Holger Küls
Der Themenzusammenhang "Lernen und Sprachförderung in der Vorschulpädagogik" ist in der öffentlichen Diskussion über das Bildungssystem in Deutschland sehr in den Vordergrund gerückt. Damit wird der Eindruck erweckt, es handle sich dabei um ein neues Problem. Das trifft natürlich so nicht zu. Die sozialpädagogischen Fachkräfte in den Kindertagesstätten haben sich schon immer um die Unterstützung der kindlichen Sprachentwicklung bemüht. Sprache und Sprachförderung gehören seit jeher zu den wichtigen Themen der Elementarpädagogik.
Neu ist allerdings, dass zunehmend mehr die Erkenntnisse der modernen Gehirnforschung herangezogen werden, um Lernprozesse im Zusammenhang von Spracherwerb- und Sprachförderung besser zu verstehen. Dieser Forschungsansatz hat in den letzten Jahren sehr an Bedeutung gewonnen und ist in der Psychologie bzw. in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem menschlichen Verhalten und Lernen zu einer wichtigen Leitwissenschaft geworden. So gibt es keinen Kongress, keine Tagung und keine Aufsatzsammlung zum Thema "Lernen, Bildung und Sprachförderung" ohne eine Darstellung der neuesten Erkenntnisse der Gehirnforschung.
Hier soll aber nicht einfach einem Trend gefolgt werden. Der vorliegende Artikel will über die Ergebnisse der Gehirnforschung bezogen auf das Thema "Lernen und Spracherwerb" informieren, weil diese wirklich interessante und wichtige Einsichten in der Frage vermitteln, wie Kinder lernen und wie sie Sprache erwerben. Hierbei geht es weniger um den Verlauf der Sprachentwicklung auf der Verhaltensebene, also des bekannten Prozesses von den ersten Lautäußerungen über die Einwort- und Zweiwortsätze bis hin zu der differenzierten Sprachkompetenz der Sechsjährigen. Die Beschäftigung mit der Gehirnforschung ermöglicht vielmehr ein besseres und vertieftes Verständnis der Grundlagen dieser Prozesse auf der Ebene der Gehirnentwicklung. Deshalb sollen nun einige Erkenntnisse der Neurowissenschaften bezogen auf das Thema "Lernen und Spracherwerb" dargestellt w werden. Mit Neurowissenschaften werden alle wissenschaftlichen Forschungsbereiche bezeichnet, die auf der Untersuchung und Analyse von Gehirnfunktionen beruhen, wie z.B. die Neurobiologie, die Neuropsychologie oder die Neurodidaktik.
Gehirnforschung und Gehirnaufbau
Es erstaunt immer wieder, wie schnell und leicht Kinder etwas lernen. So lernen sie eine oder manchmal sogar zwei Sprache(n) innerhalb weniger Jahre. Und sie beherrschen sie dann nahezu fehlerfrei und vollständig. Welche Leistung dahinter steckt, wird deutlich, wenn man eine Grammatik und ein Wörterbuch der deutschen Sprache nebeneinander legt. Das, was darin steht, beherrscht ein Kind mühelos. Es "kann" die richtige Grammatik und kennt die Bedeutung des größten Teils der Wörter seiner Sprache. Diese Lernleistung ist phänomenal. Noch erstaunlicher wirkt diese Leistung, wenn man sich vor Augen führt, welche Mühe es Erwachsenen kostet, eine Sprache zu lernen. Sie benötigen viele Jahre und erlangen bei weitem nicht die Kompetenz, die Kinder mühelos erreichen.
