch erwiesen haben.
Erneut muss betont werden, dass auch hier von einem interaktionalen Modell auszugehen ist: Nicht nur das Verhalten der Eltern beeinflusst das Verhalten des Kindes, sondern auch umgekehrt. Dies verdeutlicht Ludwig (1985): „Ein feindselig-ablehnender Erziehungsstil der Eltern kann so im Extrem als Ursache der kindlichen Verhaltensauffälligkeit, wie auch als Reaktion der Belastung und Überforderung auf die Verhaltensweisen des Kindes angesehen werden“ (S. 88).
Eltern von „Problemkindern“ zeigen überdurchschnittlich oft eine feindselig-ablehnende Haltung, ordnen mehr an, kontrollieren deren Verhalten weniger effektiv und greifen häufiger zu (Körper-) Strafen. Sie reagieren stärker auf abweichende Verhaltensweisen und geraten öfters in aggressive Auseinandersetzungen mit ihren Kindern. Besonders schädlich ist, wenn die übertretenen Regeln und die Gründe für eine Bestrafung nicht erklärt werden oder wenn wortlos gestraft wird. In diesen Fällen zeigen Kleinkinder häufig ein aggressives Verhalten, Wutanfälle und Trotzreaktionen. Manche sind auch sehr ängstlich – insbesondere wenn ihnen z.B. immer wieder mit bösen Geistern gedroht wurde oder sie in dunklen Räumen eingesperrt wurden.
Andere problematische Erziehungsstile sind:
- Verwöhnung und Überbehütung: Die Eltern erfüllen ihren Kindern jeden Wunsch und versuchen, ihnen Versagungen und negative Erfahrungen zu ersparen. Sie ergreifen Besitz von ihnen, binden sie an sich und erdrücken sie mit ihrer Liebe. Ihr Verhalten wird fortwährend kontrolliert, und schon kleine Auffälligkeiten werden ängstlich registriert. Die Kinder bleiben abhängig und unselbständig, sind unterfordert und wenig leistungsorientiert, können ihre Fähigkeiten nicht erproben und haben kaum Möglichkeiten zur Selbstbewährung. Sie entwickeln kaum Selbstvertrauen und zeigen ein ängstlich-gehemmtes Verhalten.
- Autoritäre Erziehung: Die Eltern lenken das Verhalten ihrer Kinder durch Ge- und Verbote, Anordnungen und Befehle. Sie kontrollieren fortwährend deren Verhalten, werden schon bei kleinen Abweichungen von den Familienregeln aktiv und erzwingen dann Gehorsam durch Strenge und Bestrafung. Die Eltern zeigen wenig Verständnis und Empathie, loben und ermutigen selten. Ihre Kinder sind oft verschüchtert, ängstlich, übergehorsam und unselbständig, manchmal aber auch aggressiv und trotzig.
- Antiautoritäre Erziehung: Manche Eltern sind unfähig, ihren Kindern klare, eindeutige und konstante Verhaltensregeln zu setzen, während andere bewusst auf Normen, Ge- und Verbote verzichten. Die Kinder sind orientierungslos, nutzen die Nachgiebigkeit ihrer Eltern aus und setzen sich ihnen gegenüber durch. So überschätzen sie oft ihre Macht, werden egozentrisch und können sich nicht in Gruppen einordnen. In diesen und den nachfolgenden Fällen werden besonders häufig Verhaltensauffälligkeiten ausgebildet.
- Inkonsistente Erziehung: Haben Eltern unterschiedliche Erziehungsziele und -praktiken, setzen sie positive und negative Verstärkungen willkürlich ein, wechseln sie fortwährend zwischen einem autoritären und einem permissiven Erziehungsstil, dann sind ihre Kinder orientierungslos und wissen nicht, wie sie sich benehmen sollen. Ihr Verhalten wird mit der Zeit immer weniger kontrollierbar.
- Vernachlässigung: Manche Eltern sind ihren Kindern gegenüber gleichgültig und desinteressiert, kümmern sich kaum um sie, zeigen nur wenig Zuwendung, loben und unterstützen sie selten. Die Kinder sind sich selbst überlassen und werden hinsichtlich ihres Verhaltens kaum kontrolliert. Sie haben häufig nur wenig Selbstachtung und zeigen ein ängstlich-gehemmtes oder ein eher aggressives Verhalten.
Nicht nur negativ bewertete Erziehungspraktiken von Eltern, z.B. Körperstrafen, Über- oder Unterforderung oder auch ein wechselhafter Erziehungsstil, sind problemerzeugend. Vielmehr gilt dasselbe auch für das Fehlen positiver Praktiken wie Stimulierung und Beantwortung von Fragen des Kindes, Anleitung, Unterweisung, Unterstützung, Motivierung zu entwicklungsfördernden Aktivitäten, Zeigen von Aufmerksamkeit oder Ausdruck von Zuneigung. Pettit und Bates (1989) stellten bei einer Untersuchung sogar fest, „dass das Fehlen positiver elterlicher Verhaltensweisen hinsichtlich der Entwicklung von Verhaltensproblemen genauso wichtig ist wie das Vorhandensein negativer elterlicher Verhaltensweisen“ (S. 419). Im erstgenannten Fall bemühen sich Kleinkinder fortwährend um die Zuwendung ihrer Eltern, die sie aber ignorieren. Da sie damit wenig Erfolg haben, versuchen sie dann oft, durch auffällige Verhaltensweisen die Aufmerksamkeit der Eltern auf sich zu ziehen.
