Grundlagen der Bindungstheorie

Susanne Stegmaier

Der englische Kinderpsychiater und Psychoanalytiker John Bowlby begründete in den 1950er Jahren die Bindungstheorie (Bowlby 1958). Entgegen Freuds Triebtheorie, dass sich ein Säugling durch die orale Triebbefriedigung während des Stillens an seine Mutter binde, postulierte Bowlby ein biologisch angelegtes Bindungssystem. Er wandte sich zunehmend gegen traditionelle psychoanalytische Modelle, welche sich mit dem kindlichen Phantasieleben beschäftigten und die Auswirkung realer Traumata durch Trennung nicht anerkannten. Ethnologische Studien zur frühen Prägung im Tierreich, die Untersuchung von Harlow an Rhesusaffen sowie die Deprivationsstudien von René Spitz bestätigten seine eigenen klinischen Beobachtungen von Gefühllosigkeit bei einigen Kindern und Jugendlichen als Auswirkung von Trennungstraumata. Nach dem 2. Weltkrieg beauftragte die WHO Bowlby, die psychische Entwicklung von Kriegswaisen und deren elementare Bedürfnisse zu erforschen. Seine Ergebnisse teilte er in seiner Arbeit "Maternal care and mental health" 1951 mit (Bowlby 1958) und berichtete ausführlich über die Auswirkungen mangelnder mütterlicher Fürsorge. Er lieferte einen wichtigen Beitrag zur entwicklungsgerechten Betreuung von Kleinkindern in Heimen und Kliniken.

Bowlbys Theorie besagt, dass der Säugling das angeborene Bedürfnis hat, in bindungsrelevanten Situationen die Nähe, die Zuwendung und den Schutz einer vertrauten Person zu suchen. Die Entwicklung der Bindungsverhaltensweisen beginnt gleich nach der Geburt und dient dazu, bei Bedarf die Nähe zur Bindungsperson herzustellen. Der Säugling sichert sich mit seinem angeborenen Verhaltensrepertoire im ersten Lebensjahr die Nähe seiner Bezugsperson, zu welcher er ein interaktives Bindungssystem aufbaut. Das Bindungsverhalten zeigt sich insbesondere im Suchen der Bindungsperson, im Weinen, Nachlaufen, Festklammern an derselben und durch Protest, Ärger, Verzweiflung und Trauer sowie emotionalen Rückzug und Resignation beim Verlassenwerden. Es wird durch Trennung von der Bindungsperson sowie durch äußere oder innere Bedrohung, Schmerz und Gefahr aktiviert. Die wichtigste Funktion der Bindungsperson ist es, den Säugling bzw. das Kind in Situationen von Bedrohung zu schützen und ihm emotionale und reale Sicherheit zu geben. Ein kybernetisches Verhaltenssystem reguliert das kindliche Bindungsstreben; dieses hat gegenüber dem Explorationsstreben des Kindes Priorität und wird durch Angst, Schmerz und Müdigkeit aktiviert und durch die Nähe der Bindungsperson deaktiviert. Erst wenn das Bindungsbedürfnis durch eine sichere emotionale Basis befriedigt ist, wird Explorationsverhalten möglich. Dieser Drang die Umwelt zu erkunden ist antithetisch zum Bindungsverhalten und nimmt im Alter von ca. zwei Jahren deutlich zu, wobei sich das Kind wiederholt bei der Mutter durch Blicke oder auch Körperkontakt rückversichert. Komplementär zum Bindungsverhalten ist die elterliche Fürsorge und Pflege. Es besteht eine reziproke präadaptive Anpassung zwischen Kind und sozialer Umwelt (Bowlby 1995).

Im Gegensatz zu sekundärtriebtheoretischen Konzepten wie bei Freud ist Bindung ein Primärbedürfnis. Das Bindungssystem ist ein relativ eigenständiges Motivationssystem, welches als evolutionäres Erbe von Geburt an bis ins hohe Alter wirksam ist. Sein ausführliches theoretisches Konzept veröffentlichte Bowlby in seiner Trilogie "Bindung" (1975), "Trennung" (1976) und "Verlust, Trauer und Depression" (1978).

Das klinisch formulierte Konzept Bowlbys wurde durch die empirischen Untersuchungen seiner Mitarbeiterin Mary Ainsworth erst richtig akzeptiert, und erst aufgrund der Ausweitung der Bindungstheorie von der Verhaltens- auf die Repräsentationsebene erlangte es vermehrten Einfluss auf die Psychoanalyse.

