Martin R. Textor
Der Mensch ist das anpassungsfähigste "höhere" Lebewesen auf der Erde - und das gilt in besonderem Maße für Babys und Kleinkinder. Egal ob in der Stein-, Bronze- oder Eisenzeit, ob im Altertum, im Mittelalter, in der Neuzeit oder in der Wissensgesellschaft der Gegenwart, egal ob in den Tropen, den Subtropen, der gemäßigten Zone oder den arktischen Regionen, egal ob in der christlichen, der islamischen, der buddhistischen oder der hinduistischen Kultur, egal ob Gesellschaften mit einem niedrigen oder einem hohen Grad der Technisierung - das Neugeborene ist für alle Lebensbedingungen offen. So entwickelt sich das Kind ganz unterschiedlich, je nachdem, in welche Epoche, Klimazone, Kultur und Wirtschaftsform es hineingeboren wurde.
Aber unter welchen psychischen Kosten erfolgte die Anpassung an die jeweilige Gemeinschaft, in der ein Kind aufwuchs? Oder konkreter und auf die Gegenwart bezogen: Kann ein Kind in Deutschland heute überhaupt glücklich sein - bei Entwicklungsbedingungen wie Ein-Kind-Familie, zerfallenden Familienstrukturen, überlasteten und erziehungsunfähigen Eltern, Arbeitslosigkeit und Armut, Migrationshintergrund, immer früher beginnender und länger dauernder Fremdbetreuung, einem schlechten Schulsystem, einem hohen Leistungsdruck, Mobbing und Jugendgewalt, einer kinderfeindlichen Umgebung, dem stundenlangen Sitzen vor Fernseher und Computer?
Die überraschende Antwort heißt: Ja! Kinder können sich nicht nur den derzeitigen, zumeist eher negativ dargestellten Lebensbedingungen anpassen, sondern sie sind auch in einem überraschend hohen Maße glücklich. So wurde bei der 1. World Vision Kinderstudie 2007, für die 1.592 Kinder im Alter von 8 bis 11 Jahren von TNS Infratest Sozialforschung befragt wurden, Folgendes ermittelt: "Fasst man die Einschätzung der Kinder zu den Freiheiten in der Familie, zum Bezug auf die Schule sowie zur Größe des Freundeskreises zusammen, so fühlen sich 59% der Kinder sehr wohl, 29% wohl und 12% unwohl" (Leven 2007, S. 13). Mädchen und Kinder aus höheren sozialen Schichten fühlten sich besser als Jungen und Kinder aus der Unterschicht bzw. der unteren Mittelschicht.
Die ZDF-Glücksstudie
Noch positiver waren die Ergebnisse der glückspsychologischen Studie des ZDF (Bucher 2009), für die 1.239 Kinder im Alter von 6 bis 13 Jahren, 1.104 Mütter und 128 Väter vom Münchner Institut iconkids & youth im Frühjahr 2007 interviewt wurden. Hier bezeichneten sich 40,4% der Kinder als total glücklich, 44,2% als glücklich, 13,7% als weder glücklich noch unglücklich, 1,4% als unglücklich und 0,2% als sehr unglücklich. Fast 85% der Kinder erlebten sich also als glücklich!
Als etwas glücklicher erwiesen sich
- jüngere Kinder im Gegensatz zu älteren,
- Grundschüler und Gymnasiasten im Vergleich zu Real- und Hauptschülern,
- eher extravertierte Kinder,
- Kinder mit einem relativ hohen Selbstbewusstsein,
- Kinder, die mit beiden Eltern zusammenlebten, im Gegensatz zu Kindern aus Teil- und Zweitfamilien,
- Kinder, deren Väter ganztags arbeiteten,
- Kinder, deren Mütter Teilzeit beschäftigt waren, im Gegensatz zu Kindern, der Mütter Hausfrauen waren oder Vollzeit arbeiteten,
- Kinder, die in einem (Einfamilien-, Doppel-, Reihen-) Haus und nicht in einer Wohnung aufwuchsen, sowie
- Kinder, die einen Garten nutzen konnten.
Als weniger glücklich erfuhren sich
- Kinder mit zwei und mehr Geschwistern (insbesondere wegen mehr Streitigkeiten), während Einzelkinder und Kinder mit einem Geschwister gleich glücklich waren,
- eher introvertierte Kinder,
- Kinder, deren Väter Arbeiter waren,
- Kinder aus Familien mit einem Haushaltsnettoeinkommen von weniger als 1.500 EUR,
- Kinder, die in der Freizeit viel am Computer bzw. der Spielkonsole saßen,
- Kinder, die ihre Wohnverhältnisse als beengt einschätzten, sowie
- Kinder, die ihre Wohnumgebung als laut und gefährlich erlebten.
