Frühkindliche Geschlechtsidentität

Margarete Blank-Mathieu

Wer denkt, ein Kind erwerbe seine Geschlechtsidentität erst im späten Kindesalter oder gar als Erwachsener, wird sich sicher wundern, dass hier über frühkindliche Geschlechtsidentität gesprochen werden soll. Aber ein Kind ist von Anfang an ja auch ein geschlechtsgebundenes Wesen. Bereits im Mutterleib wird es mit seinem endgültigen Geschlechtswesen ausgestattet. Die heutige Gehirnforschung geht so weit, dass sie Aussagen als wissenschaftlich erwiesen ansieht, dass Jungen und Mädchen durch die Einwirkung von Geschlechtshormonen eine unterschiedliche Gehirnstruktur bekommen. Aber auch die Vorstellungen der Eltern von der zu erwartenden Geburt eines Jungen oder eines Mädchens hat Auswirkungen auf die Grundstimmung, die ein Kind bereits vor der Geburt erleben kann.

Dass die Sozialisation eine zusätzliche Rolle spielt, wenn ein Kind geboren ist, leuchtet den meisten Menschen ein.

Was ist aber unter "Geschlechtsidentität" zu verstehen?

Darunter verstehen wir die subjektive Einschätzung einer Person von sich selbst im Unterschied zur Beurteilung der eigenen Person durch andere. Das schließt auch die Geschlechtszugehörigkeit ein. Diese subjektive Einschätzung muss, um als gelungen bezeichnet zu werden, ein stimmiges Selbstbild ergeben. Nur wenn ich mich in meinem Körper (der entweder männlich oder weiblich ist) zu Hause fühle, kann ich auch von einer gelungenen Geschlechtsidentität sprechen. Dass sich diese nicht von Beginn des Lebens einstellt, und immer wieder neu definiert werden muss, ist eine logische Schlussfolgerung. So ist vor allem die Pubertät noch einmal eine Phase, in der das eigene Selbstbild auch in Bezug auf die Geschlechtszugehörigkeit neu gefunden werden muss. Selbst Erwachsene sind nicht davor gefeit, ihre Identität, die im Wesentlichen mit der Geschlechtszugehörigkeit zusammenhängt, immer wieder neu für sich selbst zu definieren.

Geschlechtsidentität bezeichnet also keinen abgeschlossener Prozess, sondern beginnt vor der Geburt und muss lebenslang immer wieder bearbeitet und neu definiert werden.

Wenn wir hier von frühkindlicher Geschlechtsidentität sprechen, so müssen wir drei Dimensionen bedenken: die biologischen Komponenten, die psychologischen Komponenten und die soziokulturellen Komponenten, die bei der Erlangung und Stabilisierung der Geschlechtsidentität jeweils verschränkt und meist nicht bewusst zusammenwirken.

1. Die biologischen Aspekte der Geschlechtsidentität

Der Fötus im Mutterleib ist zunächst geschlechtsneutral. Erst durch die Einwirkung von Geschlechtshormonen entwickeln sich dann die sekundären Geschlechtsmerkmale, die unser Bild von der Geschlechtszugehörigkeit prägen. So werden Kinder nach der Geburt anhand ihrer äußeren Geschlechtsmerkmale dem einen oder anderen Geschlecht zugeordnet. In manchen Fällen kann dies problematisch sein, weil die äußeren Geschlechtsmerkmale z.B. mit der geschlechtsbezogenen "Persönlichkeitsstruktur" nicht übereinstimmen. Ein Kind kann sich als Mädchen fühlen, obwohl es männliche Geschlechtsmerkmale besitzt. In nicht wenigen Fällen wird dadurch eine Dramaturgie des Lebens in Gang gesetzt, die eine gelingende Geschlechtsidentität massiv erschwert.

Menschen, die mit einer solchen zwiespältigen Geschlechtszugehörigkeit leben müssen, werden selten Verständnis von ihrer Umwelt erfahren, da die meisten Menschen sowohl in ihrem äußeren Erscheinungsbild als auch in ihrer inneren Struktur einem Geschlecht zugeordnet werden können.