Das Konzept der Feinfühligkeit

Das Konzept der Feinfühligkeit der Bindungsperson gegenüber den Signalen des Kindes wurde von Mary Ainsworth durch ihre Forschungsarbeiten entdeckt. Für die Entwicklung einer sicheren Bindung ist es wichtig, dass sich die jeweilige Bindungsperson dem Kind gegenüber feinfühlig verhält. Dies bedeutet, dass sie die kindlichen Verhaltensweisen wahrnimmt, die Signale des Kindes richtig interpretiert und angemessen und prompt, entsprechend dem Alter des Säuglings, auf die Bedürfnisse des Kindes reagiert. Das so versorgte Kind entwickelt allmählich ein Gefühl der Tüchtigkeit und Selbstbestimmung, weil seine Bindungswünsche als auch seine Neugier-Impulse verstanden und akzeptiert werden. Eine feinfühlige Bindungsperson ist also in der Lage, die teilweise sehr unspezifischen kindlichen Signale wahrzunehmen und unabhängig von der eigenen Bedürfnislage zu erschließen. Da die intrapsychische Regulierungsfähigkeit des Kindes mit dem Alter kontinuierlich zunimmt, muss sich das elterliche Unterstützungsverhalten beständig daran anpassen. Unter diesen Voraussetzungen entwickelt das Kind eine sichere Bindung an die Mutter.

Die feinfühlige Betreuung entfaltet sich dann, wenn die Bezugsperson das Kind als "intentionales Wesen" (Dennett 1978) wahrnimmt. Diese Haltung wird nonverbal vermittelt. Hier spielt das "affect attunement" (Stern) eine Rolle: Mutter und Kind stimmen sich affektiv aufeinander ein. Dabei ist es wesentlich, dass die Bindungsperson im zeitlich für das Kind richtigen Rhythmus das Angemessene tut, also seinen Affekt teilt, sowie dessen Verlaufsstruktur und Intensität. Je näher sie dabei dem Eigenrhythmus des Kindes kommt, desto eher erlebt es seine eigene Effektanz. Dabei kommt es auch bei gut eingespielten Mutter-Kind-Paaren laufend zu "mismatching", die dann permanent "repariert" werden (Köhler 1996). In Still-Face-Anordnungen wurden die Copingmechanismen, deren sich bereits drei bis sechs Monate alte Kinder bedienen, untersucht. Es konnte gezeigt werden, dass in dem Ausmaß, wie es dem Säugling gelingt, den unterbrochenen Dialog zur Bindungsperson wieder herzustellen, sein Effektanzerleben steigt und dies in der Folge zur Ausbildung eines positiv getönten affektiven Kerns beiträgt.

Ein Kind, dem es wiederholt nicht gelingt, den affektiven, dyadischen Austausch mit seiner Bindungsperson wieder herzustellen, erfährt seine Wirkungslosigkeit und erlebt negative Effektanz. Die zielgerichteten Versuche, die Beziehung zu regulieren, werden schließlich aufgegeben und die Selbstregulation stabilisiert. Es entsteht in der Folge ein negativ getönter affektiver Kern, der die Erwartung des Kindes bestimmt. Schlimmstenfalls werden die früheren Copingmechanismen nun zur habitualisierten Abwehrstruktur (Köhler 1996).

Die meta-analytischen Ergebnisse von De Wolff und van IJzendoorn (1997) zeigen, dass Feinfühligkeit für die Entwicklung einer sicheren Bindung wichtig ist, aber keine Voraussetzung darstellt. Auch Interaktionsverhaltensweisen wie "Gemeinsamkeit" und "Synchronizität" deuten auf einen Einfluss hin. "Elterliche Wärme" und "Akzeptanz" wurden am häufigsten erwähnt.

Die Fremde-Situation

In der Mitte des ersten Lebensjahres hat das Kind die Fähigkeit entwickelt, seine Bindungsperson zu vermissen und nach ihr zu suchen. Im täglichen Austausch mit der Bezugsperson entwickelt es bereits ein inneres Modell von Bindung. Je nach Qualität der Responsivität, die ein Kind auf sein Bindungsverhalten erfährt, werden unterschiedliche Vorstellungsmodelle über die erwartete Reaktionsweise der Bindungsfiguren ausgebildet und gespeichert.

Ausgehend von dem Konzept der sicheren Basis, wonach eine feinfühlige Bezugsperson für das Kind eine sichere Ausgangsbasis darstellt, von der aus es seine Umwelt erkunden und bei Angst oder Unwohlsein zu ihr zurückkehren kann, entwickelten Ainsworth und Wittig (1969) den sog. "Fremde Situation Test", eine standardisierte Laborsituation. In acht Episoden zu je drei Minuten wurde das Bindungsverhalten des 12 bis 18 Monate alten Kindes durch eine zweimalige kurze Trennung von der Mutter in fremder Umgebung aktiviert und nach der Wiedervereinigung mit der Mutter untersucht (Ainsworth et al. 1978):

  1. Mutter und Kind betreten das Spielzimmer.
  2. Sie akklimatisieren sich, und das Kind kann den ungewohnten Raum erkunden.
  3. Eine fremde Person tritt ein und nimmt mit der Mutter und dem Kind Kontakt auf.
  4. Die Mutter geht, und die Fremde bleibt mit dem Kind zurück.
  5. Die Mutter kehrt zurück, und die Fremde geht.
  6. Die Mutter verlässt wieder den Raum, aber das Kind bleibt allein zurück.
  7. Die fremde Person kommt hinzu.
  8. Die Mutter erscheint, und die Fremde geht.

Dabei wurde die Balance zwischen Bindungs- und Explorationsverhalten des Kleinkindes beobachtet. Die Kinder explorierten in Anwesenheit der Mutter deutlich mehr. Ainsworth faszinierte die unterschiedlichen Verhaltensweisen der Kinder unter zunehmendem Trennungsstress sowie bei der Begrüßung der rückkehrenden Mutter, wobei sie zwischen den drei Bindungsverhaltensstrategien "sicher" (B), "unsicher-vermeidend" (A) und "unsicher-ambivalent" (C) differenzierte.

Erst 1986 fügten Main und Salomon (1990) noch eine vierte Kategorie hinzu, die als "desorganisiertes und desorientiertes Muster" bezeichnet wurde. Diese Kinder zeigen sehr auffällige, in sich widersprüchliche Verhaltensweisen, die zuvor als nicht klassifizierbar galten.

Bindungsklassifikationen

"Die Qualität einer Bindung ist das Vertrauen in die Erreichbarkeit und Zuwendung der Bindungsperson, wenn sie zur Linderung von Leid gebraucht wird, und das begründete Vertrauen in die Wirksamkeit dieser Zuwendung zur eigenen Beruhigung" (Buchheim 2005).

Die Einteilung in die folgenden vier Kategorien birgt jedoch die Gefahr in sich, die komplexen Strukturen in der Mutter-Kind-Interaktion durch ein zu hohes Abstraktionsniveau sehr vereinfacht zu betrachten, was vor allem im klinischen Kontext zu Problemen führen kann (Buchheim 2002). Darüber hinaus bleibt zu betonen, dass ein Kind zu seinen unterschiedlichen Bezugspersonen unterschiedliche Bindungsstile entwickeln kann. Die Bindungsmuster sind darüber hinaus situations- und kontextgebunden.

Sicheres Bindungsmuster

Das sicher gebundene Kind hat Vertrauen in die Zuverlässigkeit und Verfügbarkeit der Bindungsperson und exploriert in deren Anwesenheit ungestört. Die Bindungsperson wird als sichere Ausgangsbasis zur Erkundung der Umwelt wahrgenommen. Bei der Trennung von ihr zeigt das Kind deutliches Bindungsverhalten mit Rufen, Suchen und Weinen. Es wirkt sehr gestresst. Das Kind differenziert deutlich zwischen der Bindungsperson und lässt sich von der fremden Person nicht trösten. Bei Rückkehr der Bindungsperson demonstriert das Kind Freude und sucht sofort den körperlichen Kontakt. Infolge der Erfahrung von vorhersagbarer Beruhigung durch die Bindungsfigur kann es sich schnell wieder explorierend seiner Umwelt zuwenden. Das sicher gebundenen Kind verfügt über ein inneres Arbeitsmodell, in dem die Bezugsperson als zuverlässig repräsentiert ist.

Im Erwachsenenalter entspricht dies einem sicher-autonomen Bindungsstil.

Unsicher-vermeidendes Bindungsmuster

Das unsicher-vermeidende Kind zeigt bei Abwesenheit der Bindungsperson kein Anzeichen der Beunruhigung oder des Vermissens. Es exploriert scheinbar ohne Einschränkung weiter, zeigt nur wenig Bindungsverhalten und akzeptiert die fremde Person als Ersatz. Innerlich ist das Kind sehr aufgewühlt. Spätere Untersuchungen konnten belegen, dass die Deaktivierung und Unterdrückung des Bindungsverhaltens mit einer hohen emotionalen Belastung einhergeht. Bei Rückkehr der Bindungsperson wird diese ignoriert und Körperkontakt abgelehnt. Das unsicher-vermeidend gebundene Kind hat die Bindungsperson als zurückweisend verinnerlicht. Um diese Zurückweisung nicht permanent erfahren zu müssen, wird der Kontakt vermieden und möglichst keine Verunsicherung gezeigt. Die Bindungsperson zeichnet sich durch einen Mangel an Affektäußerung, durch Ablehnung und Aversion gegen Körperkontakt sowie häufige Zeichen von Ärger aus. Das Kind kann kein Vertrauen auf Unterstützung entwickeln, sondern erwartet Zurückweisung. Infolge dessen unterdrückt das Kind seine Annäherungsneigung, um zumindest in einer tolerierbaren Nähe zur Mutter zu bleiben. Negative Gefühle werden unterdrückt.

Als Erwachsene äußert sich dieser Bindungsstil in einer hohen Distanz zu Bindungsthemen. Beziehungen werden idealisiert und Widersprüche schwer erkannt.

Unsicher-ambivalentes Bindungsmuster

Das unsicher-ambivalent gebundene Kind ist stark auf die Bindungsperson fixiert. Durch seine chronische Aktivierung des Bindungssystems ist es auch bei Anwesenheit der Bindungsperson stark in seinem Explorationsverhalten eingeschränkt. In seinem inneren Arbeitsmodell ist die Bindungsperson nicht berechenbar. Die unvorhersagbaren Interaktionserfahrungen mit der Bindungsperson führen zu Ärger und Widerstand beim Versuch der Bindungsperson, das Kind zu trösten. In mehrmaliger Aufeinanderfolge scheint das Kind aggressiv und ärgerlich auf die Bindungsperson, andererseits sucht es im nächsten Moment Kontakt und Nähe (Fremmer-Bombik 1997). Negative Gefühle können nicht integriert werden.

Erwachsene scheinen in früheren Beziehungen gefangen. Sie berichten über diese Beziehungen inkohärent und mit negativer affektiver Besetzung. Dieser Bindungsstil von Erwachsenen wird auch als unsicher-präokkupiert bzw. bindungsverstrickt bezeichnet.

Unsicher desorganisiertes Bindungsmuster

Das unsicher desorganisiert gebundene Kind zeigt im Vergleich zu den anderen Bindungsmuster eine wenig durchgängige Verhaltensstrategie, sondern zeichnet sich durch emotional widersprüchliches und inkonsistentes Bindungsverhalten aus. Diese Verhaltensweisen sind insbesondere motorische Sequenzen von stereotypen Verhaltensweisen, oder die Kinder halten im Ablauf ihrer Bewegungen inne und erstarren ("freezing") für die Dauer von einigen Sekunden. Es lässt sich generell kein bestimmtes Verhalten bei Trennung und Rückkehr der Bindungsperson festmachen. Gleichzeitig kommt es zu genauso erhöhten Stresswerten wie beim unsicher gebundenen Kind (Brisch 1999). Dieses Bindungsmuster wird als ein "Steckenbleiben zwischen zwei Verhaltenstendenzen", der Nähe zur Bindungsperson und der Abwendung von ihr, gesehen. Die emotionale Kommunikation ist gestört, weil die Bezugsperson gleichzeitig Quelle und Auflösung der Angst ist. Das desorganisierte Bindungsmuster kann als Zusammenbrechen von organisierten Strategien in bindungsrelevanten Situationen bezeichnet werden.

Es wird von einem unverarbeiteten Traumata der Bindungsperson ausgegangen. "In der täglichen Pflege- und Spielerfahrung der Bezugsperson mit ihrem Säugling und Kleinkind werden (...) eigene Erinnerungen und Gefühle aus der eigenen Kindheit und der Bindungserfahrung mit den eigenen Eltern wachgerufen. Die damit verbundenen angenehmen sowie emotional belastenden Gefühle und Bilder können durch Projektionen die Beziehung zum eigenen Kind bereichern, oder auch schwerwiegend behindern, verzerren oder sogar dazu führen, dass im schlimmsten Fall wiederbelebte Erinnerungen - etwa einer Missbrauchsituation oder einer Verlassenheitserfahrung - mit dem eigenen Kind wiederholt werden müssen" (Brisch 2001). Diese "frightening-frightended"-Kollusion entsteht somit, wenn bei der Bindungsperson durch die Interaktion mit dem Kind traumatische Erfahrungen reaktiviert werden, die bedrohlich und ängstigend sind und die unbewusst bleiben.

Das Kind erlebt eine Unterbrechung seiner Bindungsstrategie; trotz realer Anwesenheit ist die Bindungsperson emotional unerreichbar. Kinder, die misshandelt wurden oder deren Bezugspersonen unter eigenen unverarbeiteten Traumatisierungen leiden, zeigen häufig dieses Bindungsmuster (Main/ Solomon 1990). Es besteht ein enger Zusammenhang mit familiären Risikofaktoren wie Misshandlung, psychischen Störungen und Suchtverhalten (Main 1995).

Beim Erwachsenen zeigt sich eine gedankliche Inkohärenz und Irrationalität bei bestimmten Themen wie Tod oder Trennung, während bei anderen Themen Elemente anderer Arbeitsmodelle gezeigt werden.

Das innere Arbeitsmodell

Bindungsforscher wie psychoanalytische Objektbeziehungstheoretiker vereint die Auffassung, dass Kinder durch wiederholte typische Interaktionsmuster Erwartungen hinsichtlich des Charakters dieser Interaktionen mit ihren Bindungspersonen ausbilden. Diese Erfahrungen werden zunehmend verinnerlicht und in ein Gesamtbild integriert. Gegen Ende des ersten Lebensjahres ist das Verhalten des Kindes zielgerichtet und beruht auf spezifischen Erwartungen. Seine früheren Erfahrungen mit der Bezugsperson werden zu repräsentationalen Systemen zusammengefasst, die Bowlby (1973) als "innere Arbeitsmodelle" (IWM = Internal Working Models) bezeichnete. Sie bilden sich in mentalen symbolischen Repräsentanzen ab. Durch die internalisierten Bindungserfahrungen bildet sich ein sicheres oder unsicheres Bindungsmuster heraus. Diese "inneren Arbeitsmodelle (...) regulieren das Verhalten des Kindes zur Bezugsperson und strukturieren später das Verhalten und Erleben in allen emotional relevanten Beziehungen, einschließlich der zu sich selbst. Sie wirken im Laufe der Entwicklung auch in Abwesenheit der Bindungspersonen und determinieren, inwieweit jemand in Beziehungen Nähe und Sicherheit erwartet und inwieweit er sich selbst der Zuwendung, der Liebe und Aufmerksamkeit wert fühlt, also Nähe zulassen kann" (Daudert 2001, S. 6).

Das Explorationsverhalten wird als komplementär zum Bindungsverhalten angesehen, wobei der Erwartung des Kindes über die Fähigkeit der Bezugsperson, Schutz zu bieten, eine vorrangige Bedeutung zukommt. Dieser erste wichtige Internalisierungsschritt im Laufe des ersten Lebensjahres ist der Grundstein für die Ausbildung innerer Arbeitsmodelle von Bindung, die über die frühkindliche Erfahrungen eine lebenslange Bedeutung erlangen. Die Bindungsmuster werden im Laufe der Zeit zu inneren Arbeitsmodellen. Das Bindungssystem ist ein offenes biosoziales homöostatisches Regulationssystem (Fonagy et al. 2002).

Main, Kaplan und Cassidy (1985) belegten empirisch, dass Kinder aufgrund der Interaktionserfahrungen mit den frühen Bindungspersonen weitgehend unbewusste, stabile innere Repräsentanzen bilden. Das Bindungsverhaltenssystem zeigt sich vor allem in der Organisation des Denkens und der Sprache bei der Beschäftigung mit bindungsrelevanten Themen. Crittenden (1990) geht davon aus, dass innere Arbeitsmodelle, da sie außerhalb des Gewahrseins operieren, veränderungsresistent sind. Nach neueren Erkenntnissen neigen sie zu deutlicher Stabilität, sind aber nicht festgelegt.

Bowlby (1980) prägte den Begriff "multiple Arbeitsmodelle". Er stellte in klinischen Beobachtungen fest, dass die Patienten häufig über mehr als ein Arbeitsmodell verfügten. Dies zeige sich in widersprüchlichen Schilderungen bezüglich derselben Person. Er verstand dies als einen defensiven Selbstschutz-Prozess, welcher durch sich widersprechende Erfahrungen in der Wirklichkeit, zustande kam.

Implikationen der Bindungsforschung

Die Bindungsforschung verleitet dazu, wie oft schon kritisiert, einfache Erklärungsmodelle zur Entstehung individueller Unterschiede zu entwickeln. Dies wird der Komplexität von Entwicklungsprozessen und menschlichem Verhalten nicht gerecht. Zudem ist eine Überbetonung des mütterlichen Verhaltens sowie eine deterministische Verantwortung der Bindungsqualität für die weitere Entwicklung zu kritisieren. Deshalb ist es mir wichtig, hervorzuheben, dass der Säugling außer zu der Hauptbindungsperson in der Regel auch noch zu drei oder vier weiteren Personen Bindungsbeziehungen entwickelt, die hinsichtlich ihrer Bedeutung in einer Art Beziehungshierarchie geordnet werden. In der Regel lässt sich der Säugling auch von einer dieser sekundären Bezugspersonen beruhigen, wenn auch oft nicht so unmittelbar wie durch die Hauptbezugsperson selbst.

In meinem Verständnis kommt der Mutter-Kind-Bindung eine sehr wichtige Bedeutung zu, nicht zuletzt durch die vorgeburtlichen und geburtlichen Erfahrungen. Die Mutter stellt in der Regel die primäre Bezugsperson dar. Daneben entwickelt das Kind seine Beziehung zum Vater, zu Geschwistern oder auch zu weiteren Bezugspersonen wie z.B. Großeltern. Hier erwies sich die väterliche Spielfeinfühligkeit als wesentlich für die Kind-Vater-Beziehung: Durch das vorsichtige Herausfordern während des gemeinsamen Spiels fördern Väter die Autonomie ihrer Kinder innerhalb von Beziehungen. Somit ergänzen sich Vater und Mutter bezüglich sicherer Bindung und sicherer Exploration innerhalb von affektiven Beziehungen (Grossmann & Grossmann 2001, S. 61 f.). Diese Bindungen sind in einen übergreifenden Zusammenhang eingebunden, in soziale Umwelt und Gesellschaft.

Geschlechtsspezifische Unterschiede im Bereich der Bindungsmuster scheinen in ihrer längsschnittlichen Stabilität eher gering zu sein. Empirische Befunde weisen jedoch auf einen geschlechtsspezifischen Unterschied im Bereich des Emotionsausdrucks hin (Scheidt/ Waller 2007, S. 23). Es wurde festgestellt, dass sowohl Mütter als auch Väter mehr Emotionswörter verwenden, wenn sie mit ihren Töchtern über traurige Erfahrungen sprechen als mit ihren Söhnen (Fivush et al. 2000). In neueren Bindungsstudien konnte auch ein Zusammenhang zwischen der Bindungsqualität und dem Verstehen von und dem Sprechen über Emotionen nachgewiesen werden. Bindungssicherheit ging mit der Fähigkeit einher, negative Emotionen bei anderen zu erschließen sowie über emotionale Themen in einer kohärenten Art und Weise zu diskutieren. Die Fähigkeit, auf Affekte Bezug zu nehmen, wenn über konflikthafte Themen diskutiert wurde, belegten Laible und Thomson (lt. Scheidt/ Waller 2007, S. 22).

Die Bindungsforschung, die sich mit den Auswirkungen von kindlichen Fürsorgeerfahrungen auf die individuelle Anpassungsfähigkeit im Verlauf des Lebens beschäftigt (Spangler/ Zimmermann 1999), bietet einen konzeptuellen Rahmen, wie sich frühe Bindungsbeziehungen auf die weitere sozio-emotionale Anpassung im Lebenslauf und auf die psychische Gesundheit auswirkt. Die empirischen und meist prospektiven Längsschnittuntersuchungen zeigen, dass eine sichere Bindungsqualität in der Kindheit und eine sichere Bindungsrepräsentation im Jugend- und Erwachsenenalter mit einer gelungenen Anpassung einhergehen (Cassidy 1999). Im Umgang mit Belastungen zeigen sicher gebundene Kinder ein hohes Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen und eine hohe Ich-Flexibilität sowie die Fähigkeit, ihre Impulse, Bedürfnisse und Gefühle dynamisch an den jeweiligen situativen Kontext anzupassen (Spangler/ Zimmermann 1999).

Das Bindungssystem entwickelt sich innerhalb des ersten Lebensjahres und bleibt während des gesamten Lebens aktiv. Das erworbene Bindungsmuster ist aber im Laufe des Lebens veränderbar. Es unterliegt auf es einwirkenden Einflüssen und kann durch neue Bindungserfahrungen verändert werden. Die Stabilität oder Veränderbarkeit von Bindungsmuster wird allerdings in der Literatur sehr kontrovers diskutiert. Die empirischen Befunde sind extrem uneinheitlich (Überblick bei Grossmann/ Grossmann/ Zimmermann 1999). Eine Vielzahl von Untersuchungen belegt nur zum Teil die prägende Bedeutung früher Bindungsbeziehungen (Becker-Stoll 2002). Die Wahrscheinlichkeit einer entwicklungsbezogenen Kontinuität hängt vermutlich sehr von vermittelnden Bedingungen ab (Suess/ Zimmermann 2001).

Eine sichere Bindung sollte eher als Schutzfaktor angesehen werden, ebenso wie eine unsichere Bindung als Risikofaktor für die Entwicklung psychischer Störungen betrachtet werden sollte. Bindungsstrategien sind als beziehungserhaltend zu verstehen. Im unsicheren Bindungsmuster besteht jedoch eine gewisse Vulnerabilität aufgrund der potenziell dysfunktionalen Affektregulation. Epidemiologische Studien legen nahe, dass selbst eine einzige sichere Beziehung für die Entwicklung reflexiver Prozesse ausreichen kann.

Es ist wichtig zu erfassen, das sich die Bindungssicherheit eher auf mentale Prozesse auswirkt als auf das Verhalten selbst. Die frühe Beziehungsqualität ist von großer Bedeutung, weil sie dazu beiträgt, welches mentale Verarbeitungssystem sich dem Kind einprägt. Und dies ist wiederum die Basis für die Beziehungsgestaltung in der Zukunft und die Handlungssteuerung. Die Schaffung einer psychischen Realität ist somit wohl die zentrale Aufgabe der Bindung an die Bezugsperson. Die frühe Bindungsqualität bildet ein Grundgerüst für die weitere psychische Entwicklung und ist die Basis für den Aufbau psychischer Realität.

Ein bedeutender Zusammenhang besteht zwischen Bindungssicherheit und mentalen Prozessen, welche einer Psychopathologie zugrunde liegen. Die klinische Bindungsforschung geht davon aus, dass psychischen Störungen gestörten psychischen Strukturen und gestörte affektive Bewertungsprozesse zugrunde liegen (Strauss/ Buchheim/ Kächele 2002). "Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass Kinder aufgrund solcher fehlenden Abstimmungsprozesse ganze Empfindungsbereiche im Repertoire für intime Beziehungen tilgen. Die Defizite gehen jedoch über den Empathiemangel hinaus und umfassen auch die exekutiven Funktionen. Streeck-Fischer (2006) spricht von einem "Neglekt" insbesondere bei Kindern mit Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung, der durch die Entwicklungsdefizite im Spracherwerb sowie in den exekutiven Funktionen zustande kommt und sich als mangelnde Selbstregulation äußert" (Cierpka et al. 2007, S. 93).

Die Entwicklung kohärenter und reichhaltiger sprachlicher Repräsentationen von sicheren Inneren Arbeitsmodellen und die Reflexion darüber ist das Schlüsselthema der Bindungsforschung über die Kleinkindzeit hinaus. Bowlby (1995) betont dabei die "Neubewertung und Rekonstruktion seines Weltbildes und Modelle von sich selbst und anderen, so dass man gemäß den jeweiligen Anforderungen angemessen handeln kann" (S. 110-111).

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