Daniela M. I. Pichler-Bogner
"Eine Familie nimmt in einem Restaurant Platz. Die Kellnerin notiert die Bestellung der Erwachsenen und wendet sich dann dem jüngsten Sohn zu. "Und was darf's für dich sein, Kleiner?" fragt sie. "Ich möchte einen Hot dog", kommt schüchtern die Antwort. Noch ehe die Kellnerin es aufschreiben kann, unterbricht die Mutter: "Nein, nein, keinen Hot dog, bringen Sie ihm Kartoffeln, Braten und etwas Karottengemüse." Aber die Kellnerin nimmt überhaupt keine Notiz von der Mutter. "Möchtest du Ketchup oder Senf zu deinem Hot dog haben?" fragt sie den Buben. "Ketchup", antwortet er und strahlt über das ganze Gesicht. "Kommt sofort", sagt sie und geht zur Küche. Als sie fort ist, herrscht betretenes Schweigen am Tisch. Endlich schaut der Bub seine Eltern an und sagt: "Seht ihr, sie denkt, ich bin echt."
Das Bild vom Kind
Es ist das Bild vom Kind, das unseren Umgang mit ihm prägt, hat Anna Tardos aus dem Pikler-Institut in Budapest immer wieder betont. Und es macht einen gravierenden Unterschied, ob wir in einem Säugling bei seiner Geburt einen Menschen sehen, den wir als verständig und empfindsam betrachten oder ob wir ihn als 'noch nicht fertigen Menschen' ansehen. Dementsprechend werden wir ihn auch behandeln.
Bei der Pflege wirkt sich das meist so aus, dass wir ihn gut versorgen, dass wir ihn säubern, dass wir ihm zu essen geben, dass wir ihn warm kleiden, dass wir alle seine Grundbedürfnisse erfüllen und unsere Aufgabe tun. Was wir nicht wahrnehmen ist, dass alles, was wir mit einem Säugling tun, unvorbereitet geschieht, wenn wir ihm keine Möglichkeiten geben, sich darauf einzustellen. Und die Möglichkeit, sich darauf einzustellen, ist jene, ihn zu informieren, ihm mit Worten Orientierung zu geben, um sich auf das, was kommen wird, vorbereiten zu können. Diese Worte richten wir aber nur an ihn, wenn wir davon ausgehen, dass er sie auch versteht, dass es sozusagen Sinn macht, über diese Dinge mit ihm zu reden.
Und da sind wir wieder beim Bild vom Kind, das unser Verhalten beeinflusst. Wie oft habe ich schon zu hören bekommen, dass Kinder in diesem Alter ja noch nicht verstehen. Oder die erstaunte Frage: "Ja, versteht er denn das schon?"
Wenn man Kinder beobachtet, ihren Blick, mit dem sie unseren Worten lauschen, mit dem sie unsere Handlungen begleiten, dann beginnt man wahrzunehmen, dass sie sehr wohl verstehen bzw. dass sie zumindest interessiert sind: Daran, dass sich hier jemand mit ihnen unterhält, dass diese Worte an sie gerichtet sind und mit ihrer Person zu tun haben.
Dass es nicht damit getan ist, Worte zu äußern und im nächsten Atemzug zu handeln, wird einem sehr bald bewusst, wenn man wiederum das Kind beobachtet. Man wird feststellen, dass irgendwann - und das meist sehr bald -, sein Blick abgleitet und es nicht mehr in dieser aufmerksamen Form mit uns in Kontakt ist, sondern dass der kleine Mensch aufgrund der Tatsache, dass er sich nicht mehr angesprochen erlebt, das Interesse verliert und abschweift.