Im Gegensatz zur 1. World Vision Kinderstudie war das Glücksempfinden bei Mädchen und Jungen gleich ausgeprägt. Dasselbe galt bei der ZDF-Glücksstudie für Kinder aus West- versus solche aus Ostdeutschland, für Stadt- versus Landkinder, für Kinder mit älteren versus solchen mit jüngeren Eltern, für Kinder mit höher gebildeten versus solchen mit weniger gebildeten Eltern, für Kinder mit hohem versus solchen mit niedrigem Taschengeld sowie für deutsche Kinder im Vergleich zu solchen mit Migrationshintergrund.
Als Begründungen für ihren Gemütszustand führten die glücklichen Kinder spontan an, dass sie beispielsweise ein gutes Zuhause hätten, einen großen Freundeskreis besäßen, gerne in die Schule gingen, gute Noten bekämen, tolle Hobbys hätten, stets gut gelaunt seien und viel Spaß erleben würden. Unglückliche Kinder nannten als Begründung, dass sie z.B. die Schule als langweilig und fad empfänden, schlechte Noten hätten, von den Eltern unter Leistungsdruck gesetzt würden, Streit mit Geschwistern hätten, keine Freunde fänden und oft gehänselt würden. Auch hätten ihre Eltern keine Zeit für sie oder würden getrennt voneinander leben.
In diesen spontanen Äußerungen zeigten sich bereits alle Faktoren, die sich bei der ZDF-Glücksstudie nach vielen statistischen Berechnungen als für das Kindheitsglück relevant erwiesen: "Es ist - und es bleibt - die Familie, die den nachhaltigsten Effekt auf Kinderglück zeitigt. Kinder sind glücklich, wenn sie daheim gelobt werden, wenn sie spüren, dass ihnen Vater und Mutter Liebe zeigen, zuhause gelacht, mit ihnen gemeinsam gespielt oder gelernt wird" (Bucher 2009, S. 170). Mit zunehmendem Alter berichteten die Kinder jedoch seltener, dass sie jeden Tag gelobt wurden, täglich mit den Eltern spielten und die Mütter ihre Liebe für sie zeigten - wichtige Gründe dafür, wieso ältere Kinder generell etwas weniger glücklich als jüngere waren.
Den zweitgrößten Einfluss auf das Glücksempfinden übten Selbstwert und Extraversion aus. So galt beispielsweise: "Bei stark extravertierten Kindern ist die Wahrscheinlichkeit mehr als viermal höher, dass sie sich für 'total glücklich' halten, als wenn sie wenig extravertiert sind" (a.a.O., S. 165).
An dritter Stelle folgte die Schule: Glücklicher war, wer positive Erfahrungen mit den Lehrern machte, einen spannenden Unterricht erlebte und sich an diesem viel beteiligte. Dies galt eher für Grundschüler und Gymnasiasten als für Real- und Hauptschüler. Auch gingen Kinder mit zunehmendem Alter seltener sehr gerne zur Schule und erlebten den Unterricht seltener als sehr spannend - weitere wichtige Gründe dafür, wieso ältere Kinder etwas weniger glücklich als jüngere waren.
Als viertstärkster Prädiktor für Kinderglück erwies sich die Familienform: "Zwar ist weit mehr als die Hälfte der Alleinerzogenen grundsätzlich glücklich, knapp 20% 'total'; aber Kinder bei beiden Eltern sind noch glücklicher, mehr als doppelt so oft 'total'" (a.a.O., S. 170).
An fünfter Stelle folgten Freundschaften und Freizeitbeschäftigungen: Glücklicher war, wer genug Freizeit hatte, sich oft mit Freunden traf, viel draußen im Freien war und Plätze kannte, wo man ungestört ist.
Die Eltern beurteilten übrigens das Glücksempfinden ihrer Kinder weitgehend entsprechend deren Selbsteinschätzung. Sie hatten auch ein gutes Gespür dafür, was ihre Kinder glücklich macht.
Das Kindheitsglück nimmt zu
Kinder sind aber nicht nur in hohem Maße glücklich - sie scheinen auch immer glücklicher zu werden: Beim Generationen-Barometer 2009 des Instituts für Demoskopie Allensbach (Köcher 2009) gaben nur 49% der 60-Jährigen und Älteren an, dass sie eine glückliche Kindheit hatten, aber 55% der 45- bis 59-Jährigen, 64% der 30- bis 44-Jährigen und sogar 67% der 16- bis 29-Jährigen. Je jüngerer also die Befragten waren, umso glücklicher hatten sie die eigene Kindheit erlebt - und mit Bezug auf die ZDF-Glücksstudie kann man wohl sagen, dass sich dieser Trend fortsetzt.
