Aus: G. Gutheil/ P.Opora: Perspektiven des Pädagogikunterrichts. DIDACTA NOVA Band 14. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren 2004
Norbert Kühne
Dr. Rainer Schandry ist Professor für Biologische Psychologie im Departement Psychologie der Universität München. 2003 hat er im Beltz Verlag, Weinheim, das Lehrbuch "Biologische Psychologie" publiziert, ein umfangreiches Werk in einer Disziplin, die noch nicht so viel an systematischen Publikationen zu bieten hat. Alle, die danach suchen, finden in diesem Band eine gut lesbare und sehr differenzierte Einführung.
Norbert Kühne: Herr Prof. Schandry, Ihr Kollege Prof. Ernst Pöppel (Medizinische Psychologie, München) hat in einem Interview mit dem FOCUS vom 17.12.2001 Lehrern ins Stammbuch geschrieben, sie ignorierten seit zwei Jahrzehnten die Forschungsergebnisse der Neurologie - eine Wissenschaft, deren Ergebnisse inzwischen allerdings auch unter Pädagogen diskutiert werden. Welche Ergebnisse gibt es denn in der biologischen Psychologie, die für Lehrer und Erzieherinnen (in Kindertagesstätten) interessant sein könnten? Können Sie ein paar Beispiele nennen?
Rainer Schandry: Neuropsychologen haben herausgefunden, dass kognitive Stimulierung durch die Eltern in der frühen Kindheit zu einer Zunahme der Verarbeitungskapazität im Gehirn in den entsprechenden angeregten Lernbereichen führt. D.h. man sollte Kinder möglichst früh in möglichst vielen unterschiedlichen Bereichen (schreiben, rechnen, Instrumente spielen usw.) kognitiv fördern, so dass sie in diesen Gebieten später besser und schneller lernen können.
Der Magdeburger Psychologieprofessor Scheich zeigte an einem Experiment mit Ratten, dass die Ausschüttung des Botenstoffes Dopamin (der besonders im Zusammenhang mit angenehmen Erlebnisqualitäten freigesetzt wird) während eines Lernprozesses zu einer verlängerten Speicherung des Gelernten im Langzeitgedächtnis führt und die Motivation zum Lernen bei den Ratten steigert. Daraus schlussfolgert er, dass Freude und Spaß auch beim Menschen positive Auswirkungen auf den Lernprozess haben müssten.
Des Weiteren hat sich in neurobiologischen Untersuchungen gezeigt, dass die Lerngeschwindigkeit mit zunehmendem Alter in verschiedenen Bereichen der menschlichen Gehirnrinde in ähnlicher Weise abnimmt, was bereits im Alter von 17 Jahren beginnt und nicht erst, wie oft angenommen, im Rentneralter. Das Wissen über die Lerngeschwindigkeit sollte in der Bildung auch nicht vernachlässigt werden.
Norbert Kühne: Nun wird in der öffentlichen Bildungsdiskussion wieder einmal und nahezu einmütig die Bedeutung der Früherziehung hervorgehoben, als sei es eine fundamental neue Erkenntnis. Was ist denn eigentlich neu daran, seit z.B. R. Spitz nachgewiesen hat, dass Reizmangel verheerende Folgen für die Entwicklung eines Menschen haben kann? Es gibt ja vergleichbare Ergebnisse bei der Erforschung der Sozialisation von Affen und Ratten.
Rainer Schandry: Die Früherziehung wird deshalb so oft in der Bildungsdiskussion thematisiert, weil sie eine wichtige Rolle für den weiteren Lebensverlauf eines Menschen spielt. Soziale Risiken in den ersten Lebensjahren (wie z.B. zu wenig Aufmerksamkeitszuwendung, mangelnde verbale Stimulierung seitens der Eltern) können lang anhaltende kognitive und auch soziale Defizite der Kinder zur Folge haben.
