Eine tote Mama ist keine richtige MamaEmotionale und soziale Auswirkungen von Angst, Scham und Schuld im Trauerprozess von Kindern

Gertrud Ennulat

Der erste Satz des Themas lässt sich verändern. Für das eine Kind heißt es dann: "Ein toter Papa ist kein richtiger Papa", für das andere: "Eine tote Oma ist keine richtige Oma", und für mich hieß der Satz einmal: "Ein toter Bruder ist kein richtiger Bruder". In dieser Aussage steckt gleichzeitig meine Motivation für das Thema Kindertrauer. In meine Ausführungen fließen deshalb auch eigene Kindheitserfahrungen aus der Zeit nach dem 2. Weltkrieg mit ein. Damals ließ man Kinder in offene Särge hineingucken, vergaß aber, mit ihnen darüber zu reden.

Wer sich mit der Trauer von Kindern beschäftigt, stößt unweigerlich auf Killersätze, die das Denken und Fühlen der Erwachsenen leider immer noch beherrschen. Die können doch gar nicht trauern. Denen macht der Tod doch gar nichts aus. Die stecken den Tod doch weg. Seit ich in Freuds Schrift Trauer und Melancholie auf seine Gedanken über Kinder und Trauer gestoßen bin, sehe ich das hartnäckige Weiterleben falscher Tatsachen auch auf diesem Hintergrund. Freud war der Meinung, Kinder haben keine Fähigkeiten zu trauern. Die seelische Aufgabe, welche sie mit der Klärung ihrer Trauer lösen müssen, könnten sie noch nicht handhaben. Sie sei zu schwer. Erst in der Adoleszenz, wenn die Entwicklung fortgeschritten ist, könne man von echter Trauer sprechen. Damit hat Freud das Kind als Mangelwesen bezeichnet und seine Unfähigkeit zu trauern für viele Jahrzehnte festgeschrieben.

Das Interesse an Kindertrauer ist in den letzten Jahren gestiegen, aber wer wissenschaftlich begleitete Studien und Untersuchungen über trauernde Kinder bei uns in Deutschland sucht, muss sich mit einzelnen Fachartikeln begnügen. Bei der Suche im englischen Sprachraum kommt man allerdings ins Staunen, denn da wurde mehr geforscht und publiziert als bei uns. In meine Ausführungen habe ich Anregungen aus einer amerikanischen Studie aus dem Jahr 2000 übernommen. Sie hat den Titel Healing Children's Grief - Surviving a Parent's Death from Cancer. Autorin ist Grace Christ. Dabei wurden 157 Kinder, deren Mutter oder Vater an Krebs starben, über die Dauer von 6 Monaten vor und 14 Monaten nach dem Tod durch professionelle Helfer begleitet.

1. Das Phänomen Kindertrauer

Trauer ist die Antwort auf Verlust. Menschen sind mit dieser Emotion ausgestattet, um Verlusterfahrungen zu bewältigen. Die Trauer eines Kindes z.B. ist das Ergebnis eines komplexen Zusammenspiels von äußeren Umständen und inneren Gegebenheiten. Dabei sind folgende Faktoren wichtig:

  1. Kann das Kind emotional Antworten geben auf das Ereignis?
  2. Auf welchem Entwicklungsstand steht es derzeit?
  3. Welche spezifische Bedeutung hat der Tod z.B. der Tante für das Kind?
  4. Bestehen zusätzliche Stressfaktoren wie Geldprobleme, Scheidung oder frühere Verlusterfahrungen?
  5. Wie steht es mit der natürlichen Stärke oder Schwäche des Kindes?
  6. Kann sein Durchhaltevermögen die potenzielle Wirkung von Stressoren an einem bestimmten Punkt seiner Entwicklung abpuffern oder verschlimmert sich sein Zustand?
  7. Worin besteht seine charakteristische Verletzbarkeit?
  8. Welche Auswirkungen hat die sich verändernde Beziehung zum Verstorbenen im Laufe der Zeit?
  9. Wie verletzlich sind seine Eltern und das Versorgungssystem, in dem es lebt?
  10. Wie steht es um die Fähigkeiten der Eltern?

