Aus: BMW Group (Hrsg.):
Kleine Kinder - Große Begabung. Hoch begabte Kinder erkennen und fördern. Möglichkeiten und Grenzen des Kindergartens. München: BMW Group 2000, S. 11-18
Franz J. Mönks
Die Begriffe Begabung, Hochbegabung, Talent oder hohe Fähigkeit (high ability) verwenden wir synonym. Das ist international durchaus üblich, wenngleich eine Hand voll Autoren gerne einen Unterschied macht zwischen Begabung als Anlagepotenzial und Talent als realisierte Anlage. Die Begriffe Genie, Wunderkind und Elite werden in der gegenwärtigen Begabtenliteratur kaum noch verwandt. Der Elitebegriff wird immer wieder in die Diskussion einbezogen, vor allem von Gegnern einer organisierten Begabtenförderung. Unter Elite wird dann eine kleine, "von der Natur" bevorrechtete Gruppe verstanden, die eigentlich schon alles hat. Und wer schon alles hat, wer hoch begabt ist, braucht nicht noch mehr zu bekommen. Ein derartiger Einwand ist verständlich, wenn man in einer demokratischen Gesellschaft Gleichheit unter den Menschen nachstrebt. Ein Spannungsfeld zwischen Egalitarismus und Elitismus wird wohl immer in einer demokratischen Gesellschaft bestehen. Nach Henry (1994; In Defense of Elitism) besteht von jeher in den Vereinigten Staaten ebenso wie in Europa eine Gegensätzlichkeit zwischen Elitismus und Egalitarismus. Dieser ungleiche "Kampf" geht immer wieder zugunsten des Egalitarismus aus. Folge muss dann sein: ein Verfall von Gütemaßstäben. Nach Henry sind die Begriffe "elitist" und "racist" abwertende Begriffe. Noch deutlicher äußert sich Roger Kimball, wenn er im New York Times Book Review sagt: "Was Gemeinheit betrifft, rangiert "elitist" als Schimpfwort gerade unter "racist" und vielleicht um Haaresbreite über "sexist". Es ist ein Konversationskiller, ein ideologischer Molotow-Cocktail" (s. Mönks, 1996, S. 220).
Henry definiert Elitismus mit folgenden oder ähnlichen Umschreibungen: "Wertschätzung von Leistung"; "rationale Einstellung und wissenschaftliche Weitsicht"; manche Ideen sind besser als andere"; "Aufrechterhaltung von objektiven Gütemaßstäben"; die Bereitschaft, kompromisslos zu verteidigen, dass bestimmte Ideen, Beiträge oder Errungenschaften besser sind als andere"; manche Kulturen - auch wenn wir es kaum zu sagen wagen - einen höheren Entwicklungsstand erreicht haben" (s. Mönks, 1996).
Es ist evident, dass wir Gleichheit für alle Menschen brauchen, Gleichheit im Sinne von gleichen Möglichkeiten, von Chancengleichheit. Dies bedeutet jedoch nicht, dass alle Menschen über gleiche Fähigkeiten verfügen. Das Prinzip der Gleichheit soll nicht verhindern, dass die Leistungsstärkeren und -willigeren einer Gesellschaft am Durchschnitt gemessen werden. Welche absurde eine falsche Interpretation von Chancengleichheit haben kann, zeigt folgendes Beispiel: Eine Taubstumme meldete sich zu einem Redewettbewerb an und wurde auch angenommen im Zuge der Chancengleichheit. Folge war, dass der Redewettbewerb, wegen der krassen Unfähigkeitslage, letztlich nicht stattfand (s. Henry, 1994).
Jede Gesellschaft hat Menschen nötig, die mehr schaffen, die kreativer und denkfähiger sind als der Durchschnitt. Die besonders Begabten einer Gesellschaft müssen daher nicht ausgeschlossen oder in ihrer Entwicklung gebremst werden, sondern auch sie sollen sich entsprechend ihren Fähigkeiten von klein auf an entwickeln können, in dem sie richtig gefördert werden.
Was ist richtige Förderung?