Vorhersehbare Krisen im Lebens- und Familienzyklus
Sowohl der einzelne Mensch als auch die Familie durchlaufen in seinem Leben bzw. in ihrer Existenz verschiedene Entwicklungsphasen. In den letzten Jahrzehnten haben Psychologen, Psychotherapeuten und Familienforscher ermittelt, dass die Zeit des Übergangs von einer Phase zur nächsten von vielen Menschen bzw. Familien als Krise erlebt wird. Es handelt sich hier um relativ kurze Zeiträume, in denen vom Einzelnen und vom Familiensystem eine große Zahl einschneidender Veränderungen erwartet wird bzw. diese zu verarbeiten sind.
Obwohl die Übergänge (Transitionen) regelmäßig auftreten, also voraussagbar und vorhersehbar sind, treffen sie den Einzelnen bzw. die Familie zumeist unvorbereitet und überraschend. In dieser Zeit der Diskontinuität zwischen den Phasen des Lebens- bzw. Familienzyklus sind viele Stressoren zu bewältigen, muss eine große Anpassungsleistung erbracht werden. Eine besonders problematische Situation entsteht, wenn zusätzliche Belastungen (z.B. Arbeitslosigkeit, Pflegebedürftigkeit der Großmutter, Schulschwierigkeiten eines älteren Geschwisterteils) hinzukommen.
Häufig werden in diesen Zeiträumen des Übergangs nicht alle Stressfaktoren bewältigt, werden „alte“ Verhaltens- und Interaktionsmuster zu lange beibehalten, bleibt ein Teil der notwendigen Veränderungen aus. Nicht alle anstehenden Entwicklungsaufgaben werden gelöst. Der einzelne Mensch bzw. die Familie gerät in eine Sackgasse. Er/sie ist für die kommende Zeit schlecht gerüstet; die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass die Bewältigung der nächsten Krise oder Transition noch schwerer fällt. So werden die Zahl belastender Faktoren und der Stress immer größer. In dieser Situation mag der einzelne Mensch bzw. ein Familienmitglied (z.B. ein Kleinkind) psychische Störungen entwickeln oder verhaltensauffällig werden.
In Familien, die den Übergang von einer Phase des Familienzyklus in die nächste nicht geschafft haben, leidet die Erfüllung der Familienfunktionen einschließlich der Sozialisationsfunktion. Das heißt, die Wahrscheinlichkeit des Auftretens problematischer Erziehungsstile wird größer. Das Familienklima verschlechtert sich, es treten vermehrt Ehe- und Familienkonflikte auf. Im Extremfall kann es zu psychischen oder Suchtkrankheiten der Eltern kommen. Wie bereits beschrieben, treten Verhaltensauffälligkeiten bei (Klein-)Kindern unter solchen Umständen besonders häufig auf.
Ein Beispiel: Die Geburt eines zweiten Kindes bringt sowohl für das Erstgeborene als auch für die ganze Familie große Veränderungen mit sich. Die Reaktionen von älteren Kindern können in diesem Zeitraum des Übergangs von einer Ein-Kind- zu einer Zwei-Kind-Familie höchst unterschiedlich sein – je nach Alter, Temperament, Vorbereitung auf dieses Ereignis durch die Eltern, Erziehungsverhalten, emotionaler Stabilität der Mutter, Familienklima usw. Bei Kleinkindern ist zumeist eine Zunahme von als problematisch erlebten Verhaltensweisen festzustellen wie Regression, Weinerlichkeit, Anklammerung, Rückzug, Konzentrationsstörungen, Schlafprobleme oder Einnässen. In der Regel verschwinden diese Reaktionen auf die Geburt eines Geschwisterteils im Verlauf der ersten Wochen oder Monate. Manche Kinder bewältigen diese Transition aber nicht, insbesondere dann nicht, wenn auch ihre Eltern mit ihr schlecht zurechtkommen. In diesen Fällen kann es zu sich wechselseitig verstärkenden negativen Prozessen kommen: „Störungen in der Mutter-Kind-Beziehung können anfangs entweder aufgrund des zunehmend schwieriger werdenden Verhaltens des ‘entthronten’ Zweijährigen oder aufgrund der wachsenden Gereiztheit einer erschöpften Mutter entstehen, die bei sehr wenig Schlaf mit zwei kleinen Kindern zurechtkommen muss; in jedem Fall ist der wahrscheinliche Effekt, dass das negative Verhalten der anderen Person gesteigert wird“ (Dunn 1988, S. 233).
Andere Krisen und Belastungen von Familien
Neben vorhersehbaren Krisen während des Übergangs von einer Phase des Lebens- bzw. Familienzyklus zur nächsten können auch unerwartete Schicksalsschläge eine Familie treffen. Eine schwere Erkrankung, ein Unfall oder ein Todesfall, die Geburt eines behinderten Kindes, eine ungeplante Schwangerschaft oder die plötzliche Trennung der Ehepartner können zu Familienkrisen führen. Deren Bewältigung hängt davon ab, ob die Eltern z.B. über genügend Ressourcen verfügen und ausreichend durch ihr soziales Netzwerk unterstützt werden und ob sie in ihrer Jugend und im frühen Erwachsenenalter gelernt haben, mit Problemen konstruktiv umzugehen. Unbewältigte Krisen können zu den zuvor beschriebenen pathogenen Entwicklungen führen.
