Aus:
Pädagogik Unterricht 2000, 20, Heft 2/3 (Juli), hrsg. vom Verband der Pädagogiklehrer und Pädagogiklehrerinnen
Norbert Kühne
"Dann bär uns endlich ein Kaninchen"
Kinder im Alter von 3 Jahren äußern sich über Themen in der Familie:
1. Tag für Tag wartete sie geduldig auf ihr Geschwisterchen. Eines Tages wurde es ihr dann zu viel und sie forderte die Mutter auf: "Ach Mami, dann bär uns endlich ein Kaninchen!" (Ursula Teichmann)
2. Ich fuhr mit Jürgen an der Schule vorbei, in die ich als Kind gegangen war. Jürgen erinnerte sich eines Tages, als wir vorbeifuhren: "Gell, da sind lauter klitzekleine Mamas drin?" (Sieglinde Renz)
3. Seine Mutter fordert ihn auf, endlich mit dem Essen anzufangen. Edi: "Aber ich möcht lieber verhungern. Kann ich, Mami?" (Kerstin Fay)
4. "Hast du eigentlich noch Geschwister, kleines Fräulein?" - "Nein, ich bin alle Kinder. Wir sind noch nicht so lange verheiratet!" (H.-D. Zeuschner)
5. Papa wollte nach der Arbeit zum Friseur gehen. Ich bereitete Jürgen auf den veränderten Vater vor: "Papa war beim Friseur, musst mal kucken! Das ist ein ganz neuer Papa, der heute Abend kommt." - Jürgen: "Und wo ist der alte?" (Sieglinde Renz)
"Das ist doch für Menschen!"
Kinder äussern sich über Orte:
1. Wir wollen mit dem Wohnwagen in Urlaub fahren. Stolz erklärt Ela der Nachbarin: "Wir slafen dadrin und Papa ßiebt!"(2 Jahre) (Vera Krumsee)
2. Opa wird begraben. Holger: "Schläft Opa jetzt draussen?" (2 Jahre)
3. Susanne ist zum erstenmal am Meer. "Papi, und wo ist der Stöpsel?" (3 Jahre)
4. "Los hol den Ball. Du hast ihn doch weggeworfen!" - "Ich kann ihn nicht holen. Der Wald kitzelt so!" (4 Jahre) (Karin Schardt)
5. Im Kindergarten geht Martin auf die Toilette der Erzieherinnen. Jennifer sieht ihn herauskommen und erklärt ihm: "Da dürfen wir doch nicht drauf. Das ist doch für Menschen!" (4 Jahre) (Vera Krumsee)
"Meine Mama, die hat mich ausgesucht!"
Kinder über Mütter und Väter:
1. Unsere Tochter wusste mit vier Jahren, dass sie adoptiert worden war. Im Kindergarten spielte sie mit ihrer Freundin Familie. "Aber deine Mama ist ja gar nicht deine richtige Mama. Du bist ja bloss adiert!" - "Meine Mama, die hat mich ausgesucht - aber deine Mama, die musste dich einfach nehmen." (4 Jahre) (Gabriele Klink)
2. Der Vater kommt abends zur Tür herein. "Mama! Schon wieder ein Papa!" (4 Jahre) (Ruth Sonntag)
3. "Warum schenkst du der Mami Blumen und nicht mir?" - "Mami und Papi sind doch verheiratet, und seiner Frau schenkt ein Mann hin und wieder Blumen." - "Oh, Papi, es ist gut, wenn man als Frau geboren ist" (5 Jahre) (Harry Orzechowski)
(aus: N. Kühne: 30 Kilo Fieber - Die Poesie der Kinder, Ammann-Verlag, Zürich 1997)
Kindliche Orientierung und Techniken sprachlicher Gestaltung
Die Gedankengänge der Kinder gehen andere Wege als die der Erwachsenen. Bei der Beschreibung der Unterschiede tun wir uns oft schwer.