Jeder Verlust durch den Tod ist eine Tragödie für ein Kind. Hat es nicht ein unveräußerliches Recht auf Sicherheit und verlässliche Menschen? Ist es von Natur aus nicht darauf angewiesen, nach dem Motto Die Welt ist meine Auster leben zu können? Doch was kümmert das den Tod? Er zerstört die Grundlagen seines bisherigen Lebensgefühles, und das Kind ist in Gefahr, ins Bodenlose zu fallen. Verhindern können das nur verlässliche Beziehungen in einem stabilen Versorgungssystem, die es wieder in die Lage versetzen, sich neu zu verankern. Mir gefällt das Bild des Ankers, den das Kind auswirft , um seinem Lebensschiff neuen Halt zu geben.

Was sind Halt gebende Erfahrungen? Die Rituale des Alltags, das Schwungrad von Kindergarten und Schule, kreatives Tun, das Resonanz gibt und die große innere Anspannung kleiner macht.

Bis das Lebensschiff des Kindes jedoch wieder auf einer beruhigten Wasseroberfläche hin- und herschaukeln kann, muss es eine enorme Leistung vollbringen. Die Wucht der Verlusterfahrung ist vergleichbar einem riesigen Wasserfall, der sich plötzlich über ein Kind ergießt, auf es herab donnert. Das Ereignis besteht aus kumulativen Effekten, die in erster Linie Stresserfahrungen bewirken. Stress wirkt sich negativ auf das Selbstvertrauen des Kindes aus und stört seine Wahrnehmung. Auf nachfolgende Ereignisse kann es nicht länger flexibel antworten, wird also in seinen gewohnten Kompetenzen beeinträchtigt. Alles, was es bisher als gut und förderlich erlebt hat, verändert seine Qualität. Vertrauen, Sicherheit, Zuversicht und Selbstachtung als Folge der Wertschätzung durch andere - alle diese guten Bedingungen seines Lebens verändern sich vehement durch den Verlust.

Wenn das Umfeld des Kindes seine Not versteht und beantwortet, wirkt sich dies als Puffer aus, lindert den Schmerz und bringt Momente der Beruhigung ins aufgewühlte kindliche Gemüt. Dann gibt es immer wieder Phasen der Beruhigung, und das Kind hat die Chance, sich ein neues Bild von der Welt zu schaffen. Durch den Verlust und seinen ganz spezifischen Trauerprozess erhält es einen veränderten Blick auf die Welt und widerlegt damit alle Erwachsenen, die nichts wissen von seiner hohen Anpassungsbereitschaft und Lernfähigkeit, die gesteuert wird von seinen vitalen kindlichen Wachstumskräften.

2. Angst und ihre emotionalen und sozialen Auswirkungen

In keinem anderen Lebensabschnitt wird so viel Neues gelernt wie in der Kindheit. Dabei wirkt die kindliche Neugier als Motor; jeden Tag erweitert ein Kind spielend und forschend seine Aktionsräume. Es lernt ängstliches Zurückweichen ebenso kennen wie beherztes Vorwärtsstürmen. Doch alle diese erworbenen Kompetenzen setzt der Tod schachmatt. Ohne Rücksicht auf den kindlichen Entwicklungsstand mutet seine unerbittliche Macht dem Kind zu, dass Papa tot ist, weg ist und nie wieder kommt. Der Tod mutet dem Kind einen strapaziösen Lernprozess zu und zwingt es, einen neuen Stand in der Welt zu suchen. Dieses Curriculum des Lebens ist von viel Angst begleitet, schließlich erfährt das Kind zum ersten Mal die Macht des Numinosen.

