Familien mit behinderten Mitgliedern

Martin R. Textor

Zwischen 3 und 4% aller Kinder werden mit Behinderungen oder perinatal begründeten Anomalien geboren. Für Eltern ist ihre Geburt ein großer Schock. Dieser wird noch häufig dadurch verstärkt, dass viele Ärzte nicht in der Lage sind, die Nachricht auf taktvolle und schonende Weise zu übermitteln. Sie beschränken sich zudem in der Regel auf medizinische Aspekte, lassen die Eltern also in ihrer Not allein. Ferner können sie nach der Geburt oft nur unzureichende Informationen über Art und Ausmaß der Behinderung geben. So kommt es zumeist zu einer großen Familienkrise, die zumeist in Phasen verläuft:

  1. Die Familienmitglieder fühlen sich in ihrer gesamten Existenz und in ihren Zukunftshoffnungen bedroht, reagieren mit tiefer Erschütterung, Verzweiflung, Trauer und Angst. Viele Eltern betrachten sich als verantwortlich für die Behinderung ihres Kindes, sehen sie als "Strafe für ihre Sünden" an oder machen einander Vorwürfe. Manchmal kommt es zu psychosomatischen Reaktionen oder Selbstmordgedanken.
  2. In der Regel leugnen Eltern zunächst die Behinderung ihres Kindes.
  3. Dann lehnen sie sich gegen ihr Schicksal auf, wollen den Tod ihres Kindes und reagieren auf diesen Wunsch mit starken Schuldgefühlen.
  4. Später versuchen sie, mit dem Schicksal zu verhandeln, konsultieren zum Beispiel mehrere Ärzte, beten zu Gott, nehmen an religiösen Zeremonien teil.
  5. Schließlich akzeptieren sie ihr Schicksal und bewältigen die Krise auf eher negative oder eher positive Weise: Sie lehnen das Kind entweder ab und versuchen beispielsweise, es in einem Heim unterzubringen, oder sie nehmen es an und ändern ihren Lebensplan. Aber auch im letztgenannten Fall kann es lange dauern, bis sie sich nicht mehr von ihrem Kind abgestoßen fühlen und eine positive Haltung ihm gegenüber einnehmen.

Eltern behandeln behinderte Kinder entweder eher wie "normale" oder wie besondere Kinder. Häufig ist das Familienleben um das behinderte Kind herum zentriert. Da die Früherziehung von großer Bedeutung für seine weitere Entwicklung ist - je früher eine Förderung einsetzt und je intensiver sie ist, umso größer ist in der Regel der Erfolg -, entwickeln viele Eltern in diesem Bereich eine große Geschäftigkeit. Sie verbringen mehrere Stunden täglich mit therapeutischen Maßnahmen, bieten dem Kind bestimmte Entwicklungsanreize und die von ihm benötigte besondere Beziehungsqualität (zum Beispiel viel Aufmerksamkeit und Zuwendung). Durch strapazierende Übungen, eine strenge Diät, das Bestehen auf penetranter Sauberkeit und Ordnung sowie die Mechanisierung der Eltern-Kind-Beziehung reagieren aber auch manche ihre Aggressionen gegenüber dem Kind ab.

Viele Eltern erleben Schwierigkeiten, wenn sie eine gründliche ärztliche und pädagogische Beratung oder eine finanzielle Unterstützung erhalten wollen. So beschränken manche Ärzte die medizinische Betreuung nach der Diagnose der Behinderung auf die Verordnung von Medikamenten und auf die Hilfe in akuten Notlagen. Vor allem auf dem Land und in kleineren Gemeinden ist es schwer, Informationen über eine der Behinderung angemessene Erziehung einzuholen. Derartige Hinweise können vielfach nur von Behindertenorganisationen erhalten werden. Außerdem mangelt es an Betreuungs- und Fördermöglichkeiten - aber auch in vielen Städten ist das Netz ambulanter Hilfsdienste nur unzureichend ausgebaut. Hinzu kommt, dass manche Eltern in Auseinandersetzungen mit Vertretern von Behörden und Sozialversicherungen verwickelt werden, wenn sie eine finanzielle Unterstützung oder die Übernahme der Kosten für Krankengymnastik, heilpädagogische Maßnahmen u. Ä.. beantragen. Auch gewinnen sie bisweilen bei Sozialämtern den Eindruck, dass sie mit Asozialen und anderen Randgruppen gleichgestellt werden.