Es gibt mindestens zehn Geschlechter, so hat es eine Wissenschaftlerin einmal ausgedrückt. Das bedeutet, dass Menschen auch in Bezug auf ihr biologisches Geschlecht unterschiedlich sein können (und sind). Dies bedeutet, dass Frauen manchmal als männlich erlebt werden und Männer einen eher weiblichen Eindruck machen. Dies ist in der Regel kein Problem, um eine Geschlechtsidentität zu erwerben. Dass Jungen innerhalb ihres Geschlechts, Mädchen innerhalb derselben Geschlechtsgruppe unterschiedliche Verhaltens- und Erlebensformen besitzen, ist für die meisten nicht entscheidend, um sich eindeutig der Jungen- oder Mädchengruppe zuordnen zu können.

"An der ist ein Junge verloren gegangen", wird häufig für Mädchen gebraucht, die jungenhafte Verhaltensweisen besitzen, sich entweder wie Jungen benehmen oder besondere Begabungen besitzen, die eben eher dem männlichen Geschlecht zugeordnet werden. Ob dies aber biologische Ursachen hat, kann heute in den meisten Fällen noch nicht erforscht werden.

Das biologische Geschlecht ist unveränderbar. Bei ganz dramatischen Persönlichkeitsdissonanzen ist eine Geschlechtsumwandlung die einzige Möglichkeit, eine Annäherung an eine gelingende Geschlechtsidentität zu erreichen.

Da aber eine gelingende Geschlechtsidentität nicht allein vom biologischen Geschlecht abhängt, müssen andere Komponenten stets mitbedacht werden.

2. Die psychologischen Aspekte der Geschlechtsidentität

Heute wissen künftige Eltern schon relativ frühzeitig Bescheid über das Geschlecht ihres zu erwartenden Kindes. Dies ist in Bezug auf die Geschlechtsidentität eben dieses Kindes nicht unerheblich. Da mit dem Wissen über das Geschlecht des Fötus im Mutterleib bei beiden Eltern Phantasien und unbewusste Vorstellungen in Gang gesetzt werden, wird dies auch dem Kind schon vor der Geburt "mitgeteilt". Ein mit Freude erwartetes Mädchen oder die Vorfreude auf einen kleinen Jungen erspürt das Kind in positiver Weise und kann sich daher auch gut entwickeln. Ängste der Eltern jedoch machen auch den Fötus ängstlich. Die Gefühle der Mutter übertragen sich auf das Ungeborene. Väter, die die Mutter in dieser Zeit positiv und unterstützend begleiten, tun dies auch für das ungeborene Kind.

Frauen, die mit Männern negative Erfahrungen gemacht haben oder machen, werden es schwerer haben, ihr Kind nicht auf dieser Gefühlsebene negativ zu beeinflussen. Frauen, die eine unsichere oder negative Geschlechtsvorstellung von sich selbst entwickelt haben, werden auch in Bezug auf das zu erwartete Mädchen überzogene oder negative Vorstellungen weitergeben. So ist es für werdende Eltern ganz wichtig, sich mit ihrer eigenen Geschlechtszugehörigkeit noch einmal auseinander zu setzen, sobald sie wissen, welchem Geschlecht ihr künftiges Kind angehört.

Viele unbewusste Erlebnisse mit Männern und Frauen spielen bei der Erwartung, in Bezug auf Jungen oder Mädchen, eine nicht unerhebliche Rolle und müssen, so es möglich ist, aufgedeckt und bearbeitet werden. Dies gilt nicht nur für die vorgeburtliche Phase, sondern auch für alle mit Kindern zu verbringende Lebenszeit.

3. Die soziokulturellen Aspekte der Geschlechtsidentität

Einen ganz entscheidenden Einfluss auf die Entwicklung der Geschlechtsidentität hat das Aufwachsen in einer bestimmten Kultur. So gibt es gravierende Unterschiede vom Selbstverständnis eines Kindes in einer Stammeskultur in der Südsee und in einem Industrieland.