In erster Linie sind es Verlust- und Trennungsängste, die das Kind bei nichtigen Anlässen überreagieren lassen. Manche Kinder kleben an den Erwachsenen wie eine Klette, wollen sich durch die körperliche Nähe des Erwachsenen beruhigen und schützen vor den aus ihnen herausbrechenden heftigen Affekten. Sie leben in einer ständig lauernden hohen Angstbereitschaft. Die Linse ihrer Augen ist getrübt durch die Verlusterfahrung des Todes; von ihrem natürlichen Welteroberungsstreben ist kaum noch etwas zu sehen. Ängstlich geworden verengen diese Kinder ihren gewohnten Aktionsradius, wollen nicht mehr zum Spielen nach draußen, kontrollieren zwanghaft jeden Schritt des Erwachsenen, um sich Sicherheit zu geben. Angst, Angst, Angst, ruft es aus dem Wald heraus. Alles macht Angst, innen und außen. Mama telefoniert, das Kind hört zu, Mama spricht mit dem Arzt, der die verstorbene Großmutter behandelt hatte. Plötzlich bricht das Kind in wütendes Weinen aus, schreit mit hochroten Gesicht: "Ich weiß, du hast Krebs, und du stirbst!"

Dieses Kind sorgt sich um die Gesundheit der Mutter, während andere von der panischen Angst geplagt werden, sie würden selber eine zum Tod führende Krankheit bekommen. Abends sind sie nur mit Hilfe von komplizierten Strategien ins Bett zu bekommen, trauen sich nicht die Augen zu schließen, denn ihr Vertrauen in die Nacht und ihre Fähigkeit, sich in die schützenden Arme der Dunkelheit fallen zu lassen, ist sehr beeinträchtigt. Was hilft? Die schützende körperliche Bastion des Erwachsenen, an der die Angst des Kindes auflaufen kann. Bleibst du bei mir, bis ich schlafe? Bist du da, wenn ich aufwache?

In solchen Zeiten ist der Umgang mit Kindern schwierig. Immer wieder nimmt die Angst vor dem Verlassenwerden, der Trennung überhand und behindert Kinder auch in ihrer natürlichen Spielfreude. Ihre innere Spannung löst und transformiert sich nicht mehr übers Spielen. Oft verrennen sich Kinder noch stärker in ihre Ängste, entwickeln Phobien, verweigern den Besuch des Kindergartens oder der Schule und blockieren jegliche Form sozialen Lebens außerhalb der Wohnung. Auf diese Weise ist das Kind innen und außen von seinen natürlichen Ressourcen abgeschnitten. Wesentliche Transformatoren seines Kräftehaushaltes werden nicht benutzt.

Irgendwann steht es dann doch in der Schule oder im Kindergarten. Der Erwachsene ruft alle 14 Notheiligen um Beistand an, stellt dann aber erstaunt fest, wie das Kind ganz selbstverständlich in seine vertraute Rolle schlüpft, herumtollt und in seinem Verhalten von anderen Kindern nicht mehr zu unterscheiden ist. Ist da ein Wunder geschehen?

In der außerfamiliären Einrichtung wird das Kind angeschlossen an das gewohnte Zusammenspiel der Kräfte in seiner Gruppe oder Klasse. Es hat wieder Kontakt zu den gesunden Wachstumskräften der Gemeinschaft, ist wieder Teil eines sozialen Ganzen und wird von den anderen Kindern gespiegelt, so wie es ist. Die Verlusterfahrung ist in den Hintergrund gerückt, das Kind wird in der Konstanz seiner Person bestätigt und erfährt: Ich bin wie die anderen. Es tut gut, sich dessen immer wieder zu vergewissern; die meisten Kinder strengen sich an, wollen sich immer wieder beweisen, genauso o.k. zu sein wie die anderen.

Dann kann ein nichtiger Anlass dazu führen, dass die verletzliche Identität zusammenbricht. Ein kleiner Alltagsstressor hat sich zum Hauptstressor Verlusterfahrung addiert, das Fass läuft über, und das Kind erlebt sich schmerzhaft als unterschieden von den anderen. Ich bin wie die anderen, aber ich bin auch anders, weil ich etwas erlebt habe, was die anderen nicht kennen, ich bin dem Tod begegnet. Damit muss das Kind von klein auf die große Spannung aushalten, welche mit der Ambivalenz des Lebens verbunden ist, und das ist keine leichte Aufgabe!