Der hohe Zeitaufwand für die Versorgung und Betreuung behinderter Kinder - insbesondere wenn diese pflegebedürftig sind oder nicht alleingelassen werden dürfen - führt oft zu einer starken physischen und psychischen Belastung der Mütter, die in der Regel die Erziehung übernehmen. Sie müssen eine Vielzahl ihrer Bedürfnisse zurückstellen, wichtige Lebensziele aufgeben und auf viele Möglichkeiten der eigenen Selbstverwirklichung verzichten. Häufig verfügen sie über wenig Freizeit, finden nur noch wenig Gelegenheit zur Entspannung und Regeneration, können den Kontakt zu Freunden und Bekannten nicht mehr pflegen und fühlen sich aus diesem Grunde einsam und isoliert. Hinzu kommt, dass sie meistens ihre Berufstätigkeit und die damit verbundenen Befriedigungen aufgeben müssen. Dieses kann auch zu finanziellen Belastungen für die Familie führen, die durch öffentliche Leistungen nur ansatzweise kompensiert werden. Hier wirkt sich negativ aus, dass eine Pflege- und Betreuungstätigkeit in der Familie nicht als Lohnarbeit bezahlt wird und zum Beispiel bei der Berechnung einer späteren Rente nur unzureichend Berücksichtigung findet.

In vielen Fällen kommt es zu einer stark ausgeprägten Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern, sodass die Mütter bei der Betreuung des behinderten Kindes, im Haushalt und bei der Erziehung anderer Kinder kaum von ihren Männern entlastet werden. Aufgrund der intensiven Beschäftigung mit dem Behinderten vernachlässigen sie oft dessen Geschwister und ihre Ehepartner. In anderen Fällen ziehen sich die Väter nach der Geburt eines behinderten Kindes aus der Familie zurück, konzentrieren sich auf ihren Beruf oder flüchten an den Stammtisch beziehungsweise in Vereine. Manche intensivieren aber auch die Beziehungen zu ihren nichtbehinderten Kindern, während sie sich kaum um das behinderte kümmern. Manche Ehepartner entfremden sich voneinander und lassen sich unter Umständen sogar scheiden, insbesondere wenn ihre Ehe zusätzlich durch Schuldgefühle oder Schuldzuschreibung, interpersonale Konflikte oder gesellschaftliche Isolation belastet ist. Der erlebte Stress kann ferner zu psychischen Störungen, Suchtmittelmissbrauch oder psychosomatischen Beschwerden (vor allem bei einer uneingestandenen Ablehnung des Kindes) führen.

Die gemeinsame Betreuung eines behinderten Kindes kann jedoch auch die Ehe der Eltern stärken, eine Intensivierung der Kommunikation hervorrufen sowie eine Zunahme an Liebe, Zärtlichkeit, Geduld, gegenseitiger Rücksichtnahme, Verständnis, Bescheidung und Demut bewirken. Viele Eltern werden sich mehr und mehr der positiven Seiten behinderter Kinder bewusst - wie beispielsweise ihrer unmittelbaren Herzlichkeit, ihres Vertrauens, ihres unbeschwerten Spiels sowie der Ganzheit und Eindeutigkeit ihrer Gefühle. Sie freuen sich über jeden Entwicklungsfortschritt.

Auch die Beziehung der Geschwister untereinander kann sehr verschieden sein: Viele Kinder begegnen einem behinderten Geschwisterteil besonders liebevoll und geduldig. Er mag sogar ihr Favorit werden, da er außerhalb der üblichen Rangordnung steht und nicht als Konkurrent erlebt wird. Sie betreuen ihn freiwillig mit, handeln ihm gegenüber nur selten aggressiv und zeigen viel Verständnis für sein Verhalten. In anderen Fällen lehnen sie aber das behinderte Kind ab und empfinden ihm gegenüber Feindseligkeit, Hass oder Neid. Sie mögen besonders ernst und frühreif werden, sich vorzeitig von ihren Eltern ablösen und unter Umständen aus ihrer Familie flüchten. Viele Geschwister behinderter Kinder erleben, dass ihre Eltern nur wenig Zeit für sie haben. Oft werden sie überfordert, müssen zum Beispiel viele Aufgaben im Haushalt übernehmen. Häufig werden sie aber auch überbehütet oder stehen unter einem großen Leistungsdruck, da sie ihre Eltern über die Mängel des behinderten Kindes hinwegtrösten sollen. Generell werden ihre Reaktionen zu einem großen Teil dadurch bestimmt, wie sich ihre Eltern gegenüber dem behinderten Geschwisterteil verhalten.

