Martin R. Textor
Im Verlauf der letzten Jahrzehnte hat die Zahl der Scheidungen stark zugenommen. Dieses liegt zum Teil daran, dass Pflicht-, Solidaritäts- und Akzeptanzwerte und damit auch der Verpflichtungs- und Verbindlichkeitscharakter der Ehe an Bedeutung verloren haben. Stattdessen werden Individualismus, Emanzipation und Unabhängigkeit mehr betont. Entsprechend dem neuen Eheleitbild ist Ehe an Liebe, Interessenübereinstimmung, wechselseitige Bedürfnisbefriedigung und die Möglichkeit zur Selbstverwirklichung geknüpft - sind diese Voraussetzungen nicht mehr gegeben, ist die Ehe gefährdet. Hinzu kommt, dass Scheidungen zunehmend von der Gesellschaft akzeptiert und durch den Gesetzgeber erleichtert wurden und dass der Einfluss religiöser Normen stark abgenommen hat. Auch fällt die Entscheidung, sich zu trennen, leichter, weil immer mehr Ehefrauen erwerbstätig und damit finanziell unabhängig sind. Weitere Faktoren sind, dass die Zahl der Kinder in Familien zurückgegangen ist und dass ihre Beaufsichtigung in Zeiten der berufsbedingten Abwesenheit allein erziehender Elternteile durch Kindergärten, Horte und private Arrangements sichergestellt werden kann.
Generell ist die Scheidungswahrscheinlichkeit größer, wenn die Ehepartner in sehr jungen Jahren oder wegen vorehelicher Schwangerschaft geheiratet haben, sich hinsichtlich Alter, Bildung und Schichtzugehörigkeit stark voneinander unterscheiden, kurz nach der Hochzeit das erste Kind zeugten oder kinderlos blieben. Auch bei einem niedrigen sozioökonomischen Status, nicht erfüllten Erwartungen an den Status, mangelnder Unterstützung der Ehe durch Eltern und Freunde, unterschiedlichen Rollenvorstellungen der Partner oder bei Berufstätigkeit beziehungsweise höherer Bildung der Frau ist die Scheidungsquote überdurchschnittlich hoch. Trennung und Scheidung werden heute als ein dynamischer und komplexer Prozess der Veränderung verstanden, der mehrere Jahre lang dauert und die im Folgenden dargestellten drei Phasen umfasst.
Vorscheidungsphase
Die Vorscheidungsphase, deren Dauer von wenigen Monaten bis mehreren Jahren reichen kann, beginnt mit einer gewissen Desillusionierung und Unzufriedenheit mit der Ehebeziehung und dem Partner. Oft werden die Probleme zunächst verdrängt, verleugnet oder bagatellisiert. Die zunehmende Ernüchterung und Enttäuschung führen dann zu immer häufiger werdenden Auseinandersetzungen oder zu wachsender Entfremdung und stillem Rückzug. Die Partner kommunizieren weniger miteinander, sehen einander immer negativer, empfinden immer weniger positive Gefühle füreinander und sind bei Konflikten nicht mehr kompromissbereit. Oft kommt es zu außerehelichen Beziehungen. Die Wahrnehmung einer zunehmenden "emotionalen Scheidung" führt häufig auch zu Versuchen, die Ehe zu retten oder neu zu beleben.