Ältere Kinder und Jugendliche sind noch mehr darauf bedacht, zu sein wie die anderen. Groß ist ihr Erschrecken über die Heftigkeit der Trauergefühle. Sie haben Angst, im Beisein von anderen ihre Fassung zu verlieren und ziehen sich zurück. Eine 14jährige sagt: "Wenn ich alleine in meinem Zimmer bin, dann weine ich, dann kommen die traurigen Gedanken. Aber das sage ich meiner Mutter nicht!" Was hindert das junge Mädchen daran, ihre Trauer mit der Mutter zu teilen? Wieder ist es Angst. Angst vor den Reaktionen des Erwachsenen und dem, was aus dem Inneren herausbricht. Wer einmal erlebt hat, wie die Mutter oder der Vater von Emotionen überwältigt wurde, nimmt sich vor, in Zukunft solche Situationen zu vermeiden. Da wir aber in einer Zeit leben, in der das Rauslassen von Gefühlen als Tugend angesehen wird, meinen manchmal betroffene Erwachsene, dies auch ihren Kindern gegenüber tun zu müssen und vergessen, wie schlimm es für diese ist, wenn die wichtige Bezugsperson die Fassung verliert. Nach dem Tod seines Vaters sagte ein 9jähriger Junge: "Wenn Mama weint, weine ich auch. Dann denke ich an den Papa, und dann weiß ich nicht, ob wir es schaffen!" Der Verlust an Sicherheit und Normalität weckt die Angst vor der Zukunft.

3. Schuld und ihre emotionalen und sozialen Auswirkungen

Wenn der Tod unberechenbar, willkürlich ins Leben eines Kindes von 3 bis 8 Jahren eingreift, verliert es nicht nur einen Menschen oder ein liebes Tier, sondern sieht sich auch als Versager, weil es den Tod nicht hat verhindern können. Bisher hat es mit Hilfe seines altersgemäß entwickelten Allmachtsdenkens immer Lösungen für die Probleme seiner Welt gefunden. Nun aber kommt es an Grenzen seines natürlichen Denkens und Fühlens. Der Erwachsene als logisch denkender Mensch hat große Mühe mit den kindlichen magisch-mythischen Denkmustern. Er möchte sie dem Kind gerne ausreden, denn sie erschweren ihm die Verarbeitung. Wie sieht so ein kindlicher Gedankengang aus?

Das Kind verknüpft Ereignisse miteinander, die objektiv gesehen nichts miteinander zu tun haben. Toms Vater ist an Leukämie gestorben. Als er noch gesund war, gab es irgendwann einen alltäglichen Zwischenfall in der Küche. Der Junge hatte mit Wasser gespielt, der Boden war nass, und der Papa hatte nicht aufgepasst, war ausgerutscht. Als der Vater später krank wurde und starb, verknüpfte das Kind seine eigene Ungeschicklichkeit mit der Krebserkrankung des Vaters. Sein Denken stellt zwei zeitlich weit auseinander liegende Ereignisse in Beziehung zueinander und verknüpft sie kausal. "Ich bin schuld, dass mein Papa an Krebs gestorben ist, weil ich in der Küche Wasser auf den Boden gekleckert habe, und der Papa ausgerutscht ist!" Auf der Suche nach Erklärungen kommt das Kind nicht weit, denn es bezieht gemäß seiner kindlichen Egozentrik alles Geschehen auf sich.

Dem Erwachsenen läuft es heiß und kalt über den Rücken, und schon gibt er kurze und einsichtige Erklärungen, die das Kind jedoch nicht übernehmen kann. Gegen das magische Denken ist einfach kein logisches Kraut gewachsen. Auch Kinder im späten Grundschulalter können durch die Erschütterungen der Todeserfahrung auf ihr eigentlich schon überwundenes magisches Denken zurückfallen und sind dann erneut von der Allmacht ihrer Worte und Taten überzeugt. Ein 7jähriges Mädchen betet abends, Gott möge ihre Tante von den schlimmen Schmerzen erlösen. Als die Tante am nächsten Tag wirklich stirbt, sagt das Kind: "Ich glaub, ich bin schuld!"