Beim Generationen-Barometer 2009 wurde übrigens erneut deutlich, dass Kindheitsglück in hohem Maße mit dem elterlichen Verhalten zusammenhängt: Je jünger die befragten Erwachsenen waren, umso häufiger sagten sie, dass ihre Eltern
- immer sehr liebevoll zu ihnen waren,
- ihnen viel Aufmerksamkeit zukommen ließen,
- ihnen viel geboten hatten,
- ihre Interessen stark gefördert hatten,
- sie oft lobten,
- ihnen viel Entscheidungskompetenz zusprachen,
- sie nicht streng erzogen und
- ihnen gegenüber keine körperliche Gewalt (Prügel, Ohrfeigen) ausübten.
Obwohl Eltern heute seltener als früher vor Ort erwerbstätig sind und mehr Mütter ihren Beruf ausüben, haben sie laut dem Generationen-Barometer 2009 mehr Zeit für ihre Kinder: Während nur 10% der 60-Jährigen und Älteren meinten, dass sich ihre Väter genug Zeit genommen hätten, um mit ihnen zu spielen und sich mit ihnen zu unterhalten (54% nicht genügend Zeit, 26% teils, teils), waren 34% der 16- bis 19-Jährigen dieser Meinung (31% nicht genügend Zeit, 31% teils, teils). Nach Meinung der ältesten Generation hatten in ihrer Kindheit nur 38% der Mütter genügend Zeit für sie (32% nicht genügend Zeit, 28% teils, teils); bei der jüngsten (befragten) Generation waren es hingegen 63% der Mütter (19% nicht genügend Zeit, 18% teils, teils).
Trotz aller Unkenrufe scheint es also aufwärts mit dem Glück in der Kindheit - und vielleicht auch mit dem Glück in der Gesellschaft als Ganzes - zu gehen. Dies wird auch deutlich, wenn wir zurück in die Geschichte der Menschheit blicken, wie dies Holzem (2007) tat: Er verwies zunächst auf die prekäre Lebenssituation der vormodernen Familie, die mehr schlecht als recht ihren Lebensunterhalt erwirtschaftete, in der viele Mütter (nach der Entbindung) starben - was zu der großen Zahl von Teil- und Zweitfamilien führte - und etwa die Hälfte der Kinder das Erwachsenenalter nicht erreichte, und wo Kinder schon früh als Arbeitskräfte angelernt wurden. "Nehmen wir die Elite-Familien des christlichen Adels vor und nach 1800 dazu: Seine Nachkommenschaft erziehen Ammen, Gouvernanten, Hauslehrer - Dienstboten eben. Memoiren und Literatur sprechen Bände über die emotionalen Folgen dieses Systems" (S. 147).
Holzem (a.a.O.) fuhr dann fort: "Wir können das Bild problemlos um die Familie des industriellen Zeitalters zwischen 1850 und 1950 ergänzen: In den Unterschichten ... arbeiten Männer wie Frauen in 12-Stunden-Schichten in Dreck, Lärm, Gestank, Dunkelheit und steter Lebensgefahr. Ein Zuhause, dahin zu gehen sich lohnen würde, haben sie nicht. Ihre Kinder erziehen sich selbst, auf der Straße, bevor sie früh in die gleiche Welt eintreten. ... In bäuerlichen Familien dauern die Lebensbedingungen der Frühen Neuzeit bis um 1900 fast unverändert fort. Jenseits der Unterschicht und der Landbevölkerung werden Handwerkerfamilien von der industriellen Produktion an den Rand gedrängt; Männer und Frauen kämpfen mit überbordender Erwerbsarbeit den Kampf gegen den sozialen Abstieg..." (S. 147). Und selbst in den bürgerlichen Familien mit ihrer strengen Hierarchie und geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung bleibt aufgrund der hohen Anforderungen an die (kaum technisierte) Haushaltsführung letztlich wenig Zeit für die Kinder...
Dann verwies Holzem noch auf die beiden Weltkriege, die unendliches Leid mit sich brachten, und auf die "väterlosen" Kinder der Trümmerfrauen, die bis zum Umfallen arbeiteten. Da vergehen dem Leser jegliche Schönfärberei der Vergangenheit und jeder nostalgische Blick zurück: Die beim Generationen-Barometer 2009 befragten Erwachsenen haben im Gegensatz zu vielen Sozialwissenschaftler erkannt, dass heute Kinder besser und glücklicher aufwachsen als früher...