Andere Belastungen von Familien können längerfristig und dauerhaft sein: Bei Familien, deren Situation durch Langzeitarbeitslosigkeit, Überschuldung oder Armut gekennzeichnet ist, kommt es bei Erwachsenen häufig im Verlauf der Zeit zu psychischen Problemen und Ehekonflikten, manchmal auch zu Alkoholmissbrauch und Gewalttätigkeiten. Die Eltern legen vielfach nur einen geringen Wert auf Erziehung und Bildung, vernachlässigen ihre Kinder oder sind sehr streng (Körperstrafen). Im Verlauf der Zeit entwickeln viele Kinder Verhaltensauffälligkeiten wie Depressivität, Rückzug und Aggressivität. Sie wirken unsicher, haben wenig Selbstvertrauen und Angst vor der Zukunft.
Unter besonderen Belastungen leiden z.B. auch Scheidungs-, Teil- und Stieffamilien, Ausländer- und Aussiedlerfamilien, Familien mit behinderten oder pflegebedürftigen Mitgliedern sowie Adoptiv- und Pflegefamilien.
Ursachen für Verhaltensauffälligkeiten in größeren Systemen
Manche Ursachen für Verhaltensauffälligkeiten liegen im Netzwerk des Kindes bzw. der Familie (z.B. ständige Einmischung der Großeltern, fehlende soziale Kontakte nach Migration), in Institutionen oder in der Gesellschaft. Für (Klein-)Kinder spielt hier die Gleichaltrigengruppe eine besonders große Rolle: So ist für sie sehr belastend, wenn sie keine gleichaltrigen Freunde haben. Werden sie von den anderen Kindern nicht beachtet, verächtlich oder als „schwarzes Schaf“ behandelt, so fühlen sie sich einsam, ziehen sich immer mehr zurück und entwickeln ein negatives Selbstbild. In anderen Fällen versuchen sie, durch auffällige Verhaltensweisen (Gewalt, Clownerei usw.) die Aufmerksamkeit, Achtung und Bewunderung der Gleichaltrigen auf sich zu ziehen und ihre Position in der Gruppe zu verbessern. Bei Hortkindern fördern oft außerschulische Gleichaltrigengruppen ein aggressives Verhalten, schüren eine negative Haltung gegenüber Erwachsenen.
Charakteristika heutiger Kindheit
In den letzten Jahrzehnten hat sich das Kinderleben stark verändert; Kinder werden mit neuen Anforderungen und Belastungen konfrontiert. Beispielsweise hat sich das Spielverhalten geändert – es wird heute durch eine Unmenge kommerzieller Spielsachen, Kriegsspielzeug und Computerspiele geprägt. Kinder halten sich mehr im Haus und an „kindgerecht“ gestalteten Orten auf, z.B. auf Spielplätzen, in Kindertageseinrichtungen oder in der Musikschule. „Verhäuslichung“, „Verinselung“, „Organisiertheit“ und „Verplantheit“ von Kindheit sind relevante Schlagworte, aber auch „Reizüberflutung“, „Konsumorientierung“ und „Langeweile“.
Die kindliche Entwicklung wird heute stark von den Medien beeinflusst: So werden vor allem kleinere Kinder oft durch Fernsehsendungen verängstigt, kommt es zu einer Reizüberflutung, wirkt sich häufig der hohe Medienkonsum negativ auf die Sprach- und Sozialentwicklung aus und führen die vielen Gewaltszenen zu mehr Aggressivität. Die meisten Hauptpersonen in Filmen wirken eher als negative Vorbilder, da sie nicht diejenigen Eigenschaften haben, die sich Kinder aneignen sollen. Besonders problematisch ist, wenn Hortkinder viele Videofilme sehen, in denen Gewalt und Sexualität besonders stark thematisiert werden.
Probleme in der Schule
Bei älteren Kindern können Ursachen für Verhaltensauffälligkeiten im Schulsystem liegen. Viele Schüler müssen einen uninteressanten und mangelhaft vorbereiteten Unterricht erleben, werden über- oder unterfordert, leiden unter Konflikten mit Lehrern und Klassenkameraden, unter Mobbing (unfaire Attacken von mehreren Kollegen bzw. Mitschülern), Bossing (unfaire Attacken durch Vorgesetzte oder in diesem Fall Lehrer) und Bullying (unfaire Attacken durch Einzelne). Vor allem an weiterführenden Schulen und bei hohen Erwartungen seitens der Eltern klagen die Schüler oft über Schulstress, Leistungsdruck und Konkurrenzkampf. Besonders schlimm ist es, wenn sie versagen, immer wieder Misserfolg haben und u.U. gar sitzen bleiben. Viele Lehrer übernehmen zu wenig erzieherische Verantwortung und entwickeln keine intensiven personalen Beziehungen zu ihren Schülern. Sie überlassen die Kinder hinsichtlich ihrer seelischen, sozialen und Persönlichkeitsentwicklung weitgehend sich selbst, da für sie nur die kognitive Leistung zählt. Auch machen sie Fehler in der Behandlung einzelner Schüler (Rollenzuschreibung, Etikettierung usw.), verstärken Verhaltensauffälligkeiten (durch Aufmerksamkeit, Strafen usw.), greifen zu spät erzieherisch ein oder unterlassen es, Eltern, Beratungslehrer und Schulpsychologen über die Schwierigkeiten der Kinder zu informieren. Wenn die Kinder weder bei Eltern noch bei Lehrern Verständnis und Hilfe finden oder wenn die Erwachsenen in dieser Situation nicht miteinander kommunizieren, einander die Schuld für die Schwierigkeiten zuweisen, miteinander streiten und gegeneinander arbeiten, führen die Probleme der Kinder oft zur Ausbildung von Verhaltensauffälligkeiten – die sich dann auch im Hort zeigen.