Um diese Zusammenhänge besser verstehen zu können, ist es hilfreich, sich einmal die Funktionsweise des Gehirns zu verdeutlichen. Leider ist es nicht möglich, einfach in ein Gehirn hineinzuschauen, um es bei der Arbeit zu beobachten. Allerdings gibt es auf diesem Gebiet in den letzten Jahren rasante Fortschritte. Zum einen half die moderne Medizintechnik, vor allem die Computertomografie, die Aktivität von bestimmten Gehirnbereichen zu messen. Insbesondere die Positronenemmissionstomografie und die Magnetresonanztomografie machen es mit Hilfe spezieller Verfahren möglich, beim lebenden Menschen die Areale zu identifizieren, die gerade aktiv sind. Wenn man das dann mit den gezeigten psychischen Leistungen vergleicht, kann man Rückschlüsse ziehen, wofür das betreffende Areal zuständig ist. Zum anderen half die Forschung an Patienten mit Gehirnverletzungen weiter. Aufgrund der Computertomografie kann man sehr gut Gehirnschädigungen erkennen und sie mit psychischen oder körperlichen Funktionsausfällen abgleichen. Wenn also ein bestimmter Teil des Gehirns geschädigt ist und gleichzeitig eine psychische Funktion wie z.B. das Gesichtergedächtnis ausfällt, ist das ein Hinweis darauf, dass dieser Teil des Gehirns für die Speicherung und Erinnerung von Gesichtern verantwortlich ist.
Die Gehirnforschung kann daher inzwischen immer genauer bestimmen, welche Bereiche des Gehirns für welche Aufgaben zuständig sind. Allerdings hat sich schnell gezeigt, dass es nicht eine Stelle gibt, die für eine psychische oder körperliche Funktion zuständig ist. Gerade komplexere psychische Leistungen beruhen auf dem Zusammenspiel mehrerer Bereiche und Areale.
So hat sich gezeigt, dass für das Sprechen eine ganz Anzahl von Gehirnarealen zuständig ist, die parallel arbeiten, um ein so kompliziertes Verhalten zu bewerkstelligen. Sprache wird bei den allermeisten Menschen vor allem in der linken Gehirnhälfte verarbeitet. Eine Region im Bereich der linken Schläfe prüft die Kategorie der eintreffenden Worte. Sie baut gemeinsam mit dem Broca-Areal, das auch in Höhe der linken Schläfe liegt und für die Grammatik zuständig ist, die Satzstruktur auf. Hinter dem linken Ohr befindet sich das Wernicke-Areal, das die Bedeutung der Wörter, also ihren semantischen Gehalt misst. Hinzu kommen noch die Gehirnbereiche, die etwa die Mundmotorik und die Lautbildung steuern. Es wird deutlich, wie komplex das Zusammenspiel von unterschiedlichen Gehirnteilen ist, um eine Verhaltensweise wie das Sprechen zu unterstützen.
Gehirn und Lernen
Das neugeborene Kind kann noch nicht Sprechen. Das darf nicht mit der Fähigkeit verwechselt werden, Kontakt zur Umwelt aufzunehmen und zu kommunizieren. Dazu sind auch Babys in der Lage, wie jede Mutter und jeder Vater bestätigen können. Allerdings steht die symbolgestützte sprachliche Form der Interaktion noch nicht zur Verfügung. Sie muss gelernt werden. Von daher müssen die oben beschriebenen Gehirnareale ihre Funktion erst erwerben. Dazu ist es hilfreich, sich die Entwicklungsprozesse im Gehirn anzuschauen. Das Gehirn und das Nervensystem sind die zentrale Steuerungsinstanz für unser Verhalten und unser Handeln in dieser Welt. Lernen kann dabei besser verstanden werden, wenn man sich diese Prozesse auf neuronaler Ebene vergegenwärtigt. Neuronal heißt, auf der Ebene der Nervenzellen und ihrer Verbindungen.
Das Gehirn besteht etwa aus 100 Milliarden Nervenzellen. Die Anzahl bleibt von Geburt an gleich. Wichtig für die Funktion des Gehirns sind aber vor allem die Verbindungen zwischen den Nervenzellen (Axone, Dendriten usw.) Die Anzahl der Verbindungen beträgt bei einem Neugeborenen etwa 50 Billionen. All das, was mit Lernen oder Gehirnentwicklung zu tun hat, beruht auf dem Wachstum bzw. den Veränderungen dieser Verbindungen zwischen den Nervenzellen. Unser Wissen, unsere Fähigkeiten und Fertigkeiten, auch unsere Gefühle und Empfindungen sind in neuronalen Netzwerken unseres Gehirns repräsentiert.