Diese Aussage kann ein Erwachsener nicht tolerieren. Er möchte vor allem dem Kind die Schuld nehmen, aber was soll er machen, wenn alle Versuche der Korrektur dieses vermeintlichen Denkfehlers fehlschlagen? Das Kind sperrt sich gegen die Erklärungen; es kann durchaus sein, dass es plötzlich etwas ganz anderes erzählt. Die Beweiskette des Erwachsenen will das Kind auf eine sichere Ausgangsbasis zurückführen, doch dessen Gedanken landen an einem ganz anderen Ort. Das muss der Erwachsene akzeptieren; er darf nicht vergessen, dass sich die kognitiven und emotionalen Fähigkeiten des Kindes ständig weiter entwickeln. Es wäre also falsch, die Sichtweise des Kindes auf den momentanen Stand einzufrieren. Es ist aber auch falsch zu meinen, das Kind schaffe das von alleine. Das tut es nämlich nicht! Es braucht ein Gegenüber, das kontinuierlich seine logischen Fehler korrigiert und klärt, so dass die durch das magische Denken verursachten Schuldgefühle aufgeweicht werden.

Sobald der Erwachsene begriffen hat, das A und O im Bereich Kindertrauer ist der spezifische Entwicklungsstand des Kindes, wird der Umgang miteinander leichter. Wenn er gleichzeitig akzeptiert, dass jedes Kind, das dem Tod begegnet ist, immer wieder über das Verlusterlebnis sprechen muss, dann geht es beiden gut. Kinder müssen die Abfolge der Ereignisse immer von neuem hören. Da sich ihr Entwicklungsstand stetig verändert, müssen sie die Geschehnisse auf den neuesten Stand ihrer Kompetenzen bringen. Durch diesen Ausgleich verringert sich die große Unsicherheit und die Last der Schuldgefühle. Um sich zu regenerieren, neigen 3- bis 8jährige Kinder dazu, einen Teil ihrer Trauer in Form von vielen fröhlichen Erinnerungen auszudrücken. Mit diesen lustigen Geschichten schaffen sie sich Luft, was sie aber nicht daran hindert, eine unlogische, durch ihr magisch-egozentrisches Denken bedingte persönliche Verantwortung für den Tod eines geliebten Menschen zu übernehmen. Ein Mädchen glaubt z.B., dass die Träume, die sie von ihrer Mutter geträumt hat, deren Tod verursacht hätten. Als Folge tauchten Suizidgedanken auf als Strafe für ihr Verbrechen.

Leichter haben es dann die 9- bis 11jährigen Kinder, deren logisches Denken sich kraftvoll weiter entwickelt. Damit steht ihnen ein Werkzeug zur Verfügung, mit dem sie das Durcheinander, das der Tod angerichtet hat, auf die Reihe bringen können. Zwar leiden auch sie unter Schuldgefühlen, doch sie können ihr Denken umkehren und gehen mit Informationen durch Erwachsene so um, dass sich ihre Not lindert. Wunsch und Realität sind voneinander unterschieden. Ein 11jähriger sagt: "Mein Vater hat mir gesagt, der Krebs, an dem die Mama starb, ist nicht meine Schuld. Aber manchmal ist es mir halt so!"

Quälende Schuldgefühle kennen auch trauernde Erwachsene. Haben sie irgendeinen Sinn? Wenn plötzlich Schluss ist, wird schmerzhaft bewusst, dass vieles ungesagt bleibt. Es gibt den gewohnten Austausch nicht mehr. Da ist ein mir vertrauter Mensch für immer gegangen, und ich bin ihm so viel schuldig geblieben. Aber Schuldgefühle äußern auch die, welche gehen müssen. Todkranke Mütter und Väter, die für ihre Kinder nicht mehr sorgen können.

