Martin R. Textor
Misshandlung von Ehepartnern
Gewalt in der Ehe (einschließlich der Vergewaltigung des Partners) kommt in allen Gesellschaftsschichten vor und tritt oft jahrelang auf. Frauen sind jedoch nur in Einzelfällen gewalttätig, wobei ein derartiges Verhalten oft der Selbstverteidigung dient. Aufgrund ihrer schwächeren Körperkräfte können sie zudem ihren Ehemännern nur wenig Schaden zufügen.
Gewalt in der Ehe kommt vielfach in sozial isolierten Familien vor, deren Mitglieder nur wenig Freunde haben und selten ihre Freizeit mit anderen Menschen verbringen. So versuchen sie, alle Bedürfnisse in der Familie zu befriedigen - was leicht zur Überforderung der anderen Personen führen kann. Auch kann bei Familienkrisen nur mit wenig Unterstützung aus dem Netzwerk gerechnet werden. Viele gewalttätige Ehemänner wurden in ihrer Kindheit selbst misshandelt oder erlebten mit, wie ihre Mütter von ihren Vätern geschlagen wurden. So ist für sie Gewalt in der Familie etwas "Normales", folgen sie dem Beispiel ihrer Eltern. Häufig haben sie wenig Erfolg im Beruf (unerfüllte Erwartungen), erleben Probleme am Arbeitsplatz, sind arbeitslos oder fühlen sich aufgrund fehlender Hobbys unausgelastet. Die Erfahrung wiederholten Versagens hat bei ihnen zu einem negativen Selbstbild, Unsicherheit und dem Eindruck der Machtlosigkeit geführt. Durch Gewaltanwendung kompensieren sie nun ihre Minderwertigkeitsgefühle: Wenn sie ihre Frauen schlagen, erleben sie sich als männlich, stark und mächtig.
In anderen Fällen resultiert Gewaltanwendung aus Ehekonflikten. Vor allem wenn Männer unreif sind, eine geringe Frustrationstoleranz besitzen, wenig Kontrolle über ihre Gefühle haben, starken Gefühlsschwankungen unterliegen, besonders sensibel auf Kritik reagieren oder bei verbalen Auseinandersetzungen ihren Frauen aufgrund schlechterer Kommunikationsfähigkeiten unterlegen sind, mögen sie bei Konflikten gewalttätig werden. Viele Ehemänner sind auch sehr autoritär und dominant, bestimmen über alle Bereiche des Familienlebens. Sie vertreten die Auffassung, dass die Männer in ihren Familien das Sagen haben und die Frauen sich ihnen unterwerfen sollen. So greifen sie rigoros durch, wenn diese ihnen widersprechen oder sonst wie ihre Autorität antasten. In anderen Fällen glauben gewalttätige Männer, dass ihre Frauen ihr Besitz wären, ihnen aber nicht zu trauen sei. Sie rechnen fortwährend mit außerehelichen Affären, überwachen ihre Partnerinnen andauernd und reagieren mit Eifersucht und schließlich mit Gewalt auf jeden engeren Kontakt ihrer Frauen zu Dritten. Generell sehen die Männer kein Problem in ihrer Gewalttätigkeit und empfinden dementsprechend keine Reue. Sie schreiben die Schuld für ihr Verhalten ihren Frauen zu und halten es somit für gerechtfertigt. Handeln sie unter Alkoholeinfluss, machen sie den Alkohol für ihre mangelnde Selbstbeherrschung verantwortlich.
Geschlagene Frauen akzeptieren in der Regel ihre Männer als Familienoberhäupter, ordnen sich ihnen unter, sind unterwürfig und versuchen zumeist, deren Wünsche zu erfüllen. Oft erleben sie sich als inkompetent, wertlos oder nicht liebenswert und leiden unter negativen Selbstwertgefühlen. Sie halten sich vielfach für schuldig, wenn sie von ihren Partnern geschlagen werden. Häufig wehren sie sich auch nicht, da sie schon als Kinder misshandelt wurden und eine Opferrolle verinnerlicht haben. Zumeist brechen sie nicht aus der Ehe aus, da sie von ihren Partnern abhängig sind und sich selbst als unselbständig und unfähig erleben. Sie haben oft Alpträume, schlafen schlecht, leiden unter psychosomatischen Beschwerden, sind energielos und verzweifelt. Vereinzelt besteht Selbstmord- oder Mordgefahr. Viele Frauen, deren Männer gewalttätig sind, finden wenig Verständnis bei Netzwerkmitgliedern, die sie zum Beispiel für masochistisch halten, ihnen ein "falsches" Verhalten gegenüber ihren Partnern unterstellen oder ihnen die Schuld für ihre "Bestrafung" zuschreiben. Auch für Kinder hat es unerwünschte Folgen, wenn sie miterleben, wie ihre Mütter geschlagen werden. So ist beispielsweise mit negativen Auswirkungen auf ihre Geschlechtsrollenidentität und ihr Selbstbild zu rechnen.