Natürlich erhebt sich die Frage, wodurch er sich angesprochen fühlt, denn Worte haben wir auch in diesem Fall an ihn gerichtet. Angesprochen und ernst genommen erlebt sich der Säugling, wenn er erfährt, dass uns seine Reaktion wichtig ist. Dass es uns ein Anliegen ist zu erfahren, wie unsere Worte bei ihm ankommen. Und dafür braucht es Zeit und Achtsamkeit. Es kann der Blick, der Ausdruck im Säugling sein, der uns bestätigt, dass er bereit ist. Es kann auch der Tonus im Körper sein, der vermittelt: "Ich bin bereit, dass du mich hochnimmst, ich kann mich dir anvertrauen". Es kann aber auch der Tonus sein, der uns sagt: "Ich bin noch nicht bereit". Die Spannung, die wir spüren, wenn wir ein kleines Kind aus seinem Bett hochnehmen wollen, ist ein Zeichen dafür, dass es noch unsicher ist, ob es sich anvertrauen kann. Dass es noch Zeit braucht, um Vertrauen zu schöpfen. Alle diese Momente und unsere Reaktion darauf ermöglichen den Aufbau von Beziehung und stellen die Grundlage für Vertrauen dar.
Die Bereitschaft eines Kindes, unserer Erwartung zu folgen, das Jäckchen anzuziehen, indem es seinen Arm entgegen streckt, ist ein deutliches Zeichen für Interesse, Vertrauen und Freude an der Begegnung. Auf diese Art und Weise erlebt sich ein Kind von Anfang an als Person ernst genommen. Dadurch erfährt es sich als einen für den anderen wertvollen Menschen und erlebt, dass es mitwirken kann; es erlebt Freude am Miteinander. Und es erfährt in seiner Kooperationsbereitschaft, dass es bereits hier für den anderen einen Beitrag leisten kann: die ersten Erfahrungen von sozialer Kompetenz.
Den Menschen als Menschen ernst nehmen
Ich denke, jeder Erwachsene kann sich in Situationen hineinfühlen, wo er in seinem Bedürfnis nach Orientierung missachtet wird. Wie beängstigend und verunsichernd erleben wir den Moment, wenn Ärzte oder Pfleger/innen bei der Tür hereinkommen und beginnen, zwar miteinander zu reden, aber sich nicht an uns wenden, wir keine Auskünfte bekommen, nicht mit einbezogen werden in das Gespräch. Wenn wir weder wissen, was sie tun werden, noch, warum sie es tun werden, befinden wir uns in einem Zustand reiner Anspannung.
Ich glaube auch, dass wir diesen Zusammenhang zwischen innerer Bereitschaft und dementsprechender Handlung oder Behandlung für das Wohlbefinden des Organismus, für seine harmonische und gesundheitsfördernde Entwicklung, viel zu wenig in Betracht ziehen.
Dies führt uns auch zur zweiten Komponente in diesem Zusammenhang. Wenn wir von Menschwerdung sprechen, dann geht es nicht nur darum, wie sich der Mensch als Mensch in der Begegnung erlebt, durch Berührungen, durch Botschaften, die an seinen Körper gerichtet werden. Es geht auch darum, wie er sich erlebt in Verbindung mit seinem Potential an Fähigkeiten, das er in sich trägt und mit dem er auf die Welt kommt.
Angesichts der wissenschaftlichen Erkenntnisse und Forschungsergebnisse der letzten Jahrzehnte könnte man davon ausgehen, dass jedem Menschenkind zugestanden wird, dass es mit einem Entwicklungspotential auf die Welt kommt, und dass es darum geht, dafür geeignete Bedingungen zu schaffen, damit dieses Potential zur Entfaltung gelangen kann - durch selbst bestimmtes Lernen und nicht durch den allwissenden Erwachsenen, der ihm alles beibringen muss.
Auf dieses Gedankengut bin ich zum ersten Mal durch die Beschäftigung mit der Pädagogik von Maria Montessori gestoßen. Ausgehend davon wurde ich dann Jahr für Jahr mit ähnlichen Erkenntnissen konfrontiert, ob es eben kurz danach die Pädagogik von Emmi Pikler war oder die Erkenntnisse des französischen Entwicklungspsychologen Jean Piaget oder des Begabungsforschers Heinrich Jacoby und seiner Kollegin Elsa Gindler. Oder ob es die in jüngster Zeit immer mehr ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückende Neurobiologie ist - Tatsache ist, dass es unzählige Bereiche gibt, in denen man eigentlich davon ausgeht, dass es wirklich dieses Potential an Entwicklung gibt, das jeden Organismus antreibt zu lernen, zu forschen, zu entdecken.