Diese Verbindungen bzw. Verschaltungen zwischen verschiedenen Nervenzellen oder Nervenzellarealen entstehen und verstärken sich in der Entwicklung des Kindes vor allem, wenn Nervenzellen oder Nervenzellareale gleichzeitig aktiviert werden. Wenn zum Beispiel ein vierbeiniges Wesen mit Fell bellend durch die Wohnung läuft und die Mutter "Hund" sagt oder "Struppi", dann sind bei einem kleinen Kind gleichzeitig die Neuronen aktiv, die für die optische Wahrnehmung des befellten Vierbeiners verantwortlich sind, und ebenso die Nervenzellen, die die akustischen Laute "Hund" oder "Struppi" aufnehmen und verarbeiten. Wenn diese Situation häufiger auftritt, also die entsprechenden Areale häufig gleichzeitig aktiviert werden, dann verstärken sich deren Verbindungen untereinander zunehmend.
Später reicht dann ein Reiz, etwa das Wort "Hund" oder "Struppi", um den gesamten eng miteinander verbundenen Bereich anzusprechen. Mit dem Wort werden dann automatisch Bilder des Hundes wachgerufen. Dann hat das Kind gelernt, dass der bellende und fellbehaftete Vierbeiner ein "Hund" ist und "Struppi" heißt. Gleichzeitig werden auch Gefühle in gleicher Weise durch synaptische Kontakte an diese Situation gebunden (Synapsen bezeichnen die Kontaktstellen der Nervenzellfortsätze, die dazu dienen, das Aktivitätspotential von einer Nervenzelle zur nächsten weiterzugeben). Das Kind freut sich vielleicht, wenn Struppi auftaucht, oder es hat Angst. Auch diese Gefühle beruhen auf Verschaltungen, die sich ergeben, weil das Areal für Hund und für Angst gleichzeitig aktiviert werden. So könnte der Hund vielleicht einmal zugeschnappt und so das Kind verängstigt haben.
Diese Prozesse, in denen neue Verbindungen entstehen oder sich bestehende neuronale Verschaltungen verändern und sich damit neue Netzwerke ergeben, in denen unser Wissen repräsentiert ist, erfolgen ein Leben lang. Das menschliche Gehirn ist bis zum Lebensende plastisch, d.h. durch Erfahrungen und Lernen veränderbar. Allerdings ist die jeweilige Lerngeschwindigkeit dem Alter entsprechend verschieden. In der Kindheit ist die Lerngeschwindigkeit rasant.
Dem liegt zugrunde, dass die neuronalen Verbindungen in bestimmten Phasen förmlich wuchern. Dabei handelt es sich um wichtige Entwicklungsphasen im Heranwachsen eines Kindes. Bei der Geburt gibt es nur wenige Verschaltungen zwischen den Neuronen, wobei gehirnphysiologisch 50 Billionen Verbindungen erstmal wenig sind. Viele der Verschaltungen zwischen den verschiedenen Arealen und Bereichen des Gehirns entstehen erst im Verlauf der Entwicklung. Die anfänglichen 50 Billionen Verbindungen zwischen den einzelnen Nervenzellen verzwanzigfachen sich von daher bis zum 8 Lebensmonat auf etwa 1.000 Billionen. Dies beruht teilweise auf genetisch bedingten Abläufen, ist aber vor allem auch von Anregungen von außen abhängig, das heißt von Erfahrungen bzw. Reizzufuhr aus der Umwelt.
Dies soll an einem Beispiel verdeutlicht werden. Die menschliche Sehfähigkeit ist nicht von Geburt an voll entwickelt. So existieren bei einem Neugeborenen nur einige wenige Bahnen zwischen den Augen und den Arealen in der Großhirnrinde, die der Verarbeitung der eintreffenden Signale dienen. Wichtige neuronale Strukturen entstehen erst in den ersten Lebenswochen.
Früher litten Frühgeborene häufig an Augeninfektionen, die zur Erblindung führten. Später wurde die Möglichkeit der Transplantation der Linse entwickelt. Das führte zu der Hoffnung, dass diese Kinder mit einer neuen Linse wieder sehen können, denn es war ja alles vorhanden. Die Enttäuschung war groß, als sich zeigte, dass die Sehfähigkeit nicht wieder hergestellt werden konnte. Der Grund lag darin, dass die entsprechenden Verarbeitungsstrukturen für optische Reize im Gehirn fehlten. Diese hatten sich nämlich nicht bilden können, weil die entsprechende optische Reizzufuhr aus der Umwelt in der sensiblen Phase des Nervenverbindungswachstums in diesem Bereich aufgrund der Linsenschädigung fehlte. Die entstehenden Nervenzellverbindungen sind wieder verkümmert, weil sie aufgrund der fehlenden Anregung von außen nicht aktiviert wurden.