Menschliche Entwicklung ist ein dynamischer und lebenslanger Prozess. Sie ist das Resultat von unzählbaren Interaktionen zwischen individueller Anlage und sozialer Umgebung, Umgebung im Kleinen wie im Grossen (Mönks & Knoers, 1996). Wird nun beispielsweise ein musikalisch begabtes Kind in eine amusische oder gar musikfeindliche Umgebung hineingeboren, dann werden die guten Talente nicht oder unvollständig entwickelt. Daher erforscht die Entwicklungspsychologie die Veränderungsprozesse des menschlichen Verhaltens in ihrem Bedingungsgefüge, systematisiert die gewonnenen Einsichten und Erkenntnisse, so dass sie in Erziehung und Unterricht anwendbar sind. Dies bedeutet auch, dass Praxis und Wissenschaft sich gegenseitig nötig haben. Aus der Praxis kommen die relevanten Fragestellungen und die Wissenschaft versucht, theoretisch und empirisch begründete Antworten zu finden. Hier erhebt sich die Frage, kann die heutige Entwicklungspsychologie darlegen, welche besonderen Entwicklungs- und Lernbedürfnisse begabte Kinder haben? Diese Wissen ist nötig, um individuell "richtig" zu fördern.
Ein jeder weiß, dass schon in der frühesten Kindheit Interaktionserfahrungen prägend für das weitere Leben sein können. So hat das Kind von Natur her den Drang, die Umgebung aktiv zu erforschen, manipulierend mit den Gegenständen umzugehen und neue Erfahrungen in sich aufzunehmen. Natürlich gibt es hier große interindividuelle Unterschiede. Erfährt nun ein Kleinkind Tag für Tag, dass es zu nichts imstande ist, weil der Erzieher keinen Entwicklungsraum bietet, wird das Kind zunehmend eine äußere Kontrollüberzeugung aufbauen, d.h. die Selbständigkeit und das Selbstwertgefühl wird unterminiert. Erfährt es dagegen Ermunterung und Zuspruch und außerdem noch warme Zuwendung, dann kann sich die innere Kontrollüberzeugung entwickeln, d.h. ein positives Selbstbild und realistische Einschätzung des eigenen Könnens.
Unterschiede erkennen und anerkennen
Der viel zitierte Ausspruch "es gibt kein größeres Unrecht als die gleiche Behandlung von Ungleichen" trifft genau den Kern des - immer noch - brisanten Themas der "Hochbegabung". Auffallend ist, dass Pädagogen und Psychologen immer wieder auf den Notstand hinsichtlich der Begabtenförderung im Bildungswesen hingewiesen haben. So weisen die Reformpädagogen bereits zu Anfang des 20. Jahrhunderts in einem Buch (Der Aufstieg der Begabten) auf die Notwendigkeit der Begabtenförderung hin (s. Petersen, 1916). Der Hamburger Psychologie Professors William Stern (1871-1938) sagt in seinem Beitrag "Psychologische Begabungsforschung und Begabungsdiagnose" u.a. Folgendes: "Begabungen an sich sind immer nur Möglichkeiten der Leistung, unumgängliche Vorbedingungen, sie bedeuten noch nicht die Leistung selbst" (S. 110). Eine aus heutiger Sicht durchaus zutreffende und moderne Definition. Weiterhin sagt er: für 2% Höchstbegabte und weitere 10% Hochbegabte sollen in der Volksschule "erweiterte Ausbildungsgelegenheiten " geschaffen werden (S. 109). Heutzutage wird diese Erweiterung unter den Begriffen Akzeleration und Enrichment zusammengefasst.
Die jährliche Geburtsrate in Deutschland beträgt etwa 770.000. Dies bedeutet, dass in Deutschland jährlich etwa 80.000 Kinder geboren werden, die sich mehr Lehrstoff in einem schnelleren Tempo zu Eigen machen könnten, wenn das Curriculum nicht auf den Durchschnitt abgestimmt wäre. Es handelt sich also nicht um Einzelfälle oder eine kleine elitäre Gruppe, sondern um eine große Gruppe von Kindern, die begabt bis sehr begabt sind. Warum wurden diesen Kindern bisher vorenthalten, worauf sie Anspruch haben: schulische Förderung, die ausgeht von individuellen Lern- und Entwicklungsbedürfnissen.