Irgendwann im Verlauf dieses Prozesses beginnt einer der Partner, an eine mögliche Trennung zu denken. Die endgültige Entscheidung hierzu wird in der Regel erst nach einer längeren Zeit der inneren Konflikte, der Ambivalenz und Angst vor der Zukunft gefällt. Dabei wird nur selten gründlich über die Folgen einer Scheidung in finanzieller und emotionaler Hinsicht nachgedacht. Oft diskutieren die Ehepartner über die Möglichkeit einer Trennung oder trennen sich (mehrmals) probehalber. Zumeist wird eine Vielzahl von Gründen für den endgültigen Scheidungsentschluss genannt. So können zum Beispiel das veränderte Verhalten, die Untreue, die psychischen Probleme, der Alkoholmissbrauch oder die Gewalttätigkeit des Partners eine Rolle spielen. Andere Ursachen können die in der Ehe erlebte Einschränkung der Selbstentfaltung, mangelnde Bedürfnisbefriedigung, die Idealisierung anderer Partnerschaften oder die Erwartung von mehr Glück in der Beziehung zu einem anderen Partner sein. Weitere Gründe sind Kommunikationsstörungen, unterschiedliche Werte, ein Auseinanderentwickeln der Partner, unerwartete Schicksalsschläge (Krankheit, Arbeitslosigkeit usw.) oder die Unfähigkeit, den Übergang von einer Phase des Familienzyklus zur nächsten zu bewältigen. Oft versuchen Eltern in der Vorscheidungsphase, Spannungen und Konflikte vor kleineren Kindern geheim zu halten, die von diesen aber dennoch erspürt werden. Können Kinder nicht über ihre Wahrnehmungen sprechen oder wird deren Richtigkeit von den Eltern verneint, beginnen sie, an sich selbst und ihrer Beobachtungsfähigkeit zu zweifeln. In anderen Fällen erleben die Kinder die Auseinandersetzungen ihrer Eltern mit, werden in sie hineingezogen, müssen Partei ergreifen (Loyalitätskonflikte) oder versuchen, durch auffällige Verhaltensweisen von den Ehekonflikten abzulenken. Sie leiden häufig so stark unter dieser Situation, dass es zur Ausbildung von Symptomen kommt.
Scheidungsphase
Die Scheidungsphase beginnt mit der endgültigen Trennung der Ehepartner und endet mit der gerichtlichen Ehelösung. Sie dauert zwischen einem Jahr und mehr als drei Jahren. Von besonderer Bedeutung für die weitere Entwicklung ist die Art und Weise der Trennung - ob sie plötzlich (und für einen Partner überraschend) oder nach langen Auseinandersetzungen, im Streit oder in Übereinstimmung, wegen eines neuen Partners oder aus anderen Gründen erfolgte. Wichtig ist auch, ob das in der Regel vorgeschriebene Trennungsjahr in verschiedenen Wohnungen oder in demselben Haushalt (zum Beispiel aufgrund von Wohnungsnot oder einem sehr geringen Einkommen) verbracht wird. Die im letztgenannten Fall andauernden Spannungen, der stark eingeschränkte Bewegungsraum und das für (Klein-)Kinder nicht nachvollziehbare Verhalten der Eltern können psychisch sehr belastend sein.
Auf eine Trennung reagieren Ehepartner mit höchst unterschiedlichen intensiven Gefühlen: Trauer, Schmerz, Reue, Depression, Wut, Hass, Aggressivität, Verbitterung, Schuldgefühle, Angst vor der Zukunft, Erleichterung, Verwirrung, Hilflosigkeit, Einsamkeit, Verzweiflung usw. Ihre Empfindungen und inneren Konflikte können so stark sein, dass es zu Verhaltensauffälligkeiten, psychosomatischen Beschwerden, Selbstmordversuchen und der Entwicklung von Symptomen kommt. Vielfach leidet die berufliche Leistungsfähigkeit. Auch wurde ermittelt, dass Personen in dieser Situation häufiger in Unfälle verwickelt sind.
Zumeist berichten der passive Partner und derjenige, der die Trennung initiiert hat, von unterschiedlichen Emotionen; ersterer hat es in der Regel schwerer und benötigt mehr Zeit, um die Sequenz üblicher Reaktionen zu durchlaufen. Aber auch die subjektive Bewertung der Trennung (zum Beispiel als katastrophale Lebenskrise oder als Start in ein neues und sicherlich glücklicheres Leben) ist von großer Bedeutung für die Art und Weise ihrer Bewältigung. Zumeist ist die Trennung schwerer zu verarbeiten, wenn die Ehekrise lange dauerte, wenn sich der Betroffene schuldig am Scheitern seiner Ehe fühlt, wenn er aus religiösen Motiven heraus gegen eine Scheidung ist, wenn er mit niemandem über seine Gefühle sprechen kann oder wenn er emotional instabil ist, ein negatives Selbstbild besitzt oder eine pessimistische Lebenseinstellung hat. Mit größeren psychischen Problemen ist auch zu rechnen, wenn ein Elternteil nach der Trennung für längere Zeit keinen/kaum Zutritt zu seinen Kindern hat. Frauen haben stärker mit der Trennungserfahrung zu kämpfen, wenn sie zu diesem Zeitpunkt schon älter sind, keiner Erwerbstätigkeit nachgehen und wenig Berufserfahrung haben, wenn sie sich über die Position ihres Mannes definiert haben und nun einen großen Statusverlust erleben oder wenn sie mit großen finanziellen Schwierigkeiten konfrontiert werden.