4. Scham und ihre emotionalen und sozialen Auswirkungen

Angst, Scham und Schuld hängen miteinander zusammen. Alle drei gehören zu den ungeliebten Emotionen, weil sie mit unangenehmen Erfahrungen und Körpergefühlen verbunden sind. Scham ist ein äußerst unangenehmes Gefühl, das auftritt, wenn man sich anderen gegenüber exponiert fühlt. Scham ist also eine sozial wirksame und in besonderem Maße selbstreflexive Emotion. Im Gegensatz zum Schuldgefühl steht nicht das Übertreten eines Gebotes im Vordergrund, sondern die Verletzung des Selbst. Der Schämende fühlt sich den Blicken anderer ausgesetzt, sieht seine Selbst- und Intimitätsgrenzen in Gefahr und möchte der Situation ausweichen. Scham hat eine schützende Funktion, denn sie zwingt mich dazu, dass ich auf mich schaue, mich schütze und nicht weiter entblöße. Die Scham zieht mich aus der Situation heraus, isoliert mich, wirft mich auf mich zurück und sensibilisiert mich gleichzeitig für die Meinungen und Empfindungen anderer.

Für Kinder, die nach einem Todesfall in ihrer Familie wieder in die Schule oder den Kindergarten gehen, heißt deshalb die wichtige Frage: Wie werden mir die anderen begegnen? Bin ich o.k.? Sobald das Kind den Schutz seiner Wohnung verlassen hat, registriert es die Verhaltensweisen der Menschen in der Öffentlichkeit. Die Erfahrungen der nächsten Tage beeinflussen seine Kommunikation mit den Menschen seines Umfeldes.

  • Da ist eine Nachbarin, die fragt so viel und drückt mich auch noch an ihren dicken Busen. Eine gut gemeinte Geste der Zuwendung erlebt das Kind als peinlich und schämt sich.
  • In der Klasse sind plötzlich alle so übertrieben nett, auch die Kinder, die mich sonst nie leiden konnten. Irgendwie peinlich. Das Kind schämt sich.
  • Beim Montagskreis sprechen die Klassenkameraden von ihren Wochenenderlebnissen. Ich sage, wir waren bei meiner Mama auf dem Friedhof. Dann haben ein paar Kinder mich ausgelacht. Denen sag ich nie wieder etwas von meiner Mama. Ich hab mich geschämt.
  • Mein großer Bruder hat sich aufgehängt. Jetzt fragen mich andere Kinder auf dem Schulhof in der Pause, ob ich dabei war. Das macht mich so wütend und ich schäme mich.

Scham macht sensibel, und das Kind, das einen Menschen durch Suizid verloren hat, spürt die Unsicherheit des Fragers und schämt sich. Für wen schämt es sich eigentlich? Für den Fragesteller, den es nicht befremden will? Für den Verstorbenen, den es nicht bloßstellen möchte? Oder für sich, weil es etwas erlebt hat, was es von den anderen trennt? Kinder, die in ihrer Familie einen Suizid erlebt haben, zeigen danach deutlich mehr Verhaltensauffälligkeiten und Ängste als andere, wie eine weitere amerikanische Untersuchung zeigt.

5. Trauergruppen für Kinder

In England und Amerika sind Trauergruppen für Kinder nichts Außergewöhnliches. In Deutschland gibt es dieses Angebot an manchen Orten im Rahmen von Hospizgruppen oder auf privater Basis. Doch tun sich Erwachsene noch sehr schwer, ihr Kind in eine solche Gruppe zu geben. Wer sich trotzdem traut, profitiert davon, denn die Besuche des Kindes in der Trauergruppe fördern seine Bereitschaft für das Gespräch in der Familie. Vor allem aber wird ihm ein unsichtbaren Makel genommen. "Ich hab gedacht, ich bin das einzige Kind in der Stadt, das eine tote Mama hat!" sagen Kinder oft nach dem ersten Besuch einer Trauergruppe. Im Austausch mit andern Kindern, die dem Tod begegnet sind, lockert sich ihre Scham, und sie können sich der Welt wieder offener zuwenden.