Es hängt also von der Umwelt ab, ob sich neuronale Verschaltungen entwickeln, stabilisieren oder auch wieder verkümmern. Denn die fehlende Benutzung synaptischer Kontakte führt dazu, dass eine Verbindung wieder verschwindet. Wir vergessen dann etwas. Ein Beispiel, das alle kennen, ist die häufige Situation, dass uns zu einem bekannten Gesicht der Name nicht mehr einfällt. Neurobiologisch heißt das, dass sich die Verschaltungen zwischen dem Areal, in dem das Gesicht gespeichert ist, und dem Erinnerungsort des Namens aufgrund zu weniger Aktivierungen aufgelöst haben. Vielleicht haben wir den Menschen seit Jahren nicht gesehen bzw. nicht über ihn gesprochen.
Was also im entsprechenden Zeitfenster wuchert oder wächst, muss auch aktiviert werden, um sich zu stabilisieren. Bleibt dies aus, weil die passenden Reize fehlen, verschwinden die Verbindungen schnell wieder. Die Gehirnentwicklung wird bestimmt durch den Grundsatz: "Use it or loose it". So reduzieren sich die Verbindungen zwischen den Nervenzellen im Laufe der kindlichen Entwicklung wieder um 30% bis 50%, sodass letztlich nur etwa 500 Billionen erhalten bleiben. An diesen Beispielen wird deutlich, dass bei der Gehirnentwicklung bzw. beim Lernen Anregungen durch die Umwelt, also eine Reizzufuhr, ein Input gleich von Anfang an von zentraler Bedeutung sind.
Sprache und Lernen
Alle Lernprozesse folgen diesem Muster, egal ob Wissen erworben wird oder ein Kind sprechen lernt. Es gibt für eine Reihe von Entwicklungsprozessen solche sensiblen Phasen. Wenn es um den Spracherwerb bzw. das Sprechen geht, dann erfolgen die beschriebenen Prozesse in den "Spracharealen", also dem Broca-Areal und dem Wernicke-Areal. Hier beginnen dann die Verbindungen zwischen den Neuronen zu wuchern. In diesem Zeitfenster sind die entstehenden Verbindungen und die synaptischen Kontakte darauf angewiesen, von der Umgebung, also durch Umweltreize aktiviert zu werden. Unterbleibt das, verkümmern die sprießenden Nervenzellverschaltungen wieder. Deshalb ist es gerade dann wichtig, ein "sprechendes" Umfeld zu haben, was ja in aller Regel durch die Eltern oder die Familie gegeben ist. Die im Wachstum befindlichen Areale, die für das Sprechen zuständig sind, müssen immer wieder genutzt und benutzt werden.
Hierbei nimmt das sich entwickelnde Gehirn eine aktive Rolle ein. Es sucht sich die Informationen und Reize, die es als "Futter" für diese Prozesse benötigt. Alles Übrige blendet es aus. Das erklärt auch, warum Kinder sich für andere Dinge interessieren als Erwachsene. Sie achten auf das, was gemäß ihrer Entwicklung gerade wichtig ist. Und so rauscht die Nachrichtensendung über die letzte Bundestagswahl an ihnen vorbei, während der Fisch im Aquarium oder die Oma, die ein Märchen erzählt, volle Aufmerksamkeit genießt. Hier gilt als zentraler Grundsatz, dass die Weiterentwicklung im Gehirn immer auf schon Vorhandenes aufbaut und ein dritter Schritt nicht vor dem zweiten getan werden kann. Das läßt sich auch schön an der Sprachentwicklung absehen. In der Einwortphase lernt das Kind, dass die Dinge der Welt mit Lautfolgen angesprochen und bezeichnet werden können. Zum Beispiel "Ball" steht für jenes runde Ding, mit dem man so schön spielen kann. Dem folgt die Zweiwortphase und die Mehrwortphase, die jeweils die vorangehenden Lernschritte voraussetzen. Entsprechend differenzieren sich die Bereiche aus, die im Gehirn für diese Sprachkompetenzen wichtig sind.