Gewalt gegen alte Familienmitglieder
Erst im Verlauf der letzten Jahre ist erkannt und öffentlich angesprochen worden, dass es in manchen Familien auch zur Gewaltanwendung gegenüber alten oder pflegebedürftigen Mitgliedern kommt. In diesen Fällen leiden viele Täter unter Persönlichkeitsstörungen, besitzen wenig Selbstkontrolle, sind unreif, unsicher, wenig belastbar, impulsiv, leicht erregbar und intolerant. Manche sind ihren alten oder pflegebedürftigen Elternteilen gegenüber autoritär, dominant und kontrollierend, zeigen nur wenig Respekt für sie. Häufig verstehen sie Alterungsprozesse nicht und fassen deshalb störende und auffällige Verhaltensweisen, die aus altersbedingten psychischen Störungen (Demenz, Depression usw.) resultieren, als absichtliche Provokation auf. In diesen Situationen reagieren sie dann oft gewalttätig.
Die meisten Täter haben sich in ihr Schicksal ergeben, dass sie die alten oder pflegebedürftigen Familienmitglieder versorgen müssen. Sie glauben, dass sie ein großes Opfer erbringen, für das niemand sie entschädigen wird. So erleben sie die alten Menschen als Bürde, fühlen sich ausgebeutet und benachteiligt. Sie empfinden Feindseligkeit und Wut ihnen gegenüber, die sich dann in Gewalttätigkeiten entladen können. In vielen Fällen fühlen sich auch die Täter durch ihre pflegerischen Aufgaben körperlich und psychisch überlastet, wobei der hieraus resultierende Stress noch durch die Erfahrung mangelnder Unterstützung durch Dritte, das enge Zusammenleben, gestörte Kommunikationsprozesse oder Eheprobleme intensiviert werden kann. Manche nehmen dann alkoholische Getränke oder andere Suchtmittel zu sich, weil sie glauben, dass sie auf diese Weise mit der andauernden Überforderung besser fertig werden können. Der fortwährende Stress, die Überreiztheit, der Alkoholmissbrauch usw. können dann dazu führen, dass die Pflegepersonen in bestimmten Situationen "die Nerven verlieren" und gewalttätig werden.
Die alten Familienmitglieder sind sehr verletzlich, da sie aufgrund von mangelnder Kompetenz, Senilität, Krankheit usw. von ihren Pflegepersonen abhängig sind, oft an die Wohnung gebunden sind und kaum noch Freunde haben. Viele fühlen sich nutzlos oder als Bürde. Werden sie misshandelt, so sind sie häufig verzweifelt, verängstigt, verwirrt oder wütend und verlieren mehr und mehr an Selbstachtung. Sie fühlen sich hilflos, da sie nicht wissen, was sie in dieser Situation machen sollen und wie sie sich vor weiteren Gewalttätigkeiten schützen können. Manchmal provozieren sie aber auch ihre Pflegepersonen, indem sie zum Beispiel immer mehr von ihnen fordern und nie zufrieden sind.
Kindesmisshandlung
In der Erziehung von Kindern wird noch immer von körperlicher Züchtigung Gebrauch gemacht. So werden in 10 bis 16% aller Familien Kinder mit Gegenständen geschlagen (Engfer 1988). Neben Kindern, die körperlich und/oder psychisch misshandelt werden, werden auch viele vernachlässigt. Sie erhalten nicht das für eine gesunde Entwicklung notwendige Maß an Ernährung, Pflege, Schutz, Aufsicht, Erziehung usw. Während Kindesmisshandlung in allen Schichten vorkommt, wird von Vernachlässigung insbesondere bei Armut, sozialer Randständigkeit und Suchtmittelmissbrauch berichtet.
Gewalttätige Eltern wurden oft selbst als Kinder misshandelt; sie lernten, körperliche Züchtigung als akzeptable Erziehungstechnik zu betrachten (Zyklus der Gewalt). Aufgrund ihrer schlechten familialen Entwicklungsbedingungen haben sie häufig psychische und Persönlichkeitsstörungen ausgebildet. Auch sind sie unreif und besitzen nur wenig Selbstachtung. Oft kommt es zu Kindesmisshandlung, wenn die Eltern in psychisch belastende Stresssituationen geraten, also zum Beispiel Familienkrisen, Ehekonflikte, berufliche Misserfolge oder wirtschaftliche Not erleben, arbeitslos werden oder Probleme beim Übergang von einer Phase des Familienzyklus in die Nächste erleben. Sie können die aus diesen Belastungen resultierenden Affekte nicht mehr kontrollieren und geben den Druck an ihre Kinder weiter. Zu ähnlichen Situationen kann es kommen, wenn die Eltern aufgrund einer hohen Kinderzahl überfordert sind oder in einer sehr kleinen Wohnung leben und sich somit fortwährend durch das Verhalten ihrer Kinder gestört fühlen.
Manche Eltern misshandeln auch ihre Kinder, wenn diese ihren hohen emotionalen Ansprüchen oder Leistungserwartungen nicht genügen, also zum Beispiel auf der Schule versagen. Andere lehnen die Kinder bewusst oder unbewusst ab, da diese beispielsweise unerwünscht waren, nichtehelich geboren wurden, als Sündenböcke benötigt werden, behindert sind, kränkeln oder Entwicklungsstörungen aufweisen. Wenn Eltern bei verhaltensauffälligen oder von ihnen als "schwierig" erlebten Kindern mit ihren Erziehungsbemühungen scheitern, reagieren manche aus ihrer Hilflosigkeit, Ohnmacht und Überforderung heraus mit Gewalt. In anderen Fällen werden Kinder misshandelt, weil ihre Eltern aufgrund mangelnder erzieherischer Kompetenzen nicht mit ihnen fertig werden oder einen sehr autoritären Erziehungsstil praktizieren ("Wer sein Kind liebt, der züchtigt es").
Eltern, die ihre Kinder misshandeln, betrachten diese zumeist als unfertige und damit noch nicht vollwertige Personen, die auch geschlagen werden dürfen. Sie übersehen, dass sie ihnen auf diese Weise körperliche und seelische Schäden zufügen. So fallen ihre Kinder zum Beispiel durch Antriebsarmut, Rückzugstendenzen, Misstrauen, negative Selbstwertgefühle, Einnässen, Schlafstörungen, Aggressivität, dissoziale Verhaltensweisen, Lern- und Leistungsstörungen auf. Sie wirken oft verängstigt, halten von ihren Eltern Abstand und sind vielfach überangepasst.
Sexueller Missbrauch und Inzest
Fast immer werden Mädchen sexuell missbraucht; etwa 95% der Täter sind männlich. In rund 80% der Fälle kennen die Kinder den Täter; der Tatort ist in der Regel die Wohnung des Opfers oder des Täters. Sehr oft werden Kinder von ihren Vätern missbraucht - Mädchen in Stieffamilien sind besonders gefährdet. Inzest kommt in allen Gesellschaftsschichten vor und zieht sich oft über Monate und Jahre hinweg.
Bei vielen Tätern sind keine psychischen Auffälligkeiten festzustellen; andere leiden unter Persönlichkeitsstörungen, Stress oder inner- und außerfamilialen Problemen. Sie haben häufig nur wenig Außenkontakte, sodass sie hinsichtlich ihrer Bedürfnisbefriedigung überwiegend auf die eigene Familie angewiesen sind. Viele Väter, die ihre Kinder in inzestuöse Beziehungen verwickeln, betrachten sie als ihren Besitz. Sie glauben, dass ihre Kinder auch für sexuelle Kontakte verfügbar seien, und halten dies für unschädlich. Manchmal werden sie in der beschriebenen Auffassung durch Kinderpornos oder andere pornographische Medienprodukte bestärkt, die oft auch den Anstoß für inzestuöse Handlungen geben. In anderen Fällen haben sich die Väter ihren Partnerinnen entfremdet, tragen fortwährend mit ihnen Konflikte aus oder erleben den Geschlechtsverkehr mit ihnen als langweilig. So benutzen sie ihre Kinder als Partnerersatz, um ihre Bedürfnisse nach Intimität und Nähe zu befriedigen. Entgegen weit verbreiteten Vorurteilen werden sie nicht von ihren Töchtern verführt. Ein eventuell in der Pubertät oder Vorpubertät auftretendes Kokettieren von Mädchen muss als normales altersspezifisches Verhalten verstanden werden.
Väter (aber auch Brüder und andere Verwandte) missbrauchen ihre Kinder nur selten unter Einsatz von Gewalt. Zumeist versuchen sie, ihre Kooperation zu gewinnen, indem sie schrittweise vorgehen. So achten sie nicht die Intimsphäre ihrer Kinder, zeigen sich ihnen nackt und machen dabei vor allem auf ihre Genitalien aufmerksam. Dann verwickeln sie sie in immer intimere Aktivitäten, die als Spiel, notwendige Aufklärung oder etwas ganz "Normales" deklariert werden. In anderen Fällen erpressen sie ihre Kinder, indem sie sexuelle Handlungen als Zeichen der Zuneigung verlangen. Oft versprechen sie ihnen aber auch Belohnungen oder besondere Privilegien. Sie verpflichten ihre Kinder zur Geheimhaltung, wobei sie auch von Strafandrohungen Gebrauch machen. Dennoch haben die Mütter zumeist von den inzestuösen Beziehungen Kenntnis. Sie schützen ihre Kinder jedoch nicht und ignorieren deren Signale, da sie Angst vor ihren Partnern haben oder einen Skandal befürchten. Manchmal entlasten sie sich auch von einer Überforderung durch ihre Ehemänner im sexuellen Bereich, indem sie ihre Kinder bewusst oder unbewusst als Ersatz anbieten.
Die Kinder sind ihren Eltern in inzestuösen Beziehungen hilflos ausgeliefert und werden in die Rolle eines Opfers hineinsozialisiert. Manchmal leiden sie unter Unterleibsschmerzen, Verletzungen im Genitalbereich, Infektionen, Wundsein oder sogar Geschlechtskrankheiten. Sie reagieren auf den sexuellen Missbrauch zum Beispiel mit Schuldgefühlen, Scham, Verwirrung, regressivem Verhalten, Rückzug, Schlafstörungen, sexuellen Auffälligkeiten, Rollenverwirrung, psychosomatischen Beschwerden, Depressionen, Zwangshandlungen, Schulversagen, selbstdestruktivem Verhalten oder Promiskuität.
Wird der sexuelle Missbrauch zufällig oder durch die Betroffenen aufgedeckt (zum Beispiel aus Angst vor Schwangerschaft oder aus dem Bestreben heraus, einen Geschwisterteil zu schützen), kommt es oft zu einer Familienkrise. Häufig leugnet der Vater die Tat oder macht das Kind mitschuldig. Zumeist wird der Vorfall vertuscht (auch wenn der sexuelle Missbrauch durch Geschwister oder andere Verwandte erfolgte), da die Familienmitglieder eine Gerichtsverhandlung, einen möglichen Gefängnisaufenthalt und das damit verbundene öffentliche Aufsehen vermeiden wollen.
Literatur
Bolton, F. G./Bolton, S. R.: Working with violent families. A guide for clinical and legal practitioners. Newbury Park 1987
Bundesregierung: Sexueller Missbrauch von Kindern. Antwort auf die Große Anfrage der Fraktion DIE GRÜNEN. Drucksache 10/3845. Bonn 1985
Bundesregierung: Kindesmisshandlung und -vernachlässigung in der Bundesrepublik Deutschland. Antwort auf die Große Anfrage der Abgeordneten Frau Wagner und der Fraktion DIE GRÜNEN. Drucksache 10/5460. Bonn 1986a
Bundesregierung: Die Situation der älteren Menschen in der Familie. Vierter Familienbericht. Drucksache 10/6145. Bonn 1986b
Deutscher Kinderschutzbund (Hrsg.): Wenn Eltern zuschlagen... Gesellschaftliche Voraussetzungen und Bedingungen der Kinderschutzarbeit. Hannover 1985
Engfer, A.: Ursachen für Gewalt gegen Kinder in Familie und Gesellschaft - Wie lässt sich Gewalt verhindern? IFP-Nachrichtendienst 1988, 4, S. 11-12
Kannen, M.: Problemskizze und Einleitung. In: Arbeitsgemeinschaft von Einrichtungen für Familienbildung (Hrsg.): Sexueller Missbrauch von Kindern. Das Schweigen brechen. Bonn 1986, S. 4-14
Saller, H.: Sexueller Missbrauch von Kindern - ein soziales Problem. In: Arbeitsgemeinschaft von Einrichtungen für Familienbildung (Hrsg.): Sexueller Missbrauch von Kindern. Das Schweigen brechen. Bonn 1986, S. 15-33
Textor, M. R.: Kindeswohlgefährdung in Familien und Bildungseinrichtungen. 2010, https://www.ipzf.de/kindeswohl.html