Und neben all diesen Erkenntnissen waren es vor allem kleine Kinder, die mich durch ihre Lebendigkeit von dieser Tatsache überzeugt haben, allen voran mein eigener Sohn, der mich Tag für Tag lehrte, wie interessiert, neugierig, lebendig und kooperativ er sein kann, wenn die Bedingungen geeignet sind.
Von diesen Beobachtungen ausgehend müsste es jedem reflektierenden Menschen absurd erscheinen, Kinder von außen anzutreiben, sie mit unzähligen Mitteln und Möglichkeiten zu motivieren, tätig zu werden.
Emmi Pikler hat dies auf sehr karikierende Weise versucht zu vermitteln, indem sie genau die Szenen auf Film aufgenommen hat, die wir tagtäglich beobachten können: Kleine Kinder im Kinderwagen, die mit Rasseln unterhalten werden, Kinder, die man in die Höhe wirft, damit sie "vor Freude" lachen, denen man entgegen grinst, damit sie auch grinsen, die in vielfältiger Form zum Lachen angeregt werden mit Aktionen, die von den Erwachsenen ausgehen und der Stimulierung des Kindes dienen sollen. Würde man auch in diesen Fällen genauer hinschauen und die Kinder beobachten, dann würde man registrieren, mit welcher Irritation und Verwunderung sie im besten Falle reagieren. Im schlimmsten Falle, mit welcher Verwirrung bis zu Verstörung, die sich in Weinen, Verzweiflung und Unsicherheit äußert.
Vertrauen ins Leben entwickeln
Damit Kinder Vertrauen ins Leben entwickeln können, braucht es allem voran die Möglichkeit zur Entwicklung von Selbstvertrauen. Und Selbstvertrauen im Zusammenhang mit Selbstgefühl kann nur da entstehen, wo meine Person die Verbindung zu dem bewahren kann, was ihre innere Stimme ihr immer wieder mitteilt, was sozusagen vom Herz zum Gehirn gesendet wird, sodass ich damit in Kontakt bleiben kann, weil mir nicht von außen Dinge eingeredet, aufgezwungen oder angetragen werden.
Emmi Pikler hat durch jahrelange Beobachtungen feststellen können, dass jedes gesunde Kind die Fähigkeit in sich trägt, seine Bewegungsentwicklung selbständig zu steuern. Das heißt nichts anderes, als dass es nicht notwendig ist, ein Kind in Positionen zu bringen, damit es diese auch erlernt. Sehr konkret bedeutet das, es ist nicht notwendig, ein Kind auf den Bauch zu drehen, damit es lernt, sich auf den Bauch zu drehen, ins Sitzen zu bringen, damit es lernt, ins Sitzen zu kommen, oder an der Hand zu führen, damit es gehen lernt. Im Gegenteil. All diese "Hilfen" führen dazu, dass das Kind die Erfahrung macht, das etwas nicht zusammen stimmt mit seinem eigenen Gefühl. Denn jede dieser vom Erwachsenen vorweg genommen Positionen führen beim Kind zu einem physischen Ungleichgewicht, und in weiterer Folge zu einem psychischen Ungleichgewicht.