Eine neue Erkenntnis bezüglich der Früherziehung seit Spitzs Forschungsergebnissen ist z.B., dass frühes Lernen festlegt, wie viel Verarbeitungskapazität für bestimmte "Lernbereiche" im Gehirn entwickelt wird. D.h. je mehr ein Kind im jungen Alter durch Stimulierung seitens der Eltern lernt, umso mehr Neuronen entwickeln sich für das Ausüben bestimmter Tätigkeiten, wie dem Spielen eines Instruments.
Außerdem gibt es einige Forschungsergebnisse, die zeigen, dass eine anregende Früherziehung in spezifischen Institutionen, wie Kindertagesstätten oder -gärten, zu einer verbesserten kognitiven Entwicklung führt. 1980 wurde von Carew z.B. ein Zusammenhang zwischen dem kognitiven Niveau der Kinder und dem anregenden Einfluss durch die Erzieherinnen nachgewiesen. Die sprachliche Anregung und die Fördermaßnahmen seitens der Erzieherinnen bei den 18 Monate alten Kindern spiegelten sich dann in der intellektuellen Leistung der Kinder mit drei Jahren wider. Anderson wies 1989 nach, dass Kinder, die früher eine Kindertagesstätte besuchten, sowohl in ihren schulischen Leistungen, in ihren kognitiven Fähigkeiten als auch in ihrem sozial-emotionalen Bereich eindeutige Vorteile gegenüber den Kindern hatten, die zu einem späteren Zeitpunkt in die Tagesstätte eintraten.
Norbert Kühne: Unter US-Linguisten gibt es offenbar eine starke Fraktion, die dazu tendiert - um es vorsichtig zu formulieren, die Sprachkompetenz (LAD) als genetisch determiniert zu begreifen. Viele europäische Psychologen sehen das anders. Das ist eine neue Auflage der Anlage-Umwelt-Diskussion. Gibt es in Ihrem Institut eine formulierbare Position in dieser Sache?
Rainer Schandry: Wir vertreten die Ansicht, dass die Sprachkompetenz weitestgehend angeboren ist. Hierfür sprechen verschiedene Forschungsergebnisse und Beobachtungen. Zum einen lernen alle Kinder annähernd zum selben Zeitpunkt ihre Muttersprache, und sie benötigen auch etwa dieselbe Zeit für den Erwerb. Deshalb können Umwelteinflüsse nicht die ausschlaggebenden Komponenten für den Spracherwerb sein. DeCaspar und Spence haben darüber hinaus nachgewiesen, dass Säuglinge bereits im pränatalen Zustand sensitiv für prosodische Muster und für Rhythmus sind, was eine wichtige Voraussetzung für den Spracherwerb darstellt. Außerdem zeigen einige Krankheiten, dass Spracherwerb auch bei eingeschränkten kognitiven Fähigkeiten möglich ist: Bei Patienten mit dem Down-Syndrom konnte man z.B. feststellen, dass diese trotz eingeschränkter intellektueller Fähigkeiten eine elaborierte Sprache erwerben können.
Norbert Kühne: Eric Lenneberg hat in seinem Werk "Biologische Grundlagen der Sprache" (Frankfurt, 1972; Biological Foundations of Language, New York 1967) bereits die "kritische Periode" als sensible Zeit für den Spracherwerb definiert. Neurologen bemühen heute den Begriff "Zeitfenster". Ist der begriffliche Unterschied willkürlich - oder gibt es gute Gründe für den neuen Begriff?
Rainer Schandry: Die Begriffe "sensible Phase" und "Zeitfenster" des Spracherwerbs beschreiben beide einen begrenzten Zeitraum im Leben eines jeden Menschen, innerhalb dessen Erfahrungen mit der menschlichen Sprache maximale positive (oder negative) Auswirkungen haben, d.h. innerhalb der sensiblen Phase funktioniert der Spracherwerb um einiges leichter und schneller als außerhalb. Deshalb haben Einwandererfamilien oft Probleme beim Erlernen der neuen Sprache. Je später diese in das neue Land einwandern, umso schlechter erlernen sie die Sprache. Allerdings bezieht sich dies primär auf die Grammatik der Sprache und weniger auf das Vokabular.