Phasen der Sprachentwicklung |
Einwortphase
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Zweiwortphase
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Mehrwortphase
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Mehrwortsätze
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Einzelne Worte stehen für komplexen Zusammenhang, z.B. "Ba" (Ich will Ball spielen, oder Wo ist der Ball?)
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Telegrammartiger Stil von zwei Worten, meist Substantiv und Verb im Infinitiv, z.B: "Ba ham" (Ich will den Ball haben)
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Drei oder mehr Wörter, meist Substantiv, Verb im Infinitiv und Adjektiv, z.B: "Mama, tomm - nell" (Mama, komm schnell!). Entwicklung eines eigenen grammatischen Bauplans; Variationen von Aussagen, Fragen, Ausrufen
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Differenzierte Sätze mit Nebensatzkonstruktionen; verbesserte Aussprache; Beherrschung schwieriger Laute und Lautkombinationen wie "sch" oder "kn"; starke Zunahme des Wortschatzes
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Exkurs zur Bedeutung von Deutschkenntnissen in der Schule
Das Grundprinzip, das kindliches Lernen neurobiologisch ein Prozess ist, bei dem Neues auf bisher Vorhandenes aufbaut, unterstreicht noch einmal die Bedeutung der Beherrschung der deutschen Sprache in der Schule. Wenn bestimmte grundlegende Lernschritte aufgrund fehlender Sprachkenntnisse nicht gelingen, wird auch darauf aufbauendes Lernen scheitern. Vor allem in unseren Schulen, in denen Lernen sehr stark sprachlich vermittelt ist, führen Lücken in der Sprachkompetenz dazu, dass die Schüler dem Unterricht nicht mehr folgen können. Die Folgen sind Langeweile und Desinteresse, der Nährboden für Störungen. Denn was sollen Kinder machen, wenn sie nicht am Unterricht teilnehmen können? Sie werden stören und andere Schüler daran hindern, sich am Unterricht zu beteiligen. Deshalb ist die Beherrschung der deutschen Sprache eine notwendige Voraussetzungen für gelingenden Unterricht und Sprachförderung eine wichtige Maßnahme.
Wenn die Phase versäumt wird, in der das Gehirn gewissermaßen auf Spracherwerb angelegt ist und eine sprechende Umgebung als Strukturierungshilfe aufsaugt, können sich die erforderlichen Nervenverbindungen nur noch sehr langsam entwickeln. Vollständig und fehlerfrei Sprechen lernen wird nach diesem Zeitfenster, das von der Geburt bis etwa zum 12. Lebensjahr reicht, nahezu unmöglich, wie die einschlägig bekannten Fälle von Genie, Kaspar Hauser oder den Wolfskindern zeigen.
Der Spracherwerb
Wie aber läuft der Prozess des Spracherwerbs konkret? Jedenfalls nicht über bewusste Lernprozesse, also über das bewusste Lernen von Wortbedeutungen und Grammatikregeln. Es ist vielmehr so, dass Kinder bzw. ihre Gehirne Regeln in jeglichem Input, der auf sie einstürmt, erkennen. Zu diesem Input gehört eben auch die Sprache der anderen. Indem Eltern mit ihren Kindern sprechen, werden die dabei wahrgenommenen Lauteinheiten und ihre Beziehungen zueinander in neuronalen Netzwerken abgebildet. Das beruht genau auf denselben Prozessen, die zuvor beschrieben wurden. Die dabei aktivierten Verbindungen werden zunehmend stabiler, wenn das Kind immer wieder mit den gleichen sprachlichen Strukturen konfrontiert wird. Wenn nun bestimmte Sprach- bzw. Lautstrukturen immer wieder im Gesprochenen auftauchen, werden diese neuronal immer wieder aktiviert und schleifen sich ein. Das Kind hat diese Regelmäßigkeiten dann gelernt und kann auf sie zurückgreifen, wenn es selbst zu sprechen anfängt.