Die Existenz eines behinderten Kindes hat auch Auswirkungen auf das Netzwerk. So tendieren viele Eltern dazu, sich und ihr Kind von der Umwelt abzuschirmen. Sie brechen nach seiner Geburt Kontakte zu Freunden, Bekannten und Kollegen ab, kündigen die Mitgliedschaft in Vereinen und Verbänden. Häufig werden sie aber auch von Netzwerkmitgliedern ausgeschlossen, die sich von ihnen distanzieren, intolerant, ablehnend, gleichgültig oder vorurteilsbeladen reagieren und zu keinerlei Unterstützung bereit sind. Schreiner (zitiert nach Kluge/Hemmert-Halswick 1982: 376) schreibt über das Verhalten der sozialen Umwelt: "Familien mit schwerstbehindertem Kind sind Familien, die tagtäglich von früh bis spät und oft auch in der Nacht im Anblick ihres Kindes daran erinnert werden, dass sie von ihren Mitmenschen, auch von denen, die den gesellschaftlichen Auftrag haben, oft in weiten Bereichen allein gelassen werden. Es sind Familien, denen von der Gesellschaft nur wenig Rechte für ihr Kind zugestanden werden, obwohl ein Schwerstbehinderter rechtlich mit allen anderen gleichgestellt ist. Es sind Familien, über deren Kinder viele glauben, öffentlich und ungefragt diskutieren zu können, ob sie lebenswert oder -unwert sind. Das sind Familien, deren Kinder von der Gesellschaft nicht nur abgelehnt, sondern auch als nichtexistent behandelt werden".

Eltern und Geschwister eines behinderten Kindes erleben immer wieder, dass andere Menschen es ignorieren, es anstarren oder ihm nachschauen, übertrieben hilfsbereit sind oder ablehnend reagieren. Sie mögen derartige Situationen als peinlich erleben, sich zurückziehen oder sich aggressiv verhalten. Aber auch die meisten Behinderten werden sich mit zunehmendem Alter der Ablehnung, Distanzierung oder Gleichgültigkeit ihrer Mitmenschen bewusst und müssen sich mit deren Reaktionen auseinander setzen. Diese Situation wird noch dadurch verschlimmert, dass nur ein verschwindend kleiner Prozentsatz behinderter Kinder in Regelschulen und Kindergärten integriert wird. Die meisten werden in Sonderkindergärten, Sonderschulen, Heimen oder Rehabilitationszentren von ihrer Umwelt isoliert und an ihrer "Normalisierung" gehindert.

Viele Probleme von Familien mit behinderten Kindern resultieren auch aus Erziehungsfehlern. So verzärteln und verwöhnen viele Eltern ihre behinderten Kinder, verhalten sich ihnen gegenüber inkonsistent, machen sie zu Sündenböcken oder lassen sie nicht erwachsen werden (Überbehütung, Symbiosen). Manche setzen ihnen keine Grenzen, sodass diese die ganze Familie beherrschen. Werden die Kinder älter, haben viele Eltern Schwierigkeiten mit ihrem Pubertätsverhalten, insbesondere mit ihrem Bedürfnis nach sozialen und sexuellen Kontakten mit dem anderen Geschlecht. Bei Jugendlichen wird auch die berufliche und gesellschaftliche Integration zu einem großen Problem, da es nur wenig Ausbildungs- und Arbeitsplätze für sie gibt. So bleiben Behinderte deutlich länger bei ihren Eltern wohnen - oft bis diese sie aufgrund ihres fortgeschrittenen Alters nicht mehr versorgen können. Dann lässt sich in der Regel eine Heimeinweisung nicht mehr vermeiden. Ältere Behinderte, die selbständig leben können, üben oft nur wenig qualifizierte Berufe aus und sind häufig arbeitslos. Aufgrund ihres niedrigen Einkommens sind sie vielfach auf Sozialhilfe und andere öffentliche Leistungen angewiesen. Auch ist es in der Regel schwer, eine behindertengerechte Wohnung zu finden und sie zweckmäßig einzurichten. Große Probleme ergeben sich ferner aus dem Wunsch nach einem Lebenspartner.

Literatur

Eckert, A.: Familie und Behinderung. Studien zur Lebenssituation von Familien mit einem behinderten Kind. Hamburg 2012

Görres, S.: Leben mit einem behinderten Kind. München 1987

Kluge, K.-J./Hemmert-Halswick, S.: Familie als Erziehungsinstanz. Teil I: Eltern in Not - Probleme in der Familienerziehung. Zur Notwendigkeit von Elternberatung und Elternarbeit. München 1982

Textor, M. R.: Behinderte Kinder und ihre nicht behinderten Geschwister. 2013, https://www.kindergartenpaedagogik.de/fachartikel/kinder-mit-besonderen-beduerfnissen-integration-vernetzung/behinderte-kinder/2260/

Zinrajh, K.: Das behinderte Kind. Das behinderte Kind und seine Familie. Saarbrücken 2011

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