Zu großen Problemen können auch die mit einer Trennung verbundenen zeit- und arbeitsaufwendigen Umstellungen führen. So muss sich zumindest ein Partner eine neue Wohnung suchen und diese einrichten, beginnt für viele Frauen die Arbeitsplatzsuche beziehungsweise das Einarbeiten in eine neue Stelle, müssen die Partner ungewohnte Rollen (zum Beispiel als Familienernährer) und Aufgaben (Kochen, Wäschepflege, Kontakt zu Behörden usw.) übernehmen, die zuvor nur der Ehegatte ausgeübt hatte und für die nun die entsprechenden Fähigkeiten fehlen. Auch müssen sie den Lebensstil von Singles wiedererlernen, fängt erneut die Partnersuche an. Überwältigt von diesen Anforderungen, flüchten viele getrennt lebende Personen in neue Beziehungen und Abhängigkeiten, während andere eine "zweite Pubertät" durchleben. Umstellungen gibt es auch im Netzwerk, das sich zumeist nach der Trennung der Ehepartner teilt. Die Partner müssen sich mit den negativen Reaktionen des einen Teils auseinander setzen, während sie von den Mitgliedern des anderen Netzwerkteils psychische und praktische Unterstützung, Hilfe bei der Beaufsichtigung von Kindern, Ratschläge und materielle Leistungen erhalten. In der Folgezeit muss das Netzwerk wieder ausgebaut werden, wobei oft der Kontakt zu anderen Geschiedenen gesucht wird.
Nach der Trennung bestehen zwischen den Partnern weiterhin Kontakte; oft sind sie auch noch lange emotional aufeinander fixiert. Konflikte und Auseinandersetzungen werden häufig durch die Kommunikation über Dritte oder die Einmischung von Verwandten verschärft. Aber auch die Konsultation von Rechtsanwälten kann zu einer Eskalation führen. So verhindern juristische Abläufe vielfach das Gespräch zwischen den Partnern und die selbstbestimmte Einigung, fördern negative Verhaltensweisen (Rache, Betrug usw.), erschweren das Erkennen des eigenen Anteils am Scheitern der Ehe und lassen das Wohl der Kinder aus den Augen verlieren. Vereinzelt kommt es zu Auseinandersetzungen bezüglich des Sorgerechts, wobei sich besonders negativ auswirkt, wenn die Kinder vor Gericht gegen den anderen Elternteil ausgespielt werden oder gegen ihn aussagen sollen.
Zumeist erfolgt aber die Ehelösung einverständlich nach einer mindestens einjährigen Trennungszeit. Die meisten Scheidungen verlaufen ohne Streit vor dem Gericht ab. Auch werden diesem in fast allen Fällen Vereinbarungen über Folgesachen von den Parteien vorgelegt. Hier haben sich also die Ehepartner schon vor der Verhandlung über die Aufteilung des Besitzes, den Unterhalt, das Sorgerecht oder die Umgangsregelungen geeinigt.
Das Gericht trifft dann im Scheidungsverfahren die endgültige Entscheidung, wobei es in der Regel getroffene Vereinbarungen bestätigt. Zumeist bleibt es bei der gemeinsamen Sorge (beide geschiedenen Elternteile sind weiterhin rechtlich für ihre Kinder verantwortlich), die als Regelfall gesetzlich verankert ist. Die alleinige Sorge eines Elternteils und die Aufteilung der Kinder zwischen den Eltern kommen nur selten vor.