Weitere Faktoren
Verhaltensstörungen können auch aus dem Verhalten eines Arztes (oder eines anderen Fachmanns) resultieren, der z.B. das nur „ungezogene“ Verhalten eines Kindes als „hyperaktiv“ definiert und eine medikamentöse Behandlung einleitet. Eltern und Erzieherinnen reagieren dann auf dieses Kind entsprechend der genannten Etikettierung. Es werden die eigentlichen Ursachen des kindlichen Verhaltens nicht erkannt und demzufolge nicht die richtigen Erziehungsmaßnahmen eingeleitet; dem Kind wird eine durch seine „Krankheit“ bedingte „Karriere“ zugewiesen.
Weitere Faktoren, die zur Entwicklung von Verhaltensauffälligkeiten beitragen können, sind u.a.:
- Zunehmende Armut mit vielen negativen psychosozialen Folgen für die betroffenen Kinder.
- Zugehörigkeit zu Unterschichts- und Randgruppenfamilien (Diskriminierung, gesellschaftliche Isolierung, stark kontrollierende Erziehung, Anregungsdefizite, der dominanten Kultur nicht entsprechende Einstellungen und Verhaltensweisen)
- Aus der Arbeitswelt kommende Belastungen. Zum Beispiel wegen Schichtarbeit, Überstunden oder vieler Dienstreisen kaum präsente bzw. durch den Beruf gestresste und überreizte Eltern und das Hineintragen von Spannungen in die Familie.
- Beengte und unzulängliche Wohnverhältnisse.
- Fehlende Spielflächen im Wohnumfeld.
- Häufige Umzüge.
- Wertepluralismus und -wandel (Verunsicherung hinsichtlich Rollenleitbildern, Erziehungszielen und -methoden).
Ursachen für Verhaltensauffälligkeiten im Kind
Nur kurz angerissen wurde bisher die Frage, ob die Ursachen für Verhaltensauffälligkeiten immer nur in den Lebenswelten von (Klein-) Kindern, in kurz- oder längerfristig bestehenden „Problemsituationen“ liegen. Diese Frage muss zunächst einmal verneint werden. Die Ursachen für Verhaltensauffälligkeiten liegen nicht nur in den Lebenswelten von Kindern begründet bzw. in Problemsituationen. So weiß man inzwischen, dass Jungen „verletzlicher“ sind und eher Verhaltensauffälligkeiten entwickeln als Mädchen. Auch geht man davon aus, dass es im menschlichen Erbgut Prädispositionen für psychische Probleme und Verhaltensstörungen wie beispielsweise Depressivität gibt und dass diese ein Kind „verwundbarer“ für negative Umwelteinflüsse machen.
Viele „Problemkinder“ waren schon im Säuglingsalter auffällig. Als Ursachen gelten z.B. Schwangerschaftskomplikationen, Frühgeburt und Alkohol- oder Drogenmissbrauch der Mutter während der Schwangerschaft. Beispielsweise ist bei hyperaktiven Kindern festgestellt worden, dass sie schon als Babys sehr aktiv waren, unregelmäßig schliefen und aßen sowie ein „schwieriges“ Temperament besaßen. Beim Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom (ADS) bzw. bei der Aufmerksamkeits-Defizit-/ Hyperaktivitäts-Störung (ADHS) spielen aber genetische Faktoren eine besonders große Rolle: In Zwillingsstudien konnte gezeigt werden, dass sich die Kinder in hohem Maße in ihren hyperkinetischen Auffälligkeiten ähnelten. Auch sind etwa fünfmal mehr Jungen als Mädchen betroffen. ADHS betrifft das Botenstoffsystem des Gehirns, das für die Vermittlung von Informationen verantwortlich ist. Bei den Betroffenen wird das Gehirn aufgrund einer Filterschwäche mit Informationen überflutet.
Auch viele Persönlichkeits- und Temperamentsmerkmale gelten als teilweise angeboren. Dazu gehören z.B. Schüchternheit, Ängstlichkeit, Erregbarkeit, Antriebsschwäche, Intensität emotionaler Reaktionen und Höhe der Reizschwelle. Kinder, die besonders aktiv oder passiv (gehemmt) sind, die leicht abgelenkt werden können oder überempfindlich sind, gelten oft schon aufgrund dieser Charakteristika als „schwierig“. Auch Persönlichkeitseigenschaften wie Introversion, Verschlossenheit, Misstrauen, geringe Selbstachtung, wenig Selbstvertrauen, Angst vor Ablehnung, negatives Selbstbild, geringe Frustrationstoleranz oder depressive Grundstimmung können eine positive Weiterentwicklung behindern. Manchen Kindern fällt es schwer, das eigene Verhalten zu kontrollieren. Wenn sie wütend werden oder sich angegriffen fühlen, wehren sie sich oft auf körperliche Art und Weise. Auch mangelt es vielen Kindern an sozialen und kommunikativen Fertigkeiten. Schließlich können Verhaltensauffälligkeiten mit (unerkannten) Entwicklungsverzögerungen, Lernbehinderungen und Wahrnehmungsstörungen zusammenhängen, in Einzelfällen sogar mit Allergien, Krankheiten und schlechter Ernährung.
