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Zitiervorschlag

Aus: Don Bosco Kalender 2001, S. 19-21

Wenn Kinder Abschied nehmen müssen ...

Michael Schnabel

 

"Nehmt Abschied Brüder ... Nun ade du mein lieb Heimatland ... Sag zum Abschied leise ... Auf Wiedersehen, auf Wiedersehen ..."

Viele Lieder, Schlager, Gedichte, Erzählungen und Märchen sind Zeugnisse dafür, dass Menschen zu allen Zeiten und an allen Orten Abschied erfahren: Menschliches Leben bedeutet auch Abschiednehmen.

Altes, Überflüssiges abstreifen und Vergangenes aufgeben, um Neues entwickeln zu können, war oftmals für ganze Völker so entscheidend, dass davon das Überleben abhing. Die Geschichte der Menschen zeigt: diejenigen Völker, die sich von alten Vorstellungen und Traditionen lösen konnten, hatten die Kraft neue Entwicklungen einzuleiten und neue Formen der Lebensbewältigung zu finden.

Jeder Einzelne von uns hat in seiner Lebensgeschichte Übergänge zu bewältigen und somit liebgewordene Gewohnheiten zu verabschieden. Leben ist in Fluss, ist Bewegung, zeigt Dynamik, ist ein ständiges Gehen und Kommen. Sich dieser Dynamik zu stellen, ist Aufgabe des Menschen, damit er sich weiter zu entwickelt und nicht erstarrt. Dazu braucht er Kraft, sich von dem zu lösen, was entbehrlich wurde, um neuen Herauforderungen begegnen zu können.

Die Lieder, Märchen und Erzählungen berichten davon: Abschied-Nehmen wühlt Empfindungen und Gefühle auf, denen sich die meisten Menschen gerne entledigen möchten: Abschiede in Kummer und Schmerz, Abschiede volle Trauer und Zorn, Abschiede in Ratlosigkeit und Resignation.

Im öffentlichen Leben unserer Gesellschaft werden diese menschlichen Verhaltensweisen weggeschoben und durch noch mehr Probleme eingetauscht, meint der Trauerforscher Canacakis: "Es gibt unzählig viele Menschen, die verzweifelt nach einer Möglichkeit suchen, ihren Kummer auszudrücken, weil sie instinktiv spüren, dass es sie erleichtern würde. Aber in dieser Gesellschaft gibt es keine Räume und keinen Rahmen für Trauernde und ihre Gefühle. Die Menschen, von denen du sprichst, schleichen sich also ins stille Kämmerlein und bleiben dort allein mit ihren Tränen. Je nachdem, wie alt oder wie stark dieser Kummer ist, kann man aber darin verloren gehen. Man fühlt sich verlassen, unverstanden und gerät in eine tiefe Isolation." (Canacakis & Bassfeld-Schepers, 1994/4). Aber durch das Ausklammern von Leiderfahrungen, sogar durch das Verdrängen des Todes büßt das menschliche Leben wesentliche Dimensionen seiner Lebendigkeit und seines Erlebnisreichtums ein.

Betrifft diese Erlebnis- und Erfahrungsverkürzung auch die Kinder? Soll das Leben der Kinder nicht von Glück und Freude getragen sein? Ist Abschied-Nehmen das Hauptthema im Leben des Kindes; oder sollen den Kindern Abschiede erspart bleiben? Wenn Abschiede für Kinder nicht vermeidbar sind , sollen sie wenigstens gemildert und versüßt werden?

Das Leben des Kindes beginnt mit der körperlichen Trennung von der Mutter. Es ist ein gewaltiger Einschnitt, wenn das Kind die Geborgenheit des Mutterleibes verlässt. Damit beginnen die ersten Schritte einer Reise durchs Leben. Die Geburt ist ein Abschied aus dem Versorgtsein durch die Mutter und zugleich ein Start in ungeahnte neue Erlebnis- und Erfahrungswelten. Die Geburt ist der große Auftakt der Grundthemen menschlichen Lebens: Abschied - Neuanfang, Loslassen - Entwicklungschancen; Einschränkung - Freiheit; Weggehen - Heimkommen.

Es sind in den ersten Lebensjahren nicht die großen Verlusterfahrungen, wie Tod eines Elternteils, sondern die vielen "kleinen Abschiede" die Kinder zu bewältigen haben.

Aber was sind "kleine Abschiede" im Leben des Kindes? Eine kurzzeitige Trennung von der Mutter, ein Krankenhausaufenthalt, die Unterbringung in der Kinderkrippe können für manches Kind ein dramatischer Lebenseinschnitt - ein Abschied voller Kummer und Schmerzen sein. Auch das allabendliche Ins-Bett-Gehen-Müssen ist für Kleinkinder ein Abschied-Nehmen von den Eltern, den Geschwistern, vom Tag. Das Kind weiß, dass es zunächst allein sein muss, bis der neue Tag beginnt. Dieser Übergang vom aktiven Tag zur ruhigen Nacht, in der das Kind vom elterlichen Leben getrennt ist, verlangt Loslösung und Abschied-Nehmen.

In der Regel sind die Verlusterfahrungen der ersten Jahre im Leben der Kinder ein Loslassen von Fähigkeiten eines Entwicklungsabschnittes, von lieben Gewohnheiten, von Selbstverständlichkeiten eines Lebensabschnittes. Hat sich das Kind erst kürzlich von der Geborgenheit im Mutterleib losgesagt, so soll es kurz darauf der Mutterbrust entwöhnt werden. Dient dann der Schnuller als vorübergehender Ersatz, so soll er auch möglichst bald in den Mülleimer geworfen werden.

Ebenso ist es mit der Fähigkeit des Kindes, sich bewegen zu können: Kaum gelingt dem Kind, sich auf den Wickeltisch zu drehen, so folgt bald das erste Sitzen. Einige Wochen später bewegt sich das Kleinkind krabbelnd durch die Wohnung, um bald darauf die ersten Schritte tun zu können. Wenn das