Ein Kind, das vom Erwachsenen vorzeitig ins Sitzen gebracht wird - und mit vorzeitig meine ich, bevor es seine Muskulatur soweit selbst entwickelt hat, dass es über verschiedenste Übergangspositionen Gleichgewichtserfahrungen machen konnte, die es dann eines Tages befähigen, frei zu sitzen, selbständig zu sitzen - ein Kind, das durch den Erwachsenen in eine solche Position gebracht wurde, spürt sein Ungleichgewicht, die meist durch Abstützen mit Polstern versucht wird auszugleichen. Nichtsdestotrotz spürt das Kind in dieser Position seine Unsicherheit. Was tut der Organismus? Er fängt an, sich gegen ein mögliches Fallen zu spannen, d.h. er erzeugt innere Anspannung. Diese Anspannung ist dann die eigentliche Ausgangslage, aus der heraus das Kind die Möglichkeit - oder Unmöglichkeit - hat, zu spielen.
Die weitere Erfahrung, die das Kind in dieser Position macht, ist die der Abhängigkeit, denn wenn ihm ein Spielmaterial wegrollt, wird ihm sehr wohl und sehr schnell bewusst, dass es ihm nicht möglich ist, dies selbst zu holen, denn es weiß nicht, wie es aus dieser sitzenden Position heraus kommen kann, da es ja auch nicht gelernt hat, selbständig dorthin zu gelangen. Summa summarum, diese Erfahrung der Abhängigkeit und Unflexibilität wirkt sich nicht nur auf seine Körpererfahrung aus, sondern hat auch große Auswirkungen auf seine Persönlichkeitsentwicklung.
Diesen Zusammenhang zu erkennen, ist nach wie vor ein großes Anliegen von Anna Tardos und ihren Mitarbeiterinnen im Pikler-Institut. Die Bedeutung der autonomen Bewegungsentwicklung für die Persönlichkeitsentwicklung wird im Großen und Ganzen unterschätzt.
Und somit wären wir wieder bei dem Bild vom Kind, das unseren Umgang mit ihm prägt. Wenn ich ein Kind als Menschen sehe, der in sich ursprüngliches Interesse zum tätig werden trägt, dann werde ich ihm dafür Möglichkeiten anbieten. Dann werde ich ihn nicht in Positionen bringen, die ihn verunsichern, sondern ich werde dafür sorgen, dass er Bedingungen vorfindet, die ihm Wohlbefinden bescheren, sodass er die Aktivitäten setzen kann, für die er bereit ist.
Im Probieren Neues erarbeiten
Was im Pikler-Institut immer wieder beobachtet wurde ist, dass das erste Zeichen menschlichen Interesses die Beschäftigung mit den eigenen Händen ist. Und das sogar über einen Zeitraum von drei bis vier Monaten. In dieser Zeit versuchen kleine Kinder, ihre eigenen Hände wahrzunehmen und sie im Laufe von Wochen als Teil ihrer selbst zu erkennen. Mit dieser Erkenntnis erfüllen sie die beste Voraussetzung, um sich mit diesen Händen Gegenständen zuzuwenden, sie mit ihren Händen begreifen zu lernen, in ihrer Beschaffenheit, ihrer Form und Oberfläche zu erforschen und mit ihren Möglichkeiten zu experimentieren.
Die dabei angewandte Geschicklichkeit und Vielfalt ihrer Experimente wären genau jene Grundlage, die uns eine schrittweise Sicherheit ermöglichen würde, davon auszugehen, dass es nicht notwendig ist, sondern sogar kontraproduktiv, Kinder von außen zu motivieren. Wir würden feststellen, mit welch innerem Antrieb Kinder aktiv werden. Wir würden erkennen, mit welcher Ausdauer sie im Tun sind, und wir würden staunen, dass in dieser Ausdauer die eigentliche Grundlage für Disziplin zu finden ist. Etwas, was Kindern ja gar nicht zugesprochen wird, weil es nicht in Verbindung gesehen wird mit Freude im Tun, mit Spaß beim Lernen und schon gar nicht mit Spiel. Und dieses Bild wiederum führt dazu, dass Kinder, sobald sie in die Schule kommen, Bedingungen vorfinden, die tatsächlich dazu führen, dass sie oft ihre Freude am Entdecken, ihre Wissbegier und Lernbereitschaft verlieren. Was zur Folge hat, dass ihnen Faulheit angelastet wird und Disziplin anerzogen werden muss.