Heute können wir feststellen, dass die Reformpädagogen mit ihren Ideen und Vorschlägen ihrer Zeit weit vorauseilten. Tatsache ist nämlich, dass wir beim Ausklang des 20. Jahrhunderts sagen können: endlich wird nun ein Anfang mit systematischer schulischer Begabtenförderung gemacht. Es hat fast ein Jahrhundert gedauert, bis sich auch bei Bildungspolitikern die Einsicht eingestellt hat, dass auch Begabte und Talentierte Anspruch haben auf schulische Bildung, die ihren Fähigkeiten entsprechen. Und wir können zum Beginn des neuen Milleniums mit Genugtuung feststellen, dass das Thema Hochbegabung deutlich an Brisanz verloren hat. Das ist darauf zurückzuführen, dass Eltern, Lehrer, Wissenschaftler und Bildungspolitiker mehr und mehr davon überzeugt wurden, dass Begabungsforschung und Begabtenförderung keine Elitenförderung ist, sondern eine gesellschaftliche Pflicht und Notwendigkeit. Unterricht soll allen Begabungsniveaus und Begabungsschwerpunkten gerecht werden. Wie evident diese Forderung ist, zeigt auch die Curriculumforschung. So wird in dem tonangebenden amerikanischen Lehrbuch zur Curriculumentwicklung (Sowell, 1996) u.a. gesagt, dass zu jedem Curriculum die soziale Wirklichkeit gehört, d.h. gesellschaftliche Bedürfnisse bestimmen die Inhalte eines Curriculums. In gleicher Weise bildet auch die individuelle Selbstverwirklichung, d.h. die maximale Entwicklung des individuellen Potentials zur inhaltlichen Gestaltung des Curriculums. Inhaltliche Ursprünge des Curriculums bilden in gleicher Weise gesellschaftliche und individuelle Bedürfnisse. Eine derartige wissenschaftliche Grundauffassung neutralisiert die Brisanz des Themas Hochbegabung. Hierzu trägt auch die Empfehlung 1248 zur Begabtenförderung bei, die im Jahre 1994 vom Europaparlament verabschiedet wurde.
Seit dem ersten kontinental-europäischen Kongress im Jahre 1980 in Hamburg, zum Thema Das hoch begabte Kind: medizinisch, psychologisch und pädagogisch, ist dieses Thema zunehmend akzeptiert worden und wurden europaweit Maßnahmen ergriffen, um den wissenschaftlichen und erzieherisch-unterrrichtlichen Rückstand auf diesem Gebiet wettzumachen. Augenblicklich herrscht in den meisten europäischen Ländern ein Drang nach der Verwirklichung von schulischer Begabtenförderung, und manche meinen hierin einen wahren Boom zu erkennen. In diesem Aufarbeitungsprozess kamen und kommen folgende thematische Schwerpunkte zutage:
- Wie oder woran erkennt man (Hoch-)Begabung? Frage nach der Identifikation;
- Wie können in der Schule und Familie die intellektuellen Ansprüche und andere überdurchschnittliche Begabungen so gefördert werden, dass auch eine harmonische sozial-emotionale Entwicklung gewährleistet ist?
- Wie können Lehrer lernen, den besonderen Entwicklungs- und Lernbedürfnissen talentierter Schüler entgegenzukommen?
- Wie kann Begabtenförderung in der Regelschule verwirklicht werden?
- Wie können Bildungspolitiker, Wissenschaftler und Lehrer "sensibilisiert" werden für die Anrechte begabter Kinder?
- Wie können all diejenigen, die sich erzieherisch und/oder mit Begabtenförderung befassen (müssen), zielgerichtet informiert und geschult werden?
Es geht letztlich um Differenzierung des Lehrstoffangebotes und um individuell-gerechte Förderung. Die Entmythologisierung des Themas Hochbegabung hat zu einer Versachlichung der Diskussion geführt. Dies ist eine Grundvoraussetzung für die Realisierung von strukturellen Lösungen. Trotz der weiter oben als wahrscheinlich unvermeidlich dargestellten Spannung zwischen Egalitarismus und Elitismus, kann zu Beginn des neuen Jahrhunderts festgehalten werden: die reformpädagogische Bewegung bildet die Grundlage der nicht mehr aufzuhaltenden Bewegung der Begabtenförderung. Pädagogische Veränderungen werden von Menschen herbeigeführt. Notwendige Veränderungen stellen sich nur dann ein, wenn Optimismus und zielorientierte Durchhaltefähigkeit mit im Spiele sind.
Literatur
Henry, W.A.3rd (1994). In Defense of Elitism. New York: Doubleday.
Mönks, F.J. (1966). Elite-Debatte im Scheinwerfer. Psychologie in Erziehung und Unterricht, 43. Jg., S.219-224.
Mönks, F.J. & Knoers, A.M.P. (1966). Lehrbuch der Entwicklungspsychologie. München: Reinhardt.
Petersen, P. (Hrsg.) (1916). Der Aufstieg der Begabten. Leipzig: Teubner.
Sowell, E.J. (1996). Curriculum - An Integrative Introduction. Englewood Cliffs, NJ: Prentice Hall.
Stern, W. (1916). Psychologische Begabungsforschung und Begabungsdiagnose. In P. Petersen (Hrsg.), Der Aufstieg der Begabten (S.105-120). Leipzig: Teubner.