Alfred Weinrich
Thomas Berry Brazelton und Stanley I. Greenspan (2002) haben vor kurzem das Buch "Die sieben Grundbedürfnisse von Kindern. Was jedes Kind braucht, um gesund aufzuwachsen, gut zu lernen und glücklich zu sein" veröffentlicht. Die amerikanischen Autoren, beide erfahrene Kinderärzte und, unabhängig voneinander, seit Jahrzehnten in der Fachöffentlichkeit durch ihre entwicklungspsychologischen Veröffentlichungen, ja als Pioniere der Säuglingsforschung bekannt, haben sich hier aus gemeinsamer Sorge zusammengetan. Sie fahren gleich im ersten Satz schweres Geschütz auf: "Die elementaren Bedürfnisse der Kinder werden weder bei uns noch in anderen Ländern wirklich befriedigt" (S. 9).
Mütter und Väter würden mit ihrer immer schwierigeren Aufgabe allein und die Kinder im Stich gelassen, vor allem in der frühen Kindheit, als der "kritischsten und für Störungen anfälligsten Phase im Leben des Menschen" (S. 10). Sie nehmen für sich in Anspruch, als einzige eine Antwort zu geben auf eine der Fragen, die Präsident Clinton anlässlich der White House Conference on Infant and Development an die dort versammelten Wissenschaftler stellte, nämlich: "Welche spezifischen Erfahrungen sind die wichtigsten und in welchem Umfang müssen sie Kindern zugänglich sein?" (S. 11). Sie bieten Eltern und allen für das Bildungs- und das Gesundheitswesen Verantwortlichen ihren Expertenrat an in Form einer "Synthese unserer eigenen klinischen und wissenschaftlichen Erfahrung" (S. 12). Denn: "Eltern wollen ganz genau wissen, wie sie glückliche, selbstbewusste, kreative und emotional gesunde Kinder großziehen können."
Wie definieren die Autoren die Grundbedürfnisse (im Original: "irreducible needs" = nicht ableitbare, unabdingbare Bedürfnisse) von Kindern? Kinder, so sagen sie, brauchen:
- "beständige liebevolle Beziehungen";
- "körperliche Unversehrtheit, Sicherheit und Regulation";
- "Erfahrungen, die auf individuelle Unterschiede zugeschnitten sind";
- "entwicklungsgerechte Erfahrungen";
- "Grenzen und Strukturen";
- "stabile, unterstützende Gemeinschaften" und "kulturelle Kontinuität";
- ein globales Verantwortungsbewusstsein, das auch die Kinder in armen Ländern einbezieht.
Von dem euphorischen Blick mancher jüngerer Säuglingsforscher auf die strahlende Selbstbildungs-Kompetenz der Kinder setzen sich die Autoren unausgesprochen, aber deutlich ab. In ihrem beruflichen Alltag erleben sie, dass die Bedürfnisse von Kindern aus Unkenntnis oder unter Zwängen übergangen werden, sei es nun in defizitären Familien oder in miserablen Bewahranstalten. Aber man fragt sich bald, ob es nicht auch etwas mit dem männlich-paternalistischen Blick der Autoren zu tun hat, dass sie Kinder eher als bedürftige und vereinzelte, denn als handelnde und soziale, in Anfängen auch zur Selbstbehauptung fähige Wesen wahrnehmen.
Ihrer kritischen Botschaft, Kinder könnten nur in Zonen der Schonung gedeihen, in denen "Fürsorglichkeit" nicht mit Schwäche gleichgesetzt werde, und keine Konkurrenzzwänge herrschten (S. 27), ist freilich zuzustimmen. Denn nur dort kann die von ihnen immer wieder beschriebene und empfohlene besondere Form der Beziehung zwischen erwachsener Betreuungsperson und Kind aufkommen, die - ihrer Auffassung nach - im Austausch von Gefühlen in der Form aufmerksamen Interagierens besteht.
Das Grundmodell der Autoren für eine optimale Entwicklungsförderung ist die durch liebevolle Aufmerksamkeit geprägte Beziehung "face to face", die schon das Neugeborene stimuliert, indem sie seine Lebensäußerungen als Initiative aufnimmt und positiv beantwortet, und die sich von den Reaktionen des Kindes darauf selbst stimulieren lässt, indem sie diese als Antworten deutet. Dieses Modell "reziproker Interaktionen" soll, wie sie mit Nachdruck darlegen, das Fundament legen für eine optimale Entwicklung des zentralen Nervensystems und damit "für eine überraschend große Zahl lebenswichtiger geistiger Fähigkeiten" (S. 38). Ein solches dialogisches Beziehungsmodell könne sich nur realisieren in einer "langfristigen, liebevollen Beziehung zwischen dem Baby und der Betreuungsperson, die all seine Regungen kennt" (a.a.O.), und das heißt für sie im Wesentlichen: nur innerhalb von Familien.
Ihre Skepsis gegenüber allen Formen institutionalisierter Früherziehung in Gruppen erstreckt sich auch auf den Kindergarten und bis in die Schule hinein. Nur sehr kleine Lerngruppen könnten dem Anspruch der Kinder auf individuelle Lernformen gerecht werden: Zweijährige sollten höchstens zu sechst, Fünfjährige höchstens zu acht, Grundschüler höchstens zu fünfzehn in einer Gruppe bzw. Klasse sein! (S. 197) Erst Kindern im Grundschulalter trauen sie die Fähigkeit zu, von Gruppenbeziehungen mit gleichaltrigen Kindern (Peers) zu profitieren (S. 212).
Quantitativ bestimmen die Autoren die Bedürftigkeit von Kindern als Anspruch auf Zeit. Das geht bis zu der Forderung, dass beide Eltern ab 18 Uhr ihrem Kind bzw. ihren Kindern uneingeschränkt zur Verfügung stehen sollten (S. 239 ff.).
Wie aber stellen sie sich zu der körperlich-räumlichen Dimension kindlicher Bedürfnisse, zum kindlichen Anspruch auf Körperkontakt und eigenständige Körpererfahrung, auf Raum zur Erkundung und Bewegung, auf die Welt der Dinge, kurz auf alles, was sich spüren, greifen, handhaben, bewegen, in Besitz nehmen lässt?
Die Autoren gehen in ihrem Interaktionsmodell zwar von einem Austausch von Handlungen aus, belassen jedoch die Frage, ob sie nur inneres oder auch äußeres Handeln meinen, in einer merkwürdigen Unbestimmtheit. Wenn wir uns den Kanon von Grundbedürfnissen oder auch die eingangs zitierte, Eltern zugeschriebene, Zielvorstellung noch einmal ansehen, so erscheinen diese auffällig körperlos. ("Bedürfnis nach körperliche Unversehrtheit" meint hier nur: Fürsorge für minderjährige Mütter, ausreichende körperliche Versorgung und Schutz vor Missbrauch). In einem ausführlichen Stufenmodell wird die kindliche Entwicklung bis zum Alter von 12 Jahren ausschließlich in den Kategorien von Gefühlen, Beziehungen und Denken beschrieben (S. 205 ff.), sozusagen ohne Hand und Fuß. So sehr die Autoren den zeitlichen Anspruch von Kindern auf persönliche Zuwendung betonen, so wenig gehen sie auf die körperlich-räumliche Dimension kindlicher Entwicklung ein, auf den Platz in der Welt, der den Kindern zukommt/ zukommen sollte.
Um eine Begründung oder wenigstens Hinweise auf den Grund dieser Abstinenz zu finden, müssen wir schon in den Gesprächsprotokollen der Autoren suchen, die den einzelnen Kapiteln angehängt sind. Da findet sich die entwicklungspsychologische Auffassung, dass die emotionale Entwicklung die gegenüber allen anderen Entwicklungsbereichen, auch dem der Motorik und des Handelns, grundlegende sei: "Das Affektsystem entwickelt sich viel früher als die motorische Kontrolle... Dieses emotionale System ist die erste Möglichkeit des Babys, die Welt kennen zu lernen, und es setzt die kognitive Entwicklung in Gang." (S. 45) Und: "...statt wie bislang die Intelligenzentwicklung danach zu beurteilen, wie das Kind die Welt manipuliert und erforscht, sollten wir sagen, dass das Kind, wenn es die Welt zu verstehen sucht, zuerst den Gefühlsausdruck benutzt" (S. 47).
Die Autoren wollen deutlich machen, dass die Intelligenzentwicklung sich von der der Gefühle nicht trennen lasse. Ihr Landsmann und Arztkollege, der Neurologe Antonio Damasio vertritt darüber hinaus die Auffassung, dass Fühlen, Denken und Körperfunktionen von Grund auf miteinander verflochten, und dass "Empfindungen die direkte Wahrnehmung einer bestimmten Landschaft: der des Körpers" seien (in: Descartes Irrtum. Fühlen, Denken und das menschliche Gehirn, deutsch 1995). So weit mögen die Autoren nicht gehen. Aber so ganz sicher sind sie sich doch nicht. Ihnen fallen immer wieder ihre eigenen Forschungserfahrungen mit ganz andersartigen, körperbetonten Traditionen der Säuglingspflege in anderen Kulturen ein. "Das Problem besteht vielleicht darin, dass in unserer hektischen Gesellschaft der intime Kontakt zu unseren Babys zu kurz kommt" (S. 48). Und schließlich die Einsicht, dass die bevorzugte face to face-Beziehung, verglichen mit der koreanischen Tradition, Babys auf dem Rücken zu tragen, vielleicht doch nicht einfach nur die bestmögliche Form ist, sondern auch auf eine kulturelle Vorentscheidung zurückgeht: "Ihnen geht es nicht darum, die Kinder zu selbständigen Individuen zu erziehen, sondern zu stabilen, ruhigen, kultivierten, zufriedenen Bürgern" (S. 51).
Die Autoren halten es schon für angebracht, " das Halten, Schmusen, das beruhigende Streicheln über den Rücken, Umarmungen und Küsse, Liebkosungen" (S. 89), aber es bleibt in ihren Empfehlungen eher nachrangig. Wie aber, wenn gerade die Erfahrungen der Schwangerschaft, der Geburt und des Körperkontakts mit dem Säugling geeignet wären, angeborenes entwicklungsförderndes Verhalten von Eltern zu aktivieren?
Intuitives Elternverhalten ist
ein Forschungsthema der neueren Entwicklungspsychologie (vgl.
Oerter/ Montada, Hrsg.: Entwicklungspsychologie, 5. überarb. Aufl. 2002, S. 190 ff.), nicht aber der Autoren. Der Weg, auf den sie setzen, ist die
Schulung von Elternverhalten, angefangen mit einem entsprechenden Unterrichtsfach in der Schule, vor allem aber durch intensive
professionelle Begleitung von der Schwangerschaft an. Sie erklären diverse hochkomplexe Diagnose- und Förderungsverfahren, die sie in der klinischen Praxis entwickelt haben, zu unentbehrlichen Hilfsmitteln einer entwicklungsgerechten Erziehung und schlagen vor, ein von ihnen erprobtes Angebot der Familienhilfe zum flächendeckenden Netz auszubauen. Unter medizinisch-entwicklungspsychologischer Federführung sollen dort zu allen kritischen Punkten der kindlichen Entwicklung begleitende Beratungs- und
Interventionsstrategien zur Verfügung gehalten werden (
"Touchpoints-Modell").
Dabei fordern sie Respekt vor der Individualität jedes einzelnen Kindes, gerade auch des behinderten und kranken. Jedes Kind soll in seiner Eigenart genau erkannt werden, und das nicht etwa durch pädagogische Intuition und Einfühlung, sondern mithilfe der diagnostischen Mittel, die das Lebenswerk der beiden Autoren darstellen. Auch für die Feinabstimmung individueller Fördermaßnahmen halten sie eigene Verfahren bereit. Die ärztlichen und wissenschaftlichen Verdienste der Autoren auf diesem Feld sollen hier gar nicht bezweifelt werden. An verunsicherte Eltern gerichtet, ist das jedoch ein überwältigend hoher Anspruch! Das entspricht der auch hierzulande verbreiteten Meinung, dass es, PISA hin oder her, nicht an Bildung, sondern an Erziehung und elterlicher Zuwendung hapere.
Aus dem ärztlichen Blickwinkel liegt es freilich fern zu fragen, ob nicht ein Teil der Verunsicherung, die Eltern, Erziehern und Lehrern ihre Aufgabe so schwer macht, aus der Tatsache erwächst, dass unsere Kultur - vielleicht wie keine andere zuvor - die Kinder von der Praxis des gesellschaftlichen Lebens absondert und auf Vorspiele des Einübens und Probehandelns verweist. Diese Absonderung erfasst zunehmend alle Bereiche der Realität. Was können Kinder noch direkt erreichen, greifen, erfahren, ausprobieren? Oder wo dürfen sie eingreifen? Die Frage stellt sich schon in jedem Familienhaushalt. Aber Eltern, Erzieher und Lehrer können auch ein Lied davon singen, dass diese Beschränkungen nicht ohne Widerstände und Kämpfe hingenommen werden. Natürlich kann man an der Stelle auch fragen, ob es uns Erwachsenen so völlig anders geht, ob wir wesentlich mehr reale Handlungsspielräume haben, wie wir uns damit abfinden, und wie es eigentlich mit unserer Autonomie bestellt ist?
Der Einwand gegen die Definitionen kindlicher Bedürfnisse, die die Autoren vorschlagen, ist also keineswegs nur theoretisch, sondern auch ganz praktisch gemeint. Indem sie den emotional-kognitiven Aspekt der Entwicklung isolieren und sich von neueren, handlungs- und körperorientierten Fragestellungen in der Entwicklungspsychologie abgrenzen, verfangen sie sich in einen Grundkonflikt unserer Kultur. Oder sollten die erwünschten Persönlichkeitsmerkmale Individualität und Autonomie ohne sinnliches, praktisches Verhältnis zu Körpern und Dingen zu haben sein? Und wenn doch, welcher besonderen Art mögen sie sein? Autonomie des Fühlens und Individualität des Denkens minus Handlungskompetenz?
Der Konflikt zwischen der anhaltenden Tendenz zur Entsinnlichung und Entkörperung auf der einen und unseren kulturellen Wertvorstellungen auf der anderen Seite wird sich so bald nicht aus der Welt schaffen lassen! Unsere körperlich-praktischen Bedürfnisse garantieren dafür, dass er offen bleibt.
Die Autoren sorgen sich um die überlebenswichtige reproduktive Kompetenz - also die Fähigkeit, den eigenen Nachwuchs angemessen aufzuziehen - nicht nur einzelner Eltern, sondern der Menschheit überhaupt, belassen die Aufgabe aber doch vor allem bei den Eltern, genauer: den Müttern, und das, obwohl sie auf deren Intuition nicht bauen möchten. Ist also die Hilfe, die sie anbieten, nicht mehr als eine unrealistische Rettungsphantasie?
Mit ihrem Buch empfehlen sie sich - in der Tradition Benjamin Spocks - als Volkserzieher und Lehrmeister aller Eltern, Erzieher, Lehrer und für das Erziehungs- und Bildungswesen Verantwortlichen. Damit verlängern sie das vertraute Angebot der Schulmedizin in die Pädagogik. Was ihnen vorschwebt, hieße, nicht nur die Gesundheit, sondern auch die Erziehung der Kinder unter die Aufsicht von medizinischen Experten zu stellen. Ansätze dazu gibt es bekanntlich schon lange. Die Faszination, die derzeit von der Hirnforschung ausgeht, könnte diese Entwicklung weiter vorantreiben.
Literatur
Thomas Berry Brazelton/ Stanley I. Greenspan (2002): "Die sieben Grundbedürfnisse von Kindern. Was jedes Kind braucht, um gesund aufzuwachsen, gut zu lernen und glücklich zu sein". Weinheim und Basel: Beltz 2002