Unerwünschte Lernprozesse
Viele Kinder erlernen dysfunktionale Verhaltensweisen in ihrer Familie, indem sie andere Familienmitglieder unbewusst nachahmen (Modelllernen). In vielen Fällen – insbesondere wenn sie vernachlässigt werden, wenn ein positives Verhalten ignoriert oder aufgrund von extrem hohen Erwartungen nur selten ein Lob ausgesprochen wird – versuchen Kinder, durch störende oder anormale Verhaltensweisen die Aufmerksamkeit der anderen Familienmitglieder zu erreichen. Deren Reaktionen (Ärger, Angst, Verhätschelung, Beschwichtigung usw.) werden als Zeichen von Interesse, Zuneigung und Sorge oder als Selbstbestätigung gedeutet. Sie wirken also als positive Verstärker und erhöhen die Wahrscheinlichkeit des Auftretens dieser Verhaltensauffälligkeiten. So werden leichte Verhaltensabweichungen im Verlauf der Zeit immer größer und verfestigen sich. Schließlich werden sie auf außerfamiliäre Situationen generalisiert und auch dort positiv verstärkt – so kann z.B. ein aggressives Kind Anführer von Gleichaltrigen werden, erfährt der „Gruppenclown“ die ungeteilte Aufmerksamkeit der anderen Kinder. Hier wird deutlich, dass Verhaltensauffälligkeiten eine bestimmte interpersonale Funktion haben und erlernt werden, weil die gewünschten Reaktionen anderer Menschen nicht auf sozial akzeptable Weise erreicht werden konnten.
Unzureichende Bewältigung neuer Lebenssituationen
Von großer Bedeutung ist ferner, wie ein Kind Veränderungen, neue Lebenssituationen, negative Erfahrungen oder Übergänge emotional erlebt und kognitiv verarbeitet. Schon Kleinkinder unterscheiden sich hier sehr: Beispielsweise bewerten sie potentiell angsterzeugende Ereignisse gefühlsmäßig unterschiedlich und geben ihnen verschiedene Bedeutungen. Ferner unterscheiden sie sich darin, inwieweit und auf welche Weise sie in diesen Situationen relevante Informationen suchen und interpretieren. Hier wirken sich neben dem Alter auch Persönlichkeitscharakteristika und frühere Erfahrungen (in ähnlichen Situationen) aus.
Manche Schicksalsschläge wie ein langer Krankenhausaufenthalt aufgrund einer schweren Erkrankung können ein Kind direkt treffen – und so überrascht es nicht, dass z.B. ein statistischer Zusammenhang zwischen einer Hospitalisierung im frühen Kindesalter und Deprivationssymptomen (Deprivation = Entbehrung, Mangel) bzw. späteren Verhaltensauffälligkeiten besteht. Auch der durch einen Umzug bedingte Wechsel von einem Kindergarten in einen anderen kann von einem Kleinkind als Krise erlebt werden und zu Verhaltensproblemen führen.
Der Eintritt in den Kindergarten ist ein wichtiger Übergang im Lebenszyklus. Die Kinder werden mit vielen neuen Aufgaben konfrontiert: Sie müssen sich in eine große Gruppe von Kindern einfügen, Beziehungen zu den Erzieherinnen aufbauen, mehrere Stunden pro Tag ohne ihre Eltern zurechtkommen, sich an eine unbekannte Lebenswelt anpassen, neue Regeln und Erwartungen beachten. Jedes Kleinkind meistert diese Transition mehr oder minder schnell und gut; einige reagieren auffällig. Hat ein Kind diesen und/oder andere Übergänge (z.B. Geburt eines Geschwisterteils, Wechsel vom Kindergarten in den Hort, Schuleintritt) oder „kritische“ Ereignisse (wie Trennung der Eltern) nicht oder nur teilweise gemeistert, ist es für neue Herausforderungen, Transitionen und Krisen schlechter gerüstet: Es besitzt in der Regel weniger Problemlösungs-, kognitive, soziale und Selbstkompetenzen als ein Kind, das in solchen Situationen erfolgreich war, die eigenen Fähigkeiten weiterentwickelt und an Selbstvertrauen gewonnen hat.
Nach dem Eintritt in den Kindergarten fühlen sich Kinder, die aus einer anderen Kultur kommen, die in einem Randgruppenmilieu leben oder deren Eltern einer Sekte angehören, oft verunsichert und abgelehnt. Sie machen die Erfahrung, dass die ihnen bekannten Werte, Normen, Erwartungen und Verhaltensmuster nicht akzeptiert bzw. toleriert werden. Auch dies kann zu Verhaltensauffälligkeiten führen.