PISA 2018 (Nachtrag)
Bei der repräsentativen PISA-Studie wurden 15-Jährige in verschiedenen Ländern nicht nur hinsichtlich ihrer Schulleistungen verglichen, sondern auch bezüglich ihrer Lebenszufriedenheit (OECD 2020). Auf einer Skala von 1 (sehr unzufrieden) bis 10 (sehr zufrieden) erreichten deutsche Schüler/innen einen Durchschnittswert von 7,02, was knapp unter dem Durchschnittswert für alle OECD-Länder in Höhe von 7,04 lag. Etwas mehr als zwei Drittel der deutschen 15-Jährigen empfanden einen Sinn oder Zweck in ihrem Leben. Dieser Wert entsprach in etwa dem OECD-Durchschnitt, war somit aber viel niedriger als in anderen Ländern.
In den 30 untersuchten OECD-Ländern erreichten mexikanische 15-Jährige hinsichtlich ihrer Lebenszufriedenheit mit 8,11 den höchsten Durchschnittswert und türkische Jugendliche mit 5,62 den niedrigsten. Letzterer war auch der niedrigste Wert, wenn man zusätzlich die 30 Partnerländer berücksichtigt, die sich ebenfalls an der PISA-Studie 2018 beteiligt hatten. Hier gaben aber 15-Jährige in den Ländern Kasachstan mit 8,76, Albanien mit 8,61, Kosovo mit 8,30 und Nordmazedonien mit 8,16 eine noch größere mittlere Lebenszufriedenheit an als die mexikanischen Jugendlichen (8,11).
Im Gegensatz zu dem vorausgegangenen Abschnitt wurde bei der PISA-Studie 2018 aber eine Abnahme bei der durchschnittlichen Lebenszufriedenheit von 15-Jährigen in nahezu allen Ländern im Vergleich zu den Ergebnissen von PISA 2015 verzeichnet - z.B. bei den untersuchten OECD-Ländern um 0,30 Punkte. In Deutschland war dieser Rückgang mit 0,33 noch etwas stärker ausgeprägt.
Laut UNICEF (2020) gaben 75% der 15-Jährigen in Deutschland an, mit ihrem Leben sehr zufrieden zu sein. Damit lagen sie im Vergleich mit den Jugendlichen in weiteren 37 Ländern auf dem 16. Platz, weit abgeschlagen gegenüber Jugendlichen in den Niederlanden (90% sehr zufrieden), in Mexiko (86%) und Rumänien (85%). Am seltensten als sehr zufrieden mit ihrem Leben bezeichneten sich Schüler/innen in der Türkei (53%), in Japan (62%) und in Großbritannien (64%).
Sehr unglücklich - und gar selbstmordgefährdet - sind aber nur wenige Jugendliche. So lag Deutschland laut UNICEF (2020) mit einer Selbstmordquote von 4,4 auf 100.000 15- bis 19-Jährige im Vergleich zu 40 anderen Ländern auf dem 13. Platz (Durchschnittswert für die Jahre 2013 bis 2015). Am niedrigsten waren die Selbstmordquoten in Griechenland (1,4), Portugal (2,1) und Israel (2,2), am höchsten in Litauen (18,2), Neuseeland (14,9) und Estland (13,9).
So ist abschließend festzuhalten, dass die weitaus meisten Kinder und Jugendliche in Deutschland mit ihrem Leben zufrieden sind - dass es aber auch viele andere Länder gibt, in denen sich junge Menschen noch häufiger als glücklich erleben...
Literatur
Bucher, A.: Was Kinder glücklich macht? Eine glückspsychologische Studie des ZDF. In: Markus Schächter (Hg.): Wunschlos glücklich? Konzepte und Rahmenbedingungen einer glücklichen Kindheit. Baden-Baden: Nomos 2009, S. 94-195
Holzem, A.: Familienbilder. Bischof Mixa, Familienministerin von der Leyen und die Geschichte der Familie. Theologische Quartalschrift 2007, 187 (2), S. 146-148
Köcher, R.: Generationen-Barometer 2009. In: https://docplayer.org/23553042-Generationen-barometer-2009.html (17.09.2021)
Leven, I.: Was Kinder wollen. Die Ergebnisse der 1. World Vision Kinderstudie. Stimme der Familie 2007, 54 (11/12), S. 8-13 (siehe auch http://www.worldvisionkinderstudie.de)
OECD: Students’ life satisfaction and meaning in life. In: OECD: PISA 2018 Results (Volume III): What School Life Means for Students’ Lives. Paris: OECD Publishing 2020, S. 153-173. https://www.oecd-ilibrary.org/students-life-satisfaction-and-meaning-in-life_c414e291-en.pdf?itemId=%2Fcontent%2Fcomponent%2Fc414e291-en&mimeType=pdf
UNICEF: Worlds of Influence - Understanding What Shapes Child Well-being in Rich Countries. Innocenti Report Card 16. Florenz: UNICEF Office of Research - Innocenti 2020 https://www.unicef.de/download/225188/97db88722f2f78a1db7cfd46956014d8/report-innocenti-report-card-16---pdf-data.pdf