Das selber Sprechen aktiviert ebenfalls die entsprechenden Areale im Gehirn und führt so dazu, dass sich die entsprechenden Verschaltungen noch weiter stabilisieren. Vor allem dient es dem Kind, sein Kommunikationsverhalten so zu gestalten, wie es gerade in seiner Entwicklung benötigt wird. Es wurde ja schon darauf hingewiesen, dass das Gehirn an seiner Entwicklung aktiv beteiligt ist, indem es sich auf der Grundlage des Vorhandenen neue Reize sucht. Lernen und auch das Sprechen Lernen sind insofern interaktive Prozesse.
So taucht vielleicht im Leben eines kleinen Kindes die Lautfolge "Auto" immer wieder auf, wenn es ein solches sieht bzw. vor Augen hat. Wenn dies häufig genug geschieht und die Areale des Gehirns für die Verarbeitung des akustischen Reizes "Auto" und für den optischen Reiz des Autos jedes Mal aktiviert werden, entsteht zwischen ihnen eine stabile Verschaltung, und eine "Regel" über den richtigen Gebrauch eines Begriffes ist gelernt. Das ist dann auch die Grundlage dafür, dass das Kind selbst "Auto" sagt. Die freudige Bestätigung der Eltern hilft dann, dass sich diese Lernschritte verfestigen. Denn Neues prägt sich um so besser ein, je mehr es mit Emotionen wie dem guten Gefühl der freudigen Bestätigung durch die Eltern verbunden ist. Auf diese Weise filtert das Kind die regelhaften Zusammenhänge aus den Bemerkungen und Worten des Umfeldes heraus. Ähnlich werden dann später Regeln der Grammatik gelernt, wie z.B. die Pluralbildung: Auto - Autos. Grammatische Regeln finden sich im sogenannten Brocaareal durch bestimmte Verschaltungen manifestiert. Diese kommen zustande, weil immer wieder die entsprechenden Grammatikstrukturen angeboten werden.
Man kann also sagen, "Gehirne sind Regelextraktionsmaschinen" (Manfred Spitzer 2002, S. 75). Sie sind nicht darauf ausgelegt, einzelne Wissenselemente wie Ereignisse oder Fakten zu speichern. Dann wären sie auch bald übervoll. Nur wichtige oder bedeutsame Einzelheiten merkt sich das Gehirn. Ansonsten rauscht die ungeheure Menge an Reizen und Einzelheiten der Wirklichkeit an uns vorbei bzw. durch unsere Informationsverarbeitungssysteme hindurch. Hängen bleiben das Allgemeine, die Regeln, Muster und Zusammenhänge, die immer wieder vorkommen. Kinder lernen dadurch sprechen, dass sie viele Beispiele verarbeiten (z.B. viele tausend Wörter), und aus diesen Beispielen die Grammatikregeln selbst produzieren. Dazu sind viele Lernerfahrungen notwendig, die langsam die Synapsenstärken verändern. Dann "kann" ein Kind eine Regel, ohne dass es sie "weiß". Kinder lernen dabei unerbittlich das, was sie als Input erfahren. Sie lernen dann eben auch sehr zuverlässig die falschen Grammatikregeln, wenn diese als Sprachvorbild fungieren, z.B. "Dann tue ich nach Hause kommen."
Dieser Prozess des Erstspracherwerbs verläuft unbewusst und automatisch sowie aufgrund der besonderen Sensibilität der entsprechenden Gehirnareale für diese Lernprozesse in der frühen Kindheit auch sehr schnell. Ganz anders scheint dies bei den sogenannten "Fremdsprachen" zu sein. Diese werden, wie es jeder Sprachunterricht in der Schule zeigt, über das bewusste Lernen von Regeln und Vokabeln erworben. Grundlage dafür sind aber weitgehend die Kompetenzen des Lernprozesses der Erstsprache. Allerdings zeigen sich hierbei teilweise andere Vorgänge im Gehirn.