Eine problematische Situation nach Eintritt in den Kindergarten entsteht schließlich bei wenig und bei hoch begabten Kindern: Erstere fühlen sich bald über-, letztere unterfordert. So sind z.B. Hochbegabte oft „schwierige“ Kinder: Sie werden leicht ungeduldig, wenn andere Kinder langsamer sind oder wenn sie etwas tun oder wiederholen müssen, was sie schon längst können. Oft langweilen sie sich in der Kindertageseinrichtung, weil ihnen sowohl die Angebote als auch die Spielkameraden nicht genügen. Zugleich haben sie aber häufig ein starkes Bedürfnis nach Anerkennung. Ihre Ungeduld, ihr hoher Aktivitätsdrang und die fortwährende Suche nach neuen Anregungen können dazu führen, dass sie als hyperaktiv bezeichnet werden. Die Wahrscheinlichkeit von problematischen Sozialbezügen und von Verhaltensauffälligkeiten ist größer als bei anderen Kindern.
Wechselwirkungen zwischen kindlichen und anderen Faktoren
Die zuvor genannten, „im Kind liegenden“ Faktoren (z.B. Erbanlagen, „schwieriges“ Temperament, mangelnde kognitive und Selbstkompetenzen), die in einem Zusammenhang mit Verhaltensauffälligkeiten stehen können, dürfen aber nie isoliert gesehen werden. So hängt die Bewältigung einer neuen, unbekannten, potentiell angsterzeugenden Situation, einer Transition oder eines „kritischen“ Ereignisses wie die Trennung der Eltern nicht nur von den Kompetenzen des Kindes ab. Vielmehr ist auch von Bedeutung, inwieweit das Kind von den Eltern auf die Ereignisse vorbereitet wurde, ob es mit ihnen über seine in dieser Situation erlebten Gedanken und Gefühle sprechen kann und wie die Eltern selbst das Ereignis bewerten. Ferner spielt die Qualität der Eltern-Kind-Beziehung eine Rolle.
Wechselwirkungen zwischen kindlichen und anderen Faktoren werden aus folgenden drei Beispielen ersichtlich:
- Die vom Temperament vorgegebene Schüchternheit eines Kindes kann dadurch verstärkt werden, dass es von Eltern, Geschwistern, Erzieherinnen und/oder anderen Kindern oft kritisiert, verspottet und beschämt wird oder dass es wenig Kontakt zu anderen Menschen hat.
- Die Hyperaktivität eines Kindes kann seine Eltern überfordern und frustrieren, sie enttäuscht und wütend machen. Oft begegnen sie dann ihrem Kind mit Feindseligkeit und Ablehnung und entwickeln einen strengen, autoritären, mit häufigen Strafen verbundenen Erziehungsstil, worauf das Kind im Verlauf der Zeit mit zusätzlichen Verhaltensauffälligkeiten reagiert.
- In Verbindung mit neurologisch bedingten Teilleistungsschwächen treten Verhaltensprobleme häufiger auf bei Kindern, „in deren Familien intrafamiliäre Belastungsfaktoren gefunden wurden. Dabei handelt es sich um kindunabhängige Stressfaktoren wie Eheprobleme der Eltern, Abwesenheit des Vaters und Belastungen durch Krankheit, finanzielle Sorgen, Arbeits- und Generationsprobleme u.Ä. Davon unabhängig sind Verhaltensprobleme der Kinder auch dann häufiger, wenn die Eltern zu einem rigiden Erziehungsstil neigen“ (Krause/ Schlack 1992, S. 97).
Auch bei Kindern, die von ihren Erbanlagen, ihrem Temperament und ihren unzureichenden Problemlösungsfähigkeiten her eher zur Ausbildung von Verhaltensauffälligkeiten tendieren, müssen also starke und lang andauernde negative Einflüsse aus Familie, Kindertageseinrichtung, Gleichaltrigengruppe und Gesellschaft hinzukommen, bevor es zu pathologischen Entwicklungen kommt. So weisen Untersuchungen nach, dass ein einzelner Risikofaktor (oder ganz wenige) nicht mit einer nennenswert höheren Wahrscheinlichkeit kindlicher Verhaltensauffälligkeiten einhergeht. Je mehr Risikofaktoren bei einem Kind zusammenkommen, umso größer wird die Wahrscheinlichkeit von Verhaltensauffälligkeiten – wobei diese dann exponentiell wächst.
Verhaltensauffällige Kinder sind somit zugleich „Symptom für kranke Beziehungen, Fehler und Mängel in der Erziehung, die Kinderfeindlichkeit der Gesellschaft u.Ä.“ (Becker-Textor 1997, S. 11). Erziehungsberaterinnen und Familientherapeuten sind deshalb schon seit langem dazu übergegangen, im verhaltensauffälligen (Klein-) Kind den „Symptomträger“ oder „identifizierten Patienten“ zu sehen. Durch diese Begriffe soll ausgedrückt werden, dass nicht das Kind „das Problem“ oder „der Klient“ ist. Vielmehr sind seine Verhaltensauffälligkeiten größtenteils das Symptom von problemverursachenden und -aufrechterhaltenden Strukturen und Prozessen in Familie, Netzwerk, Kindertageseinrichtung, Schule und Gesellschaft. Das Kind ist wohl der von anderen Menschen (Erzieherinnen, Lehrern usw.) und aufgrund diagnostischer Klassifikationen „identifizierte Patient“ – der „eigentliche Klient“ ist aber z.B. die Familie oder die Kindertagesstätte, also dasjenige System, in dem die pathogenen Strukturen und Prozesse vorgefunden werden.