Es ist offensichtlich, dass in dieser Phase auch die Kinder leiden. Fast alle Kinder sind gegen die Trennung ihrer Eltern und reagieren auf die Abwesenheit eines Elternteils mit Schock, Schmerz, Trauer und Angst. Oft fühlen sie sich von ihm verraten oder befürchten, dass sie ihn nicht wieder sehen werden. Ihr Zorn richtet sich entweder gegen den ausgezogenen ("hat die Familie verlassen") oder den anderen Elternteil ("hat den Partner vertrieben"). Generell sind die Reaktionen von Kindern auf Trennung und Scheidung sehr unterschiedlich und spiegeln ihr Alter und ihre Individualität wider. So besitzen zum Beispiel Kleinkinder noch nicht die intellektuellen Fähigkeiten, mit deren Hilfe die Bedeutung der Trennung ihrer Eltern und die damit verbundenen Veränderungen verstanden werden könnten. Deshalb sind sie vielfach verwirrt und hilflos, verleugnen die Trennung oder leiden unter schrecklichen Phantasien. Sie haben Angst, nicht mehr geliebt und wie der eine Elternteil verlassen zu werden. Aber auch das Sicherheitsgefühl älterer Kinder wird beeinträchtigt. Sie erleben sich häufig als wertlos und ohnmächtig. Oft überfordern sie sich selbst, wenn sie ihren problembeladenen Eltern emotionale Zuwendung und Hilfe bieten oder sie miteinander versöhnen wollen. Sie verbergen manchmal ihre eigenen Gefühle und Probleme, um ihre Eltern nicht noch zusätzlich zu belasten.
Viele Kinder sind nach der Trennung ihrer Eltern aggressiv, gewalttätig und zerstörerisch, während andere mit Rückzug, Depressivität, Verlust an Interessen und Apathie reagieren. Jüngere Kinder entwickeln auch Schuldgefühle, weil sie sich (grundlos) für die Trennung ihrer Eltern verantwortlich halten oder negative Emotionen ihnen gegenüber erleben. Viele Kinder leiden unter starken Loyalitätskonflikten, fühlen sich zwischen beiden Elternteilen hin- und hergerissen. Häufig kommt es zur Ausbildung von Symptomen wie Einnässen, Einkoten, Schlafstörungen, Trennungsangst (anklammerndes Verhalten), Nervosität, Schulprobleme oder andere Verhaltensauffälligkeiten. Sie verschwinden zumeist bald wieder - sind sie aber noch ein Jahr nach der Trennung vorhanden, bleiben sie auch in den folgenden Jahren bestehen.
Jungen und Einzelkinder leiden unter der Scheidung ihrer Eltern zumeist mehr als Mädchen und Kinder mit Geschwistern. Der Verlust fällt auch umso schwerer, je jünger die Kinder sind und je intensiver ihre Beziehung zu dem ausgezogenen Elternteil ist. Die Anpassung an die neue Situation kann ferner durch größere Veränderungen in der Lebenswelt der Kinder wie Anmeldung in Krippe, Kindergarten beziehungsweise Hort oder Umzug in Verbindung mit Schulwechsel und dem Verlust von Freunden erschwert werden.
Hinzu kommt, dass viele Eltern in dieser Phase des Scheidungszyklus ihren Erziehungsaufgaben nur unzureichend nachkommen. Aufgrund ihres emotionalen Zustandes, der Probleme der Alltagsbewältigung und des oft erfolgenden Wiedereintritts in die Arbeitswelt haben sie nur wenig Zeit für Gespräche und Spiele mit ihren Kindern. Sie kümmern sich nur wenig um sie, mögen sie sogar vernachlässigen und haben Recht wenig Gespür für das, was in ihnen vorgeht. Da sie oft überlastet und übermüdet sind, mögen sie auch ein autoritäreres Erziehungsverhalten als früher zeigen und häufiger von körperlicher Züchtigung Gebrauch machen. Problematisch ist ferner, dass vor allem jüngeren Kindern zumeist weder die Gründe für die Trennung genannt noch Informationen über die Zukunft gegeben werden. Zudem sind die Kinder mehr oder minder plötzlich nicht mehr Mittelpunkt des Familienlebens. In anderen Fällen verwöhnen und überbehüten die Eltern ihre Kinder, da sie befürchten, dass deren Entwicklung durch die Scheidung geschädigt werden könnte.