Einige Anmerkungen zum Zweitspracherwerb
Neuere Forschungen haben ergeben, dass sich beim späteren Lernen einer zweiten Sprache in Teilen ein neues neuronales Netzwerk in den Sprachzentren des Gehirns entwickelt. Dies trifft etwa beim Fremdsprachenunterricht in der Schule zu oder wenn ein Mensch als älteres Schulkind oder später in ein anderes Land mit einer anderen Sprache umsiedelt. Interessanter Weise sieht das anders aus, wenn ein Kind im frühen Alter zwei Sprachen lernt, also zweisprachig aufwächst. In diesem Fall entsteht ein einziges neuronales Netz für beide Sprachen. In der Computertomografie (CT) werden bei der Nutzung beider Sprachen die gleichen Areale und Bereiche als aktiv angezeigt. Das Kind, das sehr früh mehrere Sprachen erwirbt, lernt dabei jede der Sprachen mühelos und nahezu automatisch.
Wenn ein Mensch hingegen später lernt, dann entwickelt sich für diese zweite Sprache teilweise ein neues Netzwerk. Und das führt dazu, dass das Erlernen dieser zweiten Sprache sehr viel mehr Anstrengung, Mühe und Üben bedeutet und nicht wie bei der ersten Sprache nahezu automatisch und intuitiv durch Nachahmung und fast spielerischem Versuch und Irrtum läuft. Zudem wird auch niemals die Vollkommenheit der ersten Sprache erreicht.
Interessanterweise ist dies noch etwas differenzierter zu sehen. Vor allem im Broca-Areal, das für die Grammatik zuständig ist, ergeben sich für jede deutlich später erworbene Sprache neue neuronale Netze, d.h. gerade im Hinblick auf Grammatik lässt sich durch noch so intensives Lernen nicht der Stand erreichen, den ein "Frühlerner" erreicht. Etwas Ähnliches gilt für die Aussprache - der fremde Akzent bleibt. Dies erklärt auch, warum Gastarbeiter, die schon 30 Jahre in Deutschland leben, an ihrer Sprache erkannt werden können. Hingegen kann der Wortschatz durch entsprechendes Lernen oder durch längere Aufenthalte in einem Land, in dem die gelernte Sprache gesprochen wird, sich dem eines Einheimischen angleichen.
Die Altersgrenze zwischen Frühlernern und Spätlernern (verschiedene Netzwerke für unterschiedliche Sprachen) liegt etwa bei drei Jahren, wobei das allerdings auf Vermutungen beruht. Es gibt Hinweise, dass es auch sechs Jahre sein können.
Übrigens, wer in früher Kindheit zweisprachig aufgewachsen ist, also nur ein neuronales Netz aufgebaut hat für zwei Sprachen, nutzt dieses Netz auch für den Erwerb einer dritten oder vierten Sprache - das heißt, er erlernt weitere Sprachen ähnlich einfach und intuitiv wie seine beiden Erstsprachen. Das erklärt auch, warum es Sprachvirtuosen gibt, die vier, fünf oder mehr Sprachen problemlos beherrschen.
Folgerungen für die Elementarpädagogik
Aus den bisherigen Überlegungen zu den Ergebnissen der Gehirnforschung über das Lernen und den Spracherwerb lassen sich einige wichtige Grundsätze für die pädagogische Arbeit folgern. Gerade für Kinder in Kindertagesstätten mit der Fremdsprache Deutsch - also für Kinder aus einem anderen Herkunftsland, die in Deutschland aufwachsen und für die Deutsch nicht ihre Herkunftssprache ist - ergeben sich wichtige Einsichten.
Für den Spracherwerb ist es sehr wichtig, dass Kinder aktiv sprechen. Nur so können die notwendigen neuronalen Netze entstehen. Kinder bzw. deren Gehirne sind beim Spracherwerb auf sprachlichen Input angewiesen. Aber es ist auch wichtig, dass sie selbst aktiv werden, ihre Kommunikation selbst gestalten, um sich die sprachlichen Reize und Anregungen zu holen, die sie in der jeweiligen Phase ihrer Sprachentwicklung benötigen.