Verhaltensauffälligkeiten von (Klein-) Kindern lassen sich in der Regel als eine angemessene und sinnvolle Reaktion auf längerfristige oder häufige „Problemsituationen“ verstehen. Sie sind zugleich ein „Hilferuf“ – durch sie signalisieren die Kinder, dass Teilsysteme ihrer Lebenswelt gestört sind, dass dort auch andere Personen leiden und in ihrer Weiterentwicklung behindert werden. Mit zunehmender Stärke der Verhaltensauffälligkeiten wächst die Wahrscheinlichkeit, dass es in dem jeweiligen Teilsystem (Familie, Kindertageseinrichtung usw.) zu einer Krise kommt und Fachkräfte (z.B. Erziehungsberater) involviert werden oder dass andere Menschen (z.B. Erzieherinnen) den „Hilferuf“ hören und aktiv werden, also beispielsweise selbst intervenieren oder Spezialisten hinzuziehen.
Schutzfaktoren für die kindliche Entwicklung
Die Notwendigkeit einer Zusammenschau von Kind, Familie, Kindertageseinrichtung und größeren Systemen wird auch deutlich, wenn man der Frage nachgeht, wieso unter vergleichbar negativen Lebensbedingungen manche Kinder nicht verhaltensauffällig werden. Hier haben Wissenschaftler festgestellt, dass es neben den zuvor beschriebenen „Risikofaktoren“ auch „Schutzfaktoren“ gibt. Diese fördern einerseits generell eine positive Entwicklung, andererseits können sie Risikofaktoren ausgleichen: „Beispielsweise mögen Kinder effektiv damit umgehen, dass sie von psychisch schwer erkrankten Eltern aufgezogen werden, indem sie soziale Bindungen zu anderen Familienmitgliedern oder zu Personen außerhalb der Familie entwickeln und indem sie die Fähigkeit besitzen zu akzeptieren, dass die schlechten Beziehungen zu Hause eine Funktion von Krankheit und nicht von Unzulänglichkeiten in ihnen oder bösartigen Gefühlen aufseiten der Eltern sind“ (Rutter 1987, S. 327).
Viele dieser Schutzfaktoren liegen im Kind selbst. Dazu gehören beispielsweise eine höhere Intelligenz, Gesundheit und ein ausgeglichenes Temperament. Ferner wirkt sich positiv aus, wenn ein Kind neuen Situationen gegenüber offen ist, sie für kontrollierbar hält und Vertrauen in die eigene Fähigkeit besitzt, die Herausforderungen des Lebens bewältigen zu können. Eine derartige Haltung ist natürlich häufiger vorzufinden, wenn das Kind im Verlauf seiner bisherigen Entwicklung erfolgreiche Problemlösungstechniken und andere kognitive Kompetenzen entwickeln konnte, wenn es anpassungsfähig ist und wenn es positive Erfahrungen mit den ihm in der Familie oder in der Kindertageseinrichtung gestellten Aufgaben gesammelt hat. Es besitzt dann eher ein positives Selbstbild und Selbstwertgefühle. Wichtig sind außerdem die sozialen Kompetenzen eines Kindes – wenn es ihm z.B. leicht fällt, entwicklungsfördernde Beziehungen zu anderen Menschen (auch außerhalb der Familie) einzugehen oder das Verhalten anderer Personen ihm gegenüber richtig zu interpretieren (vgl. das vorgenannte Beispiel).
Ferner können Schutzfaktoren in der Familie eines Kindes liegen. Wie bereits erwähnt, können Eltern ihrem Kind das Bewältigen neuer Situationen, von Übergängen oder kritischen Ereignissen erleichtern, wenn sie es darauf vorbereiten und mit ihm darüber sprechen. Auch kann eine besonders positive Beziehung zu einem Elternteil die negative Beziehung, z.B. aufgrund von Alkoholismus, oder die fehlende Beziehung, z.B. aufgrund einer Scheidung, zum anderen Elternteil kompensieren. Andere Schutzfaktoren sind ein höherer sozialer Status der Familie bzw. ein effektiver Umgang mit beschränkten finanziellen Ressourcen, eine gute Ehebeziehung der Eltern, ein qualitativ hochwertiges Kommunikationsverhalten, die Möglichkeit zum Ausdruck aller Gefühle, Zusammenhalt der Familienmitglieder und viele gemeinsame (Freizeit-) Aktivitäten.
Positiv wirkt sich auf die kindliche Entwicklung aus, wenn die Eltern psychisch gesund sind, mit dem eigenen Leben zufrieden sind und über erfolgreiche Bewältigungstechniken für den Umgang mit Problemen, Konflikten und (Übergangs-) Krisen verfügen. Sie besitzen erzieherische Kompetenzen, unterstützen z.B. das Kind emotional und loben es bei Erfolgen. Sie überwachen seine Aktivitäten (auch außerhalb der Familie), sodass sie negative Entwicklungen frühzeitig wahrnehmen und ihnen entgegenwirken können, während sie positive Verhaltensweisen verstärken und fördern. Schließlich ist eine gute Eltern-Kind-Beziehung (feste Bindungen, emotionale Sicherheit, Harmonie, Zuneigung) – insbesondere in der frühsten Kindheit – von großer Bedeutung.