In dieser Phase des Scheidungszyklus verändern sich abrupt die Eltern-Kind-Beziehungen. So verliert das Kind einen Elternteil als Identifikationsfigur, Freund, Helfer und ausgleichendes Element. Das Verhältnis zu dem anderen Elternteil wird hingegen intensiver und enger. Problematisch ist, wenn dieser erwartet, dass sich das Kind auf seine Seite stellt, ihn tröstet und unterstützt. Oft verbietet der Elternteil ihm, Gefühle des Verlustes, der Trauer, des Schmerzes oder der Sehnsucht nach dem anderen Elternteil zu zeigen. Häufig versucht er auch, Besuchskontakte zu erschweren oder sogar zu unterbinden. Ferner kann sich negativ auswirken, wenn Kinder als Waffe im Scheidungsprozess benutzt, in Konflikte der Eltern hineingezogen, bei beziehungsweise nach Besuchen ausgehorcht oder als Informanten, Nachrichtenkuriere, Mitwisser von Geheimnissen usw. missbraucht werden.
Nachscheidungsphase
In der Nachscheidungsphase, die etwa ein Jahr dauert, aber auch kürzer oder sehr viel länger sein kann, wird in der Regel das Familiensystem wieder stabilisiert, gewinnen die Familienmitglieder ihr psychisches Gleichgewicht zurück und gewöhnen sich an ihren neuen Lebensstil. Gefühle des Schmerzes, der Trauer, der Rachsucht, des Selbstmitleids, der Angst usw. werden immer schwächer und verschwinden zumeist gänzlich; sie mögen jedoch wieder aufleben, wenn der frühere Partner erneut heiratet oder ein weiteres Kind bekommt. Das Scheitern der Ehe und die Scheidung werden aufgearbeitet und akzeptiert. Auch lösen die Erwachsenen ihr Selbst immer mehr von dem des Expartners ab, bis sie schließlich die "psychische Scheidung" von ihm erreichen. Wenn das neue Leben aber nicht den Erwartungen und Hoffnungen entspricht, wenn sich die Erwachsenen einsam fühlen oder wenn nichtsorgeberechtigte Elternteile starke Sehnsucht nach ihren Kindern empfinden, mögen sie sich jedoch in die geschiedene Ehe zurückwünschen.
Zumeist normalisiert sich in dieser Phase die Beziehung zum Expartner. Es werden kaum noch negative Gefühle ihm gegenüber erlebt. Oft wird ein lockerer Kontakt zu ihm und den früheren Schwiegereltern aufrechterhalten, der aber im Verlauf der Zeit erlöschen kann. Er ist in der Regel stärker ausgeprägt, wenn Kinder vorhanden sind und gemeinsam erzogen werden. Die Gesprächsinhalte sind dann meistens auf Erziehungsfragen beschränkt. In manchen Fällen bestehen aber negative Gefühle gegenüber dem früheren Partner fort und mögen zu neuen Konflikten führen, die oft über die Kinder ausgetragen werden (zum Beispiel Versuch der Unterbindung von Kontakten zu dem nichtsorgeberechtigten Elternteil).
In der Nachscheidungsphase gewinnen die früheren Ehepartner zumeist neue Lebensziele und -inhalte. Sie definieren die durch die Ehe geprägten Identitätsbereiche neu. Frauen, die wieder in die Arbeitswelt eingetreten sind, haben nun die meisten Anpassungsschwierigkeiten gemeistert und genießen ihre Unabhängigkeit. Die Erwachsenen gewinnen ihr Selbstvertrauen, ihre Tatkraft und ihr Wohlbefinden zurück, schauen wieder optimistisch in die Zukunft. Sie bauen ein neues Netzwerk auf, sodass Gefühle der Einsamkeit immer mehr schwinden. Auch gehen sie neue Partnerschaften ein, die von kurzfristigen und oberflächlichen Kontakten bis hin zu langfristigen und intimen Beziehungen reichen können. Oft werden zunächst niedrigere Ansprüche an die Partner gestellt, da jede Beziehung besser als die frühere Ehe erscheint und noch negative Selbstwertgefühle vorhanden sind. Auch mag die Angst vor dem erneuten Scheitern in einer Partnerschaft noch stark ausgeprägt sein. Gegen Ende der Nachscheidungsphase sind die meisten Erwachsenen aber für eine längerfristige Beziehung oder eine neue Ehe offen.