Die Sprachvorbilder müssen dabei korrekt sein. Das kindliche Gehirn filtert unerbittlich die allgemeinen Regeln des sprachlichen Inputs heraus, die ihm angeboten werden. Sowohl Sprachschatz als auch Aussprache und Grammatik werden durch Vorbilder, durch Sprachinput gelernt. Deshalb ist es auch wichtig, dass mit Kindern in ihrer Muttersprache geredet wird, damit sie eine Sprache richtig lernen. Ein Kind fremder Herkunft sollte in Deutschland zu Hause, wenn dort nicht perfekt Deutsch gesprochen wird, in seiner Herkunftssprache sprechen, damit es nicht zwei Sprachen schlecht lernt, sondern sich die entsprechenden neuronalen Netze wenigstens für eine Sprache gut entwickeln. Wie schon gesagt: Kinder bzw. ihre Gehirne sind unerbittliche Regelextraktionsmaschinen, d.h. sie lernen auch ein falsches und holpriges Deutsch "perfekt".
Ein möglichst frühzeitiger Spracherwerb ist ebenfalls wichtig, weil ansonsten das Lernen sehr viel mühevoller wird, wenn die sensible Phase für den Spracherwerb ungenutzt verstreicht. Nur dann sind die entsprechende Areale darauf ausgelegt, sich zu differenzieren. Je früher ein Kind fremder Herkunft also in Deutschland Deutsch lernt, um so besser und einfacher wird es gelingen.
Zudem ist eine Verbindung mit Emotionen hilfreich, weil die neurobiologischen Prozesse des Lernens durch Emotionen beeinflusst werden. Wir lernen besser, wenn der Erwerb neuer Wissensnetzwerke mit Gefühlen verbunden ist. Hierbei handelt es sich um eine spannende Einsicht der modernen Gehirnforschung. Eine positive emotionale Beziehung zum Kind und ein ermutigender Erziehungsstil sind für Lernprozesse und Spracherwerb unabdingbar .
Sicherlich sind diese Folgerungen aus den neurowissenschaftlichen Erkenntnissen zum Spracherwerb alles andere als revolutionär - vieles von dem, was zum Spracherwerb und zur Sprachförderung gesagt wurde, ist sicherlich schon bekannt. Die moderne Gehirnforschung zeigt aber, warum das so ist. Sie verhilft zu einem vertieften Verständnis des Sprechenlernens, weil sie die biologischen Prozesse offenlegt, die dem zugrunde liegen. Und teilweise ergeben sich eben doch auch neue Einsichten, die die pädagogische Arbeit fruchtbar beeinflussen können.
Literatur
Friedrich, Gerhard/ Streit, Christine: Was sich im Kopf abspielt. Erkenntnisse aus der Hirnforschung und ihre Bedeutung für die Elementarpädagogik. In: Kindergarten heute 2002, Jahrgang 32, Heft 9, S. 6-11.
Greenfield, Susan A: Reiseführer Gehirn. Heidelberg, Berlin 2003.
Kolonko, Beate: Sprechenlernen ist eine erstaunliche Leistung. Kinder auf dem Weg zur Sprache. In: TPS - Evangelische Zeitschrift für die Arbeit mit Kindern, Theorie und Praxis der Sozialpädagogik - Sammelband Kinder - Lernen - Bildung, Seelze/Velbert 2002, S. 25-27.
Kramer, Katharina: Wie werde ich ein Sprachgenie? In: Gehirn und Geist, Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg 2/2003, S. 48-50.
Militzer, Renate (Hg.): Wer spricht mit mir? Gezielte Sprachförderung für Kinder mit Migrationshintergrund, Ministerium für Frauen, Jugend, Familie und Gesundheit des Landes Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf Dezember 2001.
Militzer, Renate u.a. (Hg.): Wie Kinder sprechen lernen. Entwicklung und Förderung der Sprache im Elementarbereich, Ministerium für Frauen, Jugend, Familie und Gesundheit des Landes Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf März 2001.
Singer, Wolf: "Früh übt sich..." Zur Neurobiologie des Lernens. In: Mantel, Gerhard (Hg.): Ungenutzte Potentiale. Wege zu konstruktivem Üben, Schott, Mainz 1998, S. 43-53.
Singer, Wolf: Was kann ein Mensch wann lernen? Ergebnisse aus der Hirnforschung. In: TPS - Evangelische Zeitschrift für die Arbeit mit Kindern, Theorie und Praxis der Sozialpädagogik - Sammelband Kinder - Lernen - Bildung, Seelze/Velbert 2002, S. 4-9.
Spitzer, Manfred: Lernen. Gehirnforschung und die Schule des Lebens, Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg, Berlin, 2002.