Schutzfaktoren im weiteren sozialen Umfeld können z.B. positive Beziehungen des Kindes zu Verwandten, Freunden und Bekannten der Familie sein, die dem Kind emotionale Unterstützung und Entwicklungsanregungen bieten. In diesem Kontext spielen auch Kindertageseinrichtungen eine große Rolle. So können negative Einflüsse der Familie auf das Kind (teilweise) kompensiert werden, wenn eine entwicklungsfördernde Beziehung zwischen ihm und einer Erzieherin besteht, wenn die Erzieherin effektive erzieherische und heilpädagogische Maßnahmen einsetzt oder wenn sie kognitive und soziale Kompetenzen stärkt, die für die Bewältigung von Problemen, kritischen Lebenssituationen und Transitionen benötigt werden. Ferner wirkt sich positiv aus, wenn die Erzieherin das Kind viel – aber immer gerechtfertigt – lobt, es ermutigt und unterstützt, ein abwechslungsreiches und alle Entwicklungsbereiche umfassendes „Programm“ bietet sowie die Selbsttätigkeit, Lernmotivation und Eigenverantwortung des Kindes fördert. Schließlich ist von Bedeutung, ob das Kind Freundschaften mit anderen Kindern geschlossen hat und gut in der Gruppe integriert ist.
Ob ein Kind zum „Problemkind“ wird, hängt also auch davon ab, inwieweit pathogene Strukturen und Prozesse im Kind, in der Familie, in der Kindertageseinrichtung oder anderen Systemen durch positive Einflüsse kompensiert werden. Zahl, Stärke und Dauer von Risikofaktoren müssen in Beziehung zu Zahl, Stärke und Dauer von Schutzfaktoren gesetzt werden.
Die Notwendigkeit einer integrativen Sichtweise
Erzieherinnen sollten bei der Suche nach den Ursachen von Verhaltensauffälligkeiten gleichermaßen auch die Schutzfaktoren Kind, Familie, Kindertageseinrichtung, Schule und Kindergruppe sowie die Interaktionen zwischen diesen Systemen berücksichtigen. Erst das Gesamtbild vom Zusammenspiel zwischen Anlage und Umwelt, zwischen intrapsychischen und interpersonalen Prozessen, zwischen Individuum, Gruppe und Gesellschaft zeigt, wo wirklich die problemverursachenden und -aufrechterhaltenden Faktoren liegen und wo positive Einflüsse wirken. Dies macht eine systemische Sichtweise notwendig, mit deren Hilfe die einzelnen Systeme und Wechselbeziehungen am besten erfasst werden können. Und nur ein ganzheitlicher, umfassender, integrativer Ansatz stellt sicher, dass relevante physische, psychische, interaktionale und soziokulturelle Variablen nicht übersehen werden.
Der Abschnitt über Schutzfaktoren zeigt aber auch, dass eine qualitativ gute Kindertageseinrichtung pathogene Einflüsse aus anderen Systemen (teilweise) ausgleichen und Kinder zur Bewältigung von Schwierigkeiten, kritischen Ereignissen und Transitionen befähigen kann. Probleme, Konflikte und Übergänge sind Teil des Lebens und lassen sich somit nicht vermeiden. Zudem sind sie Voraussetzungen für die Weiterentwicklung des Individuums. Kindertageseinrichtungen können ihren Teil dazu beitragen, dass Kinder für die Herausforderungen des Lebens bestmöglich gerüstet sind. Und sie können sich bemühen, verhaltensauffällige Kinder frühzeitig zu erkennen und ihnen zu helfen bzw. „Problemsituationen“ in deren Leben zu erfassen und Veränderungen durch Dritte in die Wege zu leiten.
Anmerkung
Eine umfassende Darstellung der Thematik finden Sie in meinem Buch „Verhaltensauffällige Kinder in Kindergarten und Kita. Ursachen, Prävention, Erziehung“ (Books on Demand 2020), das im Buchhandel und z.B. bei Amazon erhältlich ist.
Literatur
Becker-Textor, I.: Schwierige Kinder gibt es nicht – oder doch? „Problemkinder“ im Kindergarten. Freiburg: Herder, 5. Aufl. 1997
Dunn, J.: Normative life events as risk factors in childhood. In: Rutter, M. (Hrsg.): Studies of psychosocial risk: The power of longitudinal data. Cambridge: Cambridge University Press 1988, S. 227-244
Krause, M.P./ Schlack, H.-G.: Teilleistungsstörungen und Familie – pathogenetische Faktoren bei verhaltensauffälligen Kindern. Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie 1992, 20, S. 94-99
Ludwig, T.B.: Verhaltensstörungen bei Vorschulkindern. Formen und Ursachen: Soziale Schicht, Erziehungsstil und Persönlichkeit der Eltern. Frankfurt/Main: Fachbuchhandlung für Psychologie, Verlagsabteilung 1985
Pettit, G.S./ Bates, J.E.: Family interaction patterns and children’s behavior problems from infancy to 4 years. Developmental Psychology 1989, 25, S. 413-420
Rutter, M.: Psychosocial resilience and protective mechanisms. American Journal of Orthopsychiatry 1987, 57, S. 316-331
Weindrich, D./ Laucht, M./ Esser, G./ Schmidt, M.H.: Disharmonische Partnerbeziehung der Eltern und kindliche Entwicklung im Säuglings- und Kleinkindalter. Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie 1992, 41, S. 114-118