Zumeist verbessert sich nun auch das Verhältnis zwischen den sorgeberechtigten Elternteilen und den Kindern, kommt es zu einer intensiveren Kommunikation miteinander. In manchen Fällen haben aber die allein erziehenden Elternteile weiterhin zu wenig Zeit für ihre Kinder und vernachlässigen sie. Sie fühlen sich aufgrund der Belastung durch Beruf, Haushalt und Erziehung überfordert, sind oft gestresst und erschöpft. Vielfach halten sie sich nichtsorgeberechtigten Elternteilen gegenüber für benachteiligt - wobei diese häufig genauso empfinden: Sie vermissen ihre Kinder, fühlen sich als Bittsteller bei der Planung von Besuchen und erleben sich als ohnmächtig, wenn sie Einfluss auf die Erziehung oder den Lebensweg ihrer Kinder zu nehmen versuchen.
Generell lassen sich verschiedene Formen der Beziehung zwischen geschiedenen Eltern und ihren Kindern unterscheiden:
- Beide Elternteile erziehen ihre Kinder weiterhin gemeinsam. Sie trennen die aufgelöste Paarbeziehung von der unauflösbaren Eltern-Kind-Beziehung, stimmen ihre Erziehungsmaßnahmen aufeinander ab und respektieren einander als Eltern.
- Beide Eltern verbringen etwa gleich viel Zeit mit ihren Kindern, die zumeist nach einem bestimmten Muster zwischen beiden Haushalten wechseln. Die früheren Partner kommunizieren aber nur wenig miteinander und stimmen ihr erzieherisches Verhalten kaum ab. So können die Kinder unterschiedlichen Erziehungsstilen, Regeln und Einflüssen ausgesetzt sein.
- Die Kinder leben in der Wohnung des einen Elternteils, besuchen aber den anderen regelmäßig. Sie werden in dessen Haushalt integriert (haben zum Beispiel ein eigenes Zimmer, helfen bei der Hausarbeit usw.). Der Elternteil nimmt ihnen gegenüber noch Erziehungsaufgaben wahr, verhält sich aber zumeist wie ein Freund.
- Die Kinder treffen regelmäßig mit dem nichtsorgeberechtigten Elternteil zusammen. Da dieser seine Wohnung aber nicht für Kinder ausgestattet hat, behandelt er sie zumeist als Besucher und verbringt sehr viel Zeit mit ihnen in Parks, auf Spielplätzen, im Zoo, in Restaurants usw. Er kann oft wenig mit den Kindern anfangen und holt manchmal Großeltern oder seinen neuen Partner zur Hilfe. Er ist nicht mehr sozialisierend, erzieherisch oder disziplinierend tätig.
- Zwischen Kindern und nichtsorgeberechtigtem Elternteil besteht nur noch ein unregelmäßiger und flüchtiger Kontakt.
- Es gibt keine Beziehung mehr zwischen den Kindern und dem nichtsorgeberechtigten Elternteil. Oft wurden Besuche durch frühere oder neue Partner unterbunden.
Generell nimmt der Kontakt zwischen nichtsorgeberechtigten Eltern und ihren Kindern im Verlauf der Zeit ab, wobei etwa zwei Jahre nach der Trennung ein besonders starker Einbruch zu verzeichnen ist.
In der Nachscheidungsphase lassen die zuvor beschriebenen Reaktionen von Kindern auf die Trennung der Eltern in ihrer Intensität nach und verschwinden in der Regel. Die neue Lebenssituation wird zunehmend akzeptiert; die Kinder gewöhnen sich an die beschriebenen Veränderungen und entwickeln sich "normal" weiter. Nur selten kommt es zu einer Chronifizierung von auffälligen Verhaltensweisen und zur Verfestigung von Symptomen. Oft dauert es aber mehrere Jahre, bis die Scheidung der Eltern als endgültig angesehen wird. Selbst nach der Wiederheirat eines Elternteils berichten Kinder noch von Versöhnungsphantasien und von aktiven Versuchen, die geschiedenen Eltern wieder zusammenzuführen.
Generell fällt Kindern die Anpassung an die Nachscheidungssituation leichter, wenn sie in regelmäßigem Kontakt zu dem nichtsorgeberechtigten Elternteil stehen und wenn sich die geschiedenen Partner in Erziehungsfragen einig sind. Bei langen und häufigen Besuchen werden diese als Alltagssituationen erlebt, kann die emotionale Bindung an den abwesenden Elternteil aufrechterhalten werden. Während sich viele Kinder auf Besuche freuen und oft versuchen, deren Ende herauszuzögern, reagieren andere auf negative Weise. Dieses ist vor allem dann der Fall, wenn der sorgeberechtigte Elternteil gegen Besuchskontakte ist, wenn keine Bindung an den anderen Elternteil besteht oder wenn er für die Auflösung der Familie verantwortlich gemacht wird oder mit Kindern nicht umgehen kann. Ältere Kinder mögen auch das Zusammensein mit Freunden derartigen Besuchen vorziehen.
In den vielen Fällen, bei denen einige Zeit nach der Trennung kein oder nur ein unregelmäßiger Kontakt zum nichtsorgeberechtigten Elternteil besteht, leiden Kinder häufig noch lange unter Gefühlen der Trauer, Sehnsucht oder Verärgerung. Sie erleben sich als wertlos, da sie so ohne weiteres verlassen wurden. Kleinere Kinder verleugnen oft den Elternteil und die mit ihm gemachten Erfahrungen. Einige machen ihn zur Negativfigur, während andere ihn idealisieren, sich mit ihm identifizieren sowie seine Eigenschaften und Eigenarten übernehmen. Das Verhalten Letzterer kann zu Konflikten mit dem sorgeberechtigten Elternteil führen und eine Anpassung an (prospektive) Stiefeltern erschweren.
Generell haben viele Kinder in der Nachscheidungssituation Probleme mit den neuen Partnern ihrer Eltern. Dieses ist besonders dann der Fall, wenn Partner häufig gewechselt werden oder eine intensive, längerfristige Beziehung abgebrochen wird. Die neuen beziehungsweise wiederholten Trennungserfahrungen können dazu führen, dass Kinder keine Bindungen mehr eingehen.
Auch mehrere Jahre nach der Trennung ihrer Eltern gewinnen die meisten Kinder der Scheidung immer noch nichts Gutes ab. Sie teilen nur selten die Meinung vieler geschiedener Erwachsener, dass die Auflösung der Familie zu einer positiven Weiterentwicklung geführt habe. Erwachsene, deren Eltern sich während ihrer Kindheit scheiden ließen, scheitern in ihrer eigenen Ehe häufiger als Partner aus Familien, in denen die Eltern zusammenblieben. Hierfür gibt es viele Erklärungen. So wird zum Beispiel postuliert, dass diese Erwachsenen in ihrer Kindheit kein Vorbild für eine positiv gestaltete Ehebeziehung erlebt hätten, aber wüssten, wie man sich aus einer unglücklichen Ehe befreit.
Literatur
Largo, R. H./Czernin, M.: Glückliche Scheidungskinder. Was Kinder nach der Trennung brauchen. München 2015
Ricci, I.: Meine Eltern sind geschieden. Wie Kinder dennoch glücklich bleiben. München 1984
Siewert, H. H.: Scheidung - Wege zur Bewältigung. München 1983
Strätling-Tölle, H.: Ehe und Familie heute - Krisenmomente und ihre Ursachen. Versuch einer Situationsanalyse unter sozialpsychologischen Gesichtspunkten. In: Arbeitsgemeinschaft für katholische Familienbildung (Hrsg.): Die so genannte "Krise". Probleme um Ehe und Familie heute. Bonn 1981, S. 25-57
Textor, M. R.: The divorce transition. In: Textor, M. R. (Hrsg.): The divorce and divorce therapy handbook. Northvale 1989, S. 3-43
Textor, M. R.: Scheidungszyklus und Scheidungsberatung. Ein Handbuch. Göttingen 1991, https://www.ipzf.de/Scheidung1.html und https://www.ipzf.de/Scheidung2.html
Werneck, H./Werneck-Rohrer, S. (Hrsg.): Psychologie der Scheidung und Trennung. Wien, 2. Aufl. 2010