Worauf ich auch in diesem Zusammenhang noch hinweisen möchte, ist die Tatsache, dass in unserem Erziehungs- und Schulwesen das Thema Fehler bzw. das Bewusstsein in Bezug auf Fehler machen nach wie vor negativ besetzt ist. Mit der Folge, dass Kinder von Anfang an bzw. spätestens in der Schule damit konfrontiert werden, dass es Dinge gibt, die sie falsch machen. Das Fatale dabei ist, dass Kinder, die etwas Neues kennen lernen und sich daran erproben, noch nicht so an die Dinge herangehen, wie es vielleicht im Verständnis des Erwachsenen liegt. Sie probieren und im Probieren kommen sie darauf, wie etwas wirklich zustande kommt. Der Begabungsforscher Heinrich Jacoby würde vom Erarbeiten sprechen und davon, dass "Erarbeiten bedeutet: immer am Falschen erfahren, entdecken, erarbeiten, was weniger falsch ist, und dadurch nicht nur zu erkennen, was richtig ist, sondern vor allem auch, wie das Richtige zustande kommt und warum gerade dieses das Richtige ist!" (1)
Diese Erfahrung ist jedoch vorwiegend dann möglich, wenn die gestellte Aufgabe eine bewältigbare ist bzw. eine, die der Initiative des Kindes entspricht. Ist dies nicht gegeben, dann lässt natürlich auch sehr bald das Interesse nach - und das Verständnis, mit dem an dieser Aufgabe weiter gearbeitet wird, kann nie die Qualität haben wie jenes für eine Aufgabe, die ich mir selbst gestellt habe und für die ich bereit bin, Mühe auf mich zu nehmen, um zu einem Ergebnis zu gelangen.
Richtig oder falsch ist beim Lernen ein relativer Begriff. Wie viele von uns haben als Kinder die Erfahrung gemacht, etwas ausprobieren zu wollen und dabei vom Erwachsenen mit den Worten "Lass das, das geht anders" oder "Komm, ich helfe dir, so geht es schneller" von dem Vorhaben abgebracht zu werden. Dabei die Erfahrung zu machen, nicht ganz richtig zu sein, hat für das Selbstbild Folgen, die jeder spürt, der solche Situationen erlebt hat. Dies sollte uns eigentlich immer wieder darauf aufmerksam machen, dass wir in solchen Momenten unsere hoch motivierten Kinder beim Lernen bewusster begleiten.
Selbstgefühl und Selbstbewusstsein zu besitzen, sich erarbeitet zu haben durch eine Begleitung, die einem Schritt für Schritt bestätigt hat, dass man in seinem Empfinden und in seinem Tun in Ordnung ist, ist eine Erfahrung, die viele Erwachsene vermissen.
Selbstverwirklichung der Kinder als Chance für die Eltern
Seit ich Eltern und kleine Kinder begleite, bin ich immer wieder damit konfrontiert, dass Mütter und Väter, wenn sie die Arbeit von Emmi Pikler kennen lernen, einerseits von einer großen Begeisterung erfüllt sind, jetzt wenigstens ihrem Kind eine solche Entwicklung zu ermöglichen. Andererseits werden sie von einer großen Trauer durchdrungen, weil sie spüren, welche Möglichkeiten auch ihnen offen gestanden hätten. Dabei geht es um etwas zutiefst Menschliches, um das Bedürfnis nach Selbstverwirklichung.