Schwerpunkte kindlichen Denkens:
In Unterscheidung der Wahrnehmung der Welt durch den Erwachsenen und auf dem Hintergrund der Kenntnis von weit über 1000 Kinder-Anekdoten, den Zeugnissen kindlicher Interpretationsweisen also, scheinen mir folgende Sachverhalte deutlich zu werden:
(1) Kindliche Wahrnehmung ist "offener" für Reize. Kinder sind den Reizen der sie umgebenden Welt aufmerksamer und - wie es scheint - unvoreingenommener zugewandt.
(2) Auf der Ebene der Bewertung des Wahrgenommenen scheint mir die größte Differenz zur Weltsicht des Erwachsenen zu liegen. Das hat mehrere Gründe:
- Das Kind hat nicht annäherungsweise den Wust an gesellschaftlichen Wertvorstellungen verinnerlicht, die ein Erwachsener selbstverständlich gespeichert hat - und mit denen er arbeitet. Nichts anderes wird auch von ihm erwartet. Eine - positive - Folge für das Kind ist zweifellos: Es kann freier denken und handeln.
- Die in der Auseinandersetzung mit der Welt erworbenen persönlichen Wertungen (und Normen) sind im Vergleich mit denen eines Erwachsenen minimal. Der Effekt ist mit dem o. a. vergleichbar.
- Die Techniken des Wertens und Normierens sind weitgehend noch nicht erlernt - und damit entfällt in vielen Fällen der komplizierte Vorgang des Wertens, was sich zum Beispiel in der beeindruckenden Spontaneität des Kindes zeigt, die der Kreativität äußerst förderlich zu sein scheint,
(3) so dass auf der Ebene des Handelns (bzw. der Handlungsplanung) und der Gestaltung (z. B. Sprechen) bedenken- und teilweise hemmungslos Energie "verpulvert" werden kann. "Gestaltungsorgien" können sich "ungebremst" entfalten und unterliegen nicht der Zensur durch das Erwachsenengehirn. Für die Kreativität sind es ungeahnte "Weiten", Räume freier, verspielter und lebensfroher Phantasie. Die Freiheit von vielen kuriosen Werten macht eben auch die Kreativität aus, führt zu unerwarteten neuen Lösungen, die häufig nach einer gewissen Zeit selbst zu (normativen) Maßstäben gemacht werden. In der sprachlichen Gestaltung vieler Kinderanekdoten bemerken wir außerdem, dass sich Kinder häufig nicht einmal von der normativen Kraft der Sprache beeindrucken lassen - sie verändern, wo ein Erwachsener eine Regel sieht; sie sind unbekümmert, wo Erwachsene den "Fehler" riechen; sie sprudeln vor lauter Ideen, wo Erzieher oder Eltern keine Alternative zur strengen Vorschrift der Sprache sehen. Kinder - die Poeten - erfinden selbst, was nötig ist, was ihnen gerade geeignet erscheint (siehe auch: David Crystal in "Cambridge Enzyklopädie der Sprache"; Steven Pinker: "Der Sprachinstinkt"; D. E. Zimmer: "So kommt der Mensch zur Sprache"). Die Fähigkeit zu erfinden und neu zu schaffen finden wir in sehr vielen sprachlichen Äußerungen unserer Kinder; die Kultur der Erwachsenen aber ist (offenbar) scharf darauf, diese spezifische Kompetenz durch institutionelle Schulung zu verschütten. Ein Armutszeugnis? Erwachsene können viel von Kindern lernen, wenn es um die Kreativität der Sprache geht.
(4) Die Rückmeldung des Erwachsenen wird in der Erziehung eine zentrale Rolle für die Aneignung und Entwicklung kreativer Interpretationen der Welt spielen. Ist sie von Eltern, Lehrern, Erwachsenen miesepetrig, moralinsauer und übellaunig organisiert, wird es das Kind schwer haben, der emanzipierte, kommunikative und kreative Mensch zu werden, der er - von seinen Möglichkeiten her - sein könnte. Die Kreativität wird entweder verschüttet, bewahrt oder gar gefördert. Unsere Verantwortung ist gefragt!
Untersucht man die konkreten Sprachäußerungen der Kinder (wie z. B. die Kinderanekdoten), so lassen sich deutlich verschiedene Techniken des Kindes herausarbeiten, die beim alltäglichen Denken bzw. bei alltäglichen Sprachäußerungen des Erwachsenen nicht mehr oder kaum noch vorhanden sind. Dieser Sachverhalt macht das deutlich, was wir die Kreativität des Kindes nennen, mit der Erwachsene häufig ihre geregelten Schwierigkeiten haben.