Es gibt allerdings auch Befunde, die die Bedeutung der sensible Phase des Spracherwerbs relativieren: Zweisprachlern ist es auch im Erwachsenenalter noch möglich, die Grammatik der fremden Sprache zu erlernen. Der Pole Josef Korzeniowski (bekannt unter dem Namen Joseph Conrad) eignete sich z.B. noch mit 20 Jahren die englische Grammatik wie ein Einheimischer an.
Norbert Kühne: Das Problem der Konzentration und Konzentrationsfähigkeit der Schüler/innen beschäftigt - das kann man sich denken - seit Jahrzehnten die Lehrer und alle pädagogisch Arbeitenden. Viele Pädagogen beklagen die Konzentrationsschwäche ihrer Schüler/innen. Gibt es auch für die Entwicklung der "Konzentrationskompetenz" so etwas wie ein Zeitfenster?
Rainer Schandry: Dies würde ich, solange hier keine eindeutigen wissenschaftlichen Befunde vorliegen, eher verneinen.
Norbert Kühne: Seit Jahrzehnten bemühen Pädagogik-Lehrer im Wesentlichen den klassischen (Pawlow) und verstärkungstheoretischen Hintergrund, wenn sie Lernprozesse sichtbar machen wollen. In der Publikation von M. Spitzer "Lernen" (Heidelberg/ Berlin, 2002) geht es nicht mehr vorrangig um die Begrifflichkeit des operanten Konditionierens, da andere Aspekte in den Vordergrund treten. Sie haben in Ihrem Buch (2003) ausführlich die neuronalen Grundlagen des klassischen und operanten Konditionierens gewürdigt. Welchen wissenschaftlichen Fortschritt gibt es in der Diskussion um Lernprozesse?
Rainer Schandry: Neuropsychologen sind der Meinung, dass Kinder möglichst früh anfangen sollen zu lernen, da sich die Nervenzellen in der frühen Kindheit noch in der Entwicklung befinden. Noch in der Mitte der neunziger Jahre hieß es, man solle Kinder im Alter von null bis drei Jahren möglichst oft kognitiv stimulieren, um die Bildung neuronaler Verknüpfungen (Synapsen) zu fördern, die den Lernprozess verbessern sollen. Es wurde eine sensible Phase für die Entwicklung der kognitiven Fähigkeiten postuliert. Die spätere Gehirnforschung hat allerdings gezeigt, dass eine größere Anzahl von Synapsen nicht in jedem Fall später zu besserem Lernen führt. Andererseits wurde in weiteren Forschungen gezeigt, dass frühe Erfahrungen für die kognitive Entwicklung dennoch eine große Rolle spielen, denn frühes Lernen bestimmt durch die vermehrte Neuronenentwicklung die spätere Verarbeitungskapazität in den entsprechenden Lernbereichen.
Die These der sensiblen Periode für das Lernen wird allerdings von der Gegnerseite der Neurobiologen zunehmend relativiert. Nach Greenough z.B. existieren auch Lernprozesse, die erfahrungsabhängig sind, d.h. sie finden dann statt, wenn die entsprechende Stimulation von der Umwelt geboten wird. Mike Posner lehnt die These, dass die kognitive Stimulierung für die neuronale Entwicklung in den ersten drei Jahren wesentlich ist, sogar vollkommen ab. Es gibt nach ihm also keine allgemein höhere Lernbereitschaft im Kindesalter, vielmehr verweigern kleine Kinder zu große Komplexität von Information.
Zum anderen vertreten Neurobiologen die Meinung, besonders der Magdeburger Physiologieprofessor Scheich, dass Kinder Freude am Lernen haben sollen, da dann Gelerntes länger im Gedächtnis behalten wird. Er lenkt allerdings selbst ein, dass dauerhaftes Lernen nicht nur durch Spaß und Lob funktioniert. Vielmehr ist er der Meinung, dass Herausforderungen das Lernen fördern.
Der Ulmer Psychiatrieprofessor Manfred Spitzer dagegen meint, dass primär der emotionale Zustand einer Person während eines Lernprozesses bestimmt, wo der entsprechende Input im Gehirn gespeichert wird. Bei positiver Stimmung wird die Information im Hippocampus, bei negativer im Mandelkern gespeichert. Wenn Information aus dem Mandelkern abgerufen wird, kann Angst entstehen, was dazu führt, dass das lockere Assoziieren mit der entsprechenden Information erschwert wird. D.h. mit dem gespeicherten Material kann weniger kreativ umgegangen werden. Dadurch kommt es zu einer geringeren praktischen Anwendung des Gelernten.
Elisabeth Stern, Kognitionspsychologin am Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin, kritisiert hier, dass nicht nur der emotionale Zustand der Person ausschlaggebend für den Lernprozess ist, sondern auch die Qualität des Unterrichts: Je anregender desto besser.
Während die Humanwissenschaftler und die Kognitionspsychologen also die neuronalen Grundlagen des Lernens immer noch zurückhaltend betrachten und der Umwelt eine größere Rolle beim Lernen zuschreiben, sehen die Neurobiologen in der Gehirnentwicklung die Basis der Lernprozesse beim Menschen.
Norbert Kühne: Nehmen wir an, Sie machten eine Fortbildung für Pädagogik-Lehrer (am Gymnasium und aus dem berufsbildenden System Erzieher-Ausbildung): Welche zentralen Erkenntnisse würden Sie den Lehrern empfehlen, die sie an die Schüler/innen im Hinblick auf Lernprozesse weitergeben sollten? Wir müssen davon ausgehen, dass ein Teil der Schüler/innen später in pädagogischen Berufen tätig und deshalb daran interessiert sein wird, Erkenntnisse aus der Schule mindestens in ihre jeweilige Orientierung einzubauen, wenn nicht sogar praktisch nutzbar zu machen.
Rainer Schandry: Wenn man sich an den in der vorherigen Frage beschriebenen empirischen Befunden orientiert, so würde ich den Lehrern empfehlen, die Freude am Lernen herauszustellen, etwa indem ich die Schüler bei erfolgreicher Ausführung einer Aufgabe konsequent lobe, selbstverständlich auch den Unterricht anregend und herausfordernd gestalte. Die Kinder dürfen nicht überfordert werden, d.h. die kognitive Stimulation muss ihrem Alter angepasst sein. Dabei muss auch beachtet werden, dass die Lerngeschwindigkeit der Jugendlichen bereits im Alter von 17 abnimmt. Falsch ist es auf jeden Fall, Angst und Druck bei den Schülern zu erzeugen, denn dadurch wird der kreative und praxisbezogene Anwendungsprozess des Gelernten gehemmt.
Norbert Kühne: Welche Chancen sehen Sie in der eher naturwissenschaftlich orientierten psychologischen Forschung der letzten Jahre für die wissenschaftliche Diskussion über Erziehung?
Rainer Schandry: Nach meiner Meinung wird die diesbezügliche kontroverse Diskussion noch einige Jahre andauern. Mit der zunehmenden - jetzt schon feststellbaren - Beachtung neurowissenschaftlichern Ergebnisse in der akademischen Psychologie wird man allerdings die neurobiologischen Befunde auch im Bereich der Erziehungswissenschaften als wesentliche Grundtatsachen des Fachs akzeptieren.
Norbert Kühne: Ganz herzlichen Dank für das Interview!
Literatur
Rainer Schandry: Biologische Psychologie. Weinheim: Beltz Verlag 2003