Durch das Beobachten der kindlichen Aktivität und das Erfahren von geteilter Freude in den Eltern-Kind-Gruppen wird etwas davon lebendig. Andererseits kann durch den Austausch in den daran anknüpfenden Gesprächsrunden verständlich werden, dass die Bereitschaft, den eigenen Kindern jetzt eine Begleitung zu ermöglichen, die dieser Eigeninitiative Rechnung trägt, auch eine große Chance für das eigene Wachsen bedeutet. Heinrich Jacoby sprach von "Nachentfaltung". Nachentfaltung geschieht ausgehend von dieser Offenheit Tag für Tag schon allein durch ein verändertes Bewusstsein für menschliche Entwicklungsmöglichkeiten. Wir werden aufmerksamer, wir werden wacher, wir werden spürsamer für den anderen genauso wie für uns selber. Und wir beginnen zu stolpern, über Situationen und Erfahrungen, die sich nicht mehr stimmig anfühlen, die sich plötzlich anders anfühlen. Wir lernen die Unterschiede kennen. So haben wir die Möglichkeit, uns Schritt für Schritt uns selber näher zu kommen.
Wünsche klar formulieren
Die Bereitschaft der Kinder, mit den Erwartungen der Erwachsenen zu kooperieren, ist von Anfang an vorhanden. Mir wurde mit den Jahren klar, dass Kinder nie aus böser Absicht heraus zuwider handeln, geschweige denn uns provozieren wollen. Ihr Widerstand ist in den meisten Fällen ein Zeichen dafür, dass wir ihnen keine ausreichende Orientierung gegeben haben, dass sie meist gar nicht wissen, was wir von ihnen erwarten, um damit kooperieren zu können. Einerseits weil wir es nicht deutlich sagen, weil uns gar nicht auffällt, dass wir keine konkreten Informationen gegeben haben, andererseits weil wir keine persönliche Sprache für unsere eigenen Bedürfnisse finden und sie sich von einem "Jetzt liegt schon wieder die Jacke am Boden" nicht persönlich angesprochen fühlen. Was noch dazu kommt, ist, dass wir in uns ein großes Misstrauen hegen gegenüber der Bereitschaft der Kinder, zu kooperieren und für den anderen zu sorgen. Dieses Misstrauen erweckt aber in ihnen ein so starkes Unwohlsein hinsichtlich ihrer Selbstwürde, dass ihr Widerstand gegenüber den Erwartungen der Erwachsenen als Folge eigentlich ein Zeichen dafür ist, dass sie um ihre Würde kämpfen.
Das jüngste Beispiel, das ich in diesem Zusammenhang erlebt habe: Mein Sohn hat mir erzählt, dass seine Freundin Hausarrest bekommt, wenn sie ihrer Mutter nicht beim Kochen hilft. Er hat ihr dann geraten, sie solle sie doch einmal fragen, was das für einen Sinn mache. Worauf das Mädchen die Antwort bekam, "damit sie lernt, mitzuhelfen".
Kinder haben ein unglaublich feines Gespür dafür, ob wir von ihnen etwas aus Prinzip einfordern oder ein echtes menschliches Bedürfnis dahinter steckt. Wenn solche Forderungen unsererseits rein erzieherischen Charakter haben, werden sie nie dazu führen, dass Kinder lernen, sich aus eigenem Antrieb heraus sozial zu verhalten. Dazu kommt noch, ob wir ihnen zutrauen, dass sie prinzipiell bereit sind, uns zu unterstützen, oder ob wir sie darum bitten, den Mülleimer auszuleeren, und gleichzeitig gar nicht daran glauben, dass sie das auch tun werden.
Dabei ist es nicht immer leicht für uns Eltern, die spontanen "Ich mag aber nicht" unserer Kinder nicht als Ablehnung zu erleben, sondern zu verstehen, dass dieses "nein" der Ausdruck von Unlust ist, aber nicht bedeutet, dass es nicht geschehen wird, wenn wir bestimmt bleiben mit unserem Anliegen, ohne einen Machtkampf anzuzetteln.