Hier nur ein paar Beispiele für die Techniken der Kinder, die Welt wahrzunehmen und sie zu interpretieren:
1. Die alternative Definition:
Das Element (Wort, Detail) wird aus dem gewohnten situativen Kontext herausgelöst, es wird der gängigen Definition "beraubt" und überraschend kombiniert mit neuen situativen Bedingungen. Fieber wird nicht in Grad-Einheiten gemessen sondern in "Kilo". Der "Mutterkuchen" wird, wie es der Name auch ankündigt, zum tatsächlichen Kuchen gemacht, den das Baby nach der Geburt "aufgegessen hat".
Ähnlich ist es bei: "Jetzt bin ich satt vom Lesen."
So sagt Saskia, als sich jemand (am Telefon) verwählt hat: "Die Sprache ist ausgelaufen."
2. Die normfreie Erläuterung:
Opa ist nicht gestorben sondern "kaputt gegangen". Deswegen kann "ein neuer gekauft" werden. Opa wird im Krankenhaus nicht geheilt - sondern "repariert".
3. Die Umkehrung pädagogischer Verhältnisse
ist zum Beispiel die Aufforderung an den Vater: "Mach Du erst mal Deine Promotion, danach kannst Du fernsehen". Oder der Wunsch der Mutter wird kategorisch abgelehnt: "Mama, Du kriegst kein Eis - Du wirst zu fett!"
4. Das sinnfreie Wortspiel
wird, das wissen viele Erwachsene noch aus ihrer Kindheit, häufig angeregt von Kinderreimen und Gedichten:
"... die Mutter schüttelt's Bäum allein, der Vater fällt im Traum hinein."
"Sankt Martin ist ein guter Mann, hat Kleider nicht hat Lumpen an."
5 Als normfreie Konfliktregulierung
könnte man bezeichnen, wenn Julius seinem Bruder ein Blatt aus dem Buch reißt, um es ihm zu lesen zu geben. Denn der Bruder hatte verlangt: "Darf ich auch einmal etwas in Deinem Buch lesen?"
6. Die absurde Überhöhung
könnte man Saskias Behauptung nennen, während ein Flugzeug über sie hinwegdonnert: "Der ist so laut, dass ich ihn nicht fliegen höre".
Vielleicht können wir auch Saskias Bemerkung hinzurechnen - Saskia scheint hierin besonders kompetent zu sein: "Ich schau relativ mit dem Mund in den Nachtisch."
Saskia hat noch etwas zu bieten: "Papa, ich hätte einen Termin mit einer Tomate."
7. Eine Wortneuschöpfung
ist das "Nilschwein". Ebenso der "Lappwaschen" (statt Waschlappen) und Cosimas "Kakiloke", die sie mir als Namen andreht.
8. Der Bedeutungstransfer:
Die Kinder "schnappen" mit den Fingern und kommentieren, sie "schnappten frische Luft".
Jungen sollen beim Pinkeln die Klobrille hochstellen. Ein Junge im Kindergarten schiebt daraufhin sein Brille von der Nase auf die Stirn, wenn er seine Blase entleert.
9. Eine Kombination konträrer Elemente
stellt Helgas Feststellung dar: "Ich hab ein Brüderchen bekommen, das heißt Karin."
10. Eine Sprachkritik
ist Achims Anmerkung: "... was soll das, ein Mitglied ohne Glied!"
Literatur
Kühne, Norbert: 30 Kilo Fieber, Ammann-Verlag, Zürich 1997
Adresse
Norbert Kühne
Email: kuehne.no@t-online.de
Weitere Publikationen
N. Kühne (Hrsg.) u.a.; Psychologie für Fachschulen und Fachoberschulen, 6. Auflage, Köln 1998
N. Kühne/P. Wenzel: Praxisbuch Pädagogik, Köln 2000
N. Kühne (Hrsg.) u.a.: Erziehungslehre - Berufsfachschule Kinderpflege, Köln 2000