Durch einen Todesfall wird die gewohnte natürliche Ordnung einer Gemeinschaft gestört. Die Betroffenen und ihr Umfeld müssen mit der Leerstelle, die der Tod geschaffen hat, leben. Da war eine, und jetzt ist sie weg! Ein junger Vater, dessen Frau gestorben war, beklagt sich im parallel zur Kindergruppe stattfindenden Gesprächskreis für Erwachsene über seine Nachbarn, die ihm nicht zugestehen wollen, dass es ist, wie es ist. Er und seine Kinder lernen mit ihrem veränderten Leben zurecht zu kommen. Doch für die Nachbarn scheint er mit seiner Familie eine Provokation zu sein. Denen wäre es am liebsten, er würde so schnell wie möglich wieder heiraten, damit sich die Leerstelle schließt.

Bei Kindern läuft ähnliches ab. Da gibt es Witzeleien: "Wann heiratet deine Mama wieder? Kriegst du wieder einen Papa?" Bei den amerikanischen Kindern spielen diese Fragen eine wichtige Rolle, da das dating in Amerika ein Indiz für soziales Ansehen ist. Viele Kinder der Untersuchung sprechen mit dem verwitweten Elternteil sehr offen über eine mögliche Wiederverheiratung und machen sich genaue Gedanken, um einen neuen Partner für die Mama oder den Papa zu finden. Eine 5Jährige sagt, sie hätte gerne zwei Väter, falls einer stirbt, dann hat sie noch einen. Mit solchen Äußerungen werden Kinder schnell falsch verstanden. Erwachsene sehen darin einen Mangel an Liebe zum Verstorbenen. Aber die Sehnsucht nach der gewohnten Familie kann auch als ein Anzeichen dafür gesehen werden, dass die Kinder in die Phase der Rekonstitution eintreten. Die heiße Phase der Trauer läuft sich aus, das Kind hat in seiner Familie erfahren, dass sich eine neue stabile Ordnung bildet und es wieder guten Boden unter die Füße bekommt.

6. Scham hat eine Schutzfunktion

Sehr großer Schmerz und erfahrenes Leid haben die Neigung, sich hinter einer Mauer der Scham zu verbergen. Sobald sich der Schmerz meldet, meldet sich auch die Scham. Ich möchte sprechen und schäme mich gleichzeitig so sehr, dass ich am liebsten in den Boden versinken würde. Ich kann mein Gegenüber nicht ansehen und möchte doch, dass er mir zuhört. Im Märchen von der Gänsemagd gibt es eine solche Situation. Der alte König hat gemerkt, dass mit der Gänsemagd etwas nicht stimmt. Als er sie darauf anspricht, bittet sie, dem Ofen ihr Leid klagen zu dürfen. Der König erfüllt diesen Wunsch, und mit der Ofenklage wandelt sich ihr Schicksal.

Im Umgang mit Kindern habe ich Ähnliches erlebt. Das Kind erzählt von seinem Schmerz um den Verlust der Großmutter und schaut mir dabei nicht ins Gesicht, sondern starrt auf irgend einen Fleck an der Wand. Anfangs hatte ich dies als eine Vertrauensschwäche angesehen. Das ist es aber nicht. Es ist die Scham, über das große Leid zu sprechen.

Was bleibt mir am Ende noch zu sagen? Trauer ist eine Emotion, eine Bewegung des Gefühls. Bei Kindern sind Angst, Scham und Schuld wichtige Stationen des Trauerprozesses, die sich im sozialen Verhalten ausdrücken. Ein Kind zeigt eigentlich immer sehr genau, wo es innerlich steht. Es wartet auf den Erwachsenen, der mit ihm geht. Dann kann sich seine Trauer wandeln in gutes und verlässliches Leben.

Literatur

Christ, Grace: "Healing children's grief", New York, Oxford University Press 2000

Ennulat Gertrud: "Kinder in ihrer Trauer begleiten - ein Leitfaden für Erzieherinnen", Herder Verlag 1998

Ennulat Gertrud: "Kinder trauern anders - wie wir sie richtig und einfühlsam begleiten können", Herder Verlag 2003

Ennulat Gertrud: "Ängste im Kindergarten", Kösel Verlag 2001

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