Wie Menschen ihre Geschlechtsrolle in einer bestimmten Kultur leben, wird von Kindern häufig durch Nachahmung übernommen. Bereits Kinder im Alter von zwei Jahren ahmen Erwachsene ihres eigenen Geschlechts lieber nach als Erwachsene der gegengeschlechtlichen Seite. Jungen interessieren sich für die Tätigkeit des Vaters, Mädchen für die der Mutter. Da häufig nur die Tätigkeit erlebt wird, die Väter und Mütter zu Hause ausüben, werden diese Rollen in die eigene Vorstellungswelt integriert. Deshalb ist das Verhalten von Vater und Mutter und ihre gegenseitige Akzeptanz sehr wichtig für Kinder beiderlei Geschlechts. Wo sie erleben, dass alle Tätigkeiten von Vater und Mutter gemeinsam als wichtig empfunden werden und wechselweise je nach Bedarf übernommen werden, entstehen bei Kindern keine Bewertungen von negativ besetzten Geschlechtsrollen.

Allerdings ist der Einfluss der Familie sehr begrenzt. Sobald das Kind einen Schritt in die Außenwelt macht, wird es dort ebenfalls mit unterschiedlichen Frauen- und Männerrollen konfrontiert. Außerdem hört es Äußerungen über die Bewertung des eigenen Verhaltens: "Du benimmst dich ja wie ein Junge!" oder: "Ein Junge ist doch nicht wehleidig!" machen auf Kinder "Eindruck". Selbst wenn es gut gemeinte Sätze sind, die ein Kind hört, wird es immer auch die Vorstellungen, was für ein Mädchen oder einen Jungen "richtig" ist, mithören.

Sehr bald spielt hier auch die Gleichaltrigengruppe eine sozialisierende Rolle. Vor allem bei Jungen, die in einem überwiegend weiblichen Umfeld aufwachsen (ohne oder nur mit einem zeitweilig zur Verfügung stehenden Vater oder einer anderen Männerperson), spielt der große, starke, übermännlich sich gebärdende Junge (oder Phantasiemann aus der Fernsehsendung) eine nachahmenswerte Rolle bei der Geschlechtsorientierung.

4. Was bedeutet das aber für eine Geschlechtsidentitätsentwicklung von Geburt an?

Das biologische Geschlecht, die unbewussten Mitteilungen, die soziokulturellen Erfahrungen eines Kindes - dies alles führt letzten Endes zu einer wie auch immer gearteten Geschlechtsidentität. Für das gesunde Aufwachsen von Kindern heute ist es enorm wichtig, ihnen viele Möglichkeiten zu bieten, unterschiedliche Ausprägungen von männlichem oder weiblichem Verhalten erlebbar zu machen. So können sie ihrer eigenen Identität am besten näher kommen und sich diese Elemente im Leben Erwachsener heraussuchen, die für sie und ihr eigenes Leben stimmig sind. Dass eine negative Bewertung eines einzelnen Geschlechts, sei es des männlichen oder des weiblichen, auch einen negativen Einfluss auf das Zusammenleben der Menschen hat, bedeutet, dass wir die Verhaltensbewertung nicht auf männlich oder weiblich ausrichten, sondern alle positiven Verhaltensweisen sowohl von männlichen als auch weiblichen Personen gezeigt werden können. Die Gesundheit unserer Kinder, die auch stets mit einer gelingenden Geschlechtsidentität zusammenhängt, muss uns am Herzen liegen.

Weiterführende Literatur der Autorin zum Thema

Kleiner Unterschied - große Folgen? Freiburg: Herder 1997; München: Ernst Reinhardt Verlag 2002

Jungen im Kindergarten. Frankfurt/Main: Brandes & Apsel 1996, 2. Auflage 2006

Dissertation zum Thema "Sozialisation, Selbstkonzept und Entwicklung der Geschlechtsidentität bei Jungen im Vorschulalter". Tübingen: Universitätsbibliothek Tübingen 2002. Unter: http://w210.ub.uni-tuebingen.de/dbt/volltexte/2002/470 (auch als Textversion)

Erziehungswissenschaften, Band II, Kapitel "Sexualpädagogik". Neusäß: Kieser 1999; 2. Auflage bei Bildungsverlag EINS 2006 (in Vorb.)

Unterschiedliche Aspekte der Thematik werden in weiteren Fachartikeln in www.kindergartenpaedagogik.de behandelt.

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