Wie oft erleben wir nicht selbst, dass wir auf Bitten - egal ob im Beruf oder im Privatleben - im ersten Moment spüren "Nein, jetzt nicht". Diese Unlust, diese spontane Reaktion unseres Organismus hat aber nichts damit zu tun, ob wir letztendlich die Bitte unseres Gegenübers erfüllen werden oder nicht. Es ist nur eine Möglichkeit, adäquat auf unser momentanes Befinden zu reagieren. Als Erwachsene lassen wir diese "Unmutsäußerungen" eher bei uns und machen sie nicht mehr öffentlich, wohingegen Kinder noch sehr direkt sind. Wenn wir ihnen diese Gefühle aber genauso zugestehen können, ohne uns dabei ins out gedrängt zu erleben, dann kommt es zu weniger Konflikten und vor allem nicht zu den leidvollen Erfahrungen bei Kindern, dass sie in ihrem Empfinden nicht ernst genommen werden oder dass sie kein Recht darauf haben, so zu empfinden.
Durch dieses Verständnis für die kindlichen Verhaltensweisen können viele Missverständnisse in der zwischenmenschlichen Kommunikation geklärt werden, sodass ein harmonischeres Miteinander zwischen großen und kleinen Menschen möglich wird.
Mir in meiner Arbeit mit Eltern zusätzlich bewusst geworden, dass nicht nur Kinder, sondern auch Erwachsene Menschen sind, die aufgrund ihres Bedürfnisses nach einem menschlichen Miteinander um ihr Recht auf Würde und Anerkennung kämpfen. Und dies macht jeder auf seine Weise. Und dabei nicht immer so, dass es dem Gegenüber leicht fällt, die guten Gründe für ein mehr oder weniger forderndes Verhalten zu verstehen, und dann dementsprechend einfühlsam und verständnisvoll reagieren zu können.
Die Erkenntnis, dass aggressives Verhalten aus einem frustrierten Bedürfnis heraus wächst, wertvoll für das Leben des anderen zu sein, hat mein Verstehen von sogenanntem asozialem Verhalten verändert. Dadurch wurde es mir leichter möglich, Kindern und Erwachsenen so zu begegnen, dass sie sich als Menschen ernst genommen erleben, mit all ihren Bedürfnissen, Nöten und Schwierigkeiten.
"Liebe deinen Nächsten wie dich selbst" wäre die im christlichen Sinne übertragene Beschreibung der Erfahrung von Selbstempathie als Voraussetzung für empathisches Verstehen. Es erscheint mir ausschlaggebend, um eine pädagogische Arbeit wie die von Emmi Pikler lebendig werden zu lassen und in einer natürlichen Weise umsetzen zu können, sodass es nicht als Methode missverstanden wird. Es ist eine große Herausforderung, aber auch eine Bereicherung. Es weist uns auch darauf hin, dass es letztendlich darum geht, Verantwortung für die eigenen Bedürfnisse und Grenzen zu übernehmen, und dies nicht als Bürde zu erleben, sondern letztendlich als Erleichterung - als Wachstumsprozess, der Lebensqualität mit sich bringt.
"Die Essenz besteht darin, das Herz eines Kindes zu entwickeln, angefüllt mit Wundern, Hoffnung und Vertrauen" (2). Das war die Botschaft eines spirituellen Meisters an seine Schüler.
Im christlichen Sinne wird Menschwerdung verstanden als die Tatsache, dass Gott sich in Jesus Christus als Mensch verkörpert hat. Auch um uns zu zeigen, dass wir als Menschen dieses Potential an Menschlichkeit in uns tragen und somit zur Nachfolge aufgerufen sind.
Als ich vor 14 Jahren Mutter eines Sohnes wurde, konnte ich erfahren, mit wie viel "Wundern, Hoffnung und Vertrauen" mir dieses kleine Wesen begegnete. Der Blick, mit dem uns Säuglinge bei ihrem Start ins Leben erwarten, spricht von diesem Wundern über die oft gar nicht immer gleich als so freundlich erlebte Welt, vom Hoffen auf bestmögliches Empfangen werden und dem Geschenk des Vertrauens, das sie uns mitbringen, darin, dass wir sie menschenwürdig ins Leben begleiten.
Anmerkungen
(1) Heinrich Jacoby, in: Jenseits von Begabt und Unbegabt.
(2) Babuji, in: Sahaj Marg-Magazine 03/2005.