Piagets Theorie der kognitiven Entwicklung

Martin R. Textor

Der Schweizer Psychologe Jean Piaget (1896 - 1980) hat die Entwicklungspsychologie auf dem Gebiet der kognitiven Entwicklung stark geprägt. In vielen Untersuchungen wurden seine theoretischen und empirischen Erkenntnisse überprüft, ergänzt und korrigiert. In nahezu jedem Lehrbuch der Entwicklungspsychologie werden seine Positionen ausführlich dargestellt.

Laut Piaget wird jeder Mensch mit zwei fundamentalen Tendenzen geboren: Zum einen ist dies die Tendenz zur Adaption, zur Anpassung an die Umgebung. Sie umfasst zwei komplementäre Prozesse: die Assimilation (die Veränderung der Umwelt, um diese den eigenen Bedürfnissen, Wünschen usw. anzupassen) und die Akkommodation (die Veränderung des eigenen Verhaltens, um sich selbst den Umweltbedingungen anzupassen). Zum anderen ist dies die Tendenz zur Organisation, zur Integration der eigenen Prozesse in kohärente Systeme. Beispielsweise kann ein Baby zunächst etwas entweder greifen oder anschauen. Wenn es dann die Augen-Hand-Koordination gelernt hat, kann es Beobachtung und Handlung in ein System integrieren. Jeder Mensch ist bestrebt, durch Adaption und Assimilation immer wieder ein Äquilibrium herzustellen, also einen Gleichgewichtszustand: Er möchte "in Harmonie" mit sich und seiner Umgebung leben. Beispielsweise verspüren Menschen eine gewisse Spannung, wenn sie etwas nicht verstehen oder nicht wissen, und trachten dann danach, dieses Disäquilibrium durch Lernen zu überkommen.

Durch die vorgenannten Tendenzen wird laut Piaget auch die psychologische Struktur verändert: Diese umfasst einerseits sensumotorische bzw. Verhaltensschemata und andererseits operationale bzw. kognitive Schemata. Damit sind abstrahierte Formen menschlicher Handlungen und Denkprozesse gemeint, die sich in ihrer Grundstruktur gleichen. Am Anfang der kindlichen Entwicklung herrschen sensumotorische Schemata vor, wobei sich der Begriff "sensumotorisch" darauf bezieht, dass das Kind etwas über seine Sinne wahrnimmt (sensorisch), darauf handelnd reagiert (motorisch) und die Wirkung seines Verhaltens wahrnimmt (sensorisch). Bei diesen Schemata spielt das Denken noch keine nennenswerte Rolle. Erst ab dem 2. Lebensjahr werden auch kognitive Schemata entwickelt, z.B. das Klassifikationsschema (die Fähigkeit, Dinge aufgrund bestimmter Eigenschaften wie Farbe oder Größe in "Klassen" zu ordnen).

Piaget ist der Meinung, dass sich das (Klein-) Kind sein Weltverständnis (Wissen) in der selbsttätigen Auseinandersetzung mit seiner Umwelt (Handeln) selbst konstruiert - kognitive Schemata werden also zunächst von sensumotorischen abgeleitet. Die kognitive Entwicklung wird ansonsten von vier Faktoren beeinflusst: der Reifung, dem Kontakt mit der Umgebung (d.h. einerseits physischen Erfahrungen und andererseits logico-mathematischen Erfahrungen, wobei letztere durch die innere Koordination von Handlungen erworben werden), soziale Übertragung (Lernen von anderen, Unterricht usw.) sowie Äquilibration (selbst regulierende Kräfte im Kind, durch die es immer wieder ein Äquilibrium zu erreichen versucht).

Piaget unterscheidet vier Hauptstadien der kognitiven Entwicklung bei Kindern, die zum Teil in Substadien unterteilt werden:

  1. Auf der Stufe der sensumotorischen Intelligenz (0 - 18/24 Monate; mit sechs Substadien) verfügt der Säugling zunächst nur über einige angeborene Reflexe. Das Baby lernt dann vor allem durch Beobachtung und Handeln (zunächst durch aktive Wiederholung und später durch Experimentieren) - also dadurch, dass es beobachtet, was passiert, wenn es Gegenstände berührt, anstößt, bewegt, zieht, fallen lässt usw. Auf diese Weise lernt es auch die Verknüpfung eines Zwecks mit dem Mittel, das zum Erreichen des jeweiligen Ziels benötigt wird. Mit etwa 12 Monaten erkennt das Baby, dass Dinge auch da sind, wenn es sie nicht sieht ("Objektpermanenz"). Es beginnt, zwischen sich selbst (Subjekt) und seiner Umwelt (Objekte) zu unterscheiden. Die vorherrschende Spielform in dieser Phase ist das Übungsspiel.
  2. Das präoperationale Stadium beginnt mit der Stufe des symbolischen oder vorbegrifflichen Denkens (18/24 Monate - 4 Jahre): Das Kleinkind eignet sich die Sprache an und kann nun mit Vorbegriffen - Vorstellungen und Symbolen - umgehen. Ferner unterscheidet es jetzt zwischen einem Objekt (einer Situation, einem Verhalten etc.) und der mentalen Repräsentation desselben, was auch symbolische bzw. "Als ob-Spiele" ermöglicht (z.B. kann es mit einem Bauklotz spielen, als ob es ein Auto ist). Das Kind erinnert in erster Linie bildhafte, "lose" Sinneseindrücke.
    Später folgt die Stufe des anschaulichen Denkens (4 - 7/8 Jahre): Das Denken erfolgt weiterhin in Vorstellungen bzw. inneren Bildern. Das Kind entwickelt nun echte Begriffe, wobei hauptsächlich wahrnehmungsmäßig herausragende Merkmale berücksichtigt werden. Es ordnet also die vielen Eindrücke und Ereignisse, indem es nach Zusammenhängen und Kausalbeziehungen "sucht". Zugleicht entwickelt es ein Regelbewusstsein ("Wenn heute Montag ist, ist überall Montag"). Das Denken ist aber noch eingleisig und ermöglicht nur die Ausführung einer einzigen inneren Handlung. Gegen Ende dieser Phase wird der frühkindliche Egozentrismus überwunden.
  3. Stufe der konkreten Operationen (7/8 - 11/12 Jahre): Das Denken ist weiterhin an anschaulich erfahrbare Inhalte gebunden. Es werden aber nun verschiedene Merkmale eines Gegenstandes und Vorgangs gleichzeitig erfasst und zueinander in Beziehung gesetzt. Regeln beziehen sich jetzt auf die Relation zwischen zwei und mehr Begriffen. Das Kind denkt im Sinne verinnerlichten Handelns, kann vorausdenken und sein Handeln reflektierend steuern. Logische Schlussfolgerungen über Phänomene, die physische Objekte betreffen, und über konkrete Situationen werden möglich. Das Regelspiel wird zur vorherrschenden Spielform.
  4. Stufe der formalen Operationen (ab 11/12 Jahre): Nun kann der Jugendliche mit abstrakten Inhalten wie Hypothesen gedanklich umgehen, Probleme theoretisch analysieren und (wissenschaftliche) Fragestellungen systematisch durchdenken. Er hat die höchste Form des logischen Denkens erreicht.

Deutlich wird, wie sich das Denken immer mehr von der Wahrnehmung, der Anschauung und dem Handeln löst, also zunehmend "abstrakter" wird. Oder anders gesagt: Zunächst stehen Objekte und deren Charakteristika - insbesondere ihr Verhalten, wenn man mit ihnen handelnd umgeht - im Mittelpunkt des Denkens, und später rationale, logisch-mathematische Operationen.

"Piaget kam zu der Schlussfolgerung, dass für kleine Kinder vor dem sechsten Lebensjahr das geistige Leben überhaupt nicht existiert. Im Hinblick auf psychologische Phänomene sind sie Realisten, sagt er. Sie unterscheiden nicht zwischen geistigen Gebilden, wie Gedanken und Träumen, und realen physischen Dingen" (Astington 2000, S. 17). Kleinkinder seien egozentrisch, hätten also noch nicht ein Bewusstsein ihrer selbst (und über die Subjektivität der eigenen Erfahrung) entwickelt und könnten dementsprechend noch nicht die Welt objektiv sehen. So erhielten geistige Gebilde physische Eigenschaften (z.B. kämen Träume aus dem Himmel, befänden sich im Zimmer), und umgekehrt physische Objekte psychische Eigenschaften (z.B. verfolge der Mond das Kind beim Gehen).

Neuere Forschungsergebnisse haben gezeigt, dass die kognitive Entwicklung bei Kindern schneller verläuft, als Piaget in seinen experimentellen Studien herausfand. Kleinkinder erwiesen sich als viel kompetenter in ihrem Denken und Schlussfolgern über die physische Welt. So erreichten sie relativ früh ein ähnliches Begriffsverständnis wie Erwachsene. Auch hatten sie bereits viel früher als von Piaget angenommen ein Verständnis von psychischen Phänomenen, konnten also z.B. zwischen realen Dingen und mentalen Gebilden wie Gedanken, Träumen und Erinnerungen unterscheiden. Ferner wurden sehr große interindividuelle Unterschiede in der kognitiven Entwicklung ermittelt, was gegen die von Piaget vertretene Universalität seines Stufen-Modells spricht. Schließlich ließen sich Kinder in ihrer kognitiven Entwicklung viel stärker von außen beeinflussen, als dies laut der vor allem auf Reifung fußenden Lehre von Piaget möglich sein sollte - deshalb wurde diesem auch "pädagogischer Pessimismus" vorgeworfen.

Literatur

Astington, J.W.: Wie Kinder das Denken entdecken. München, Basel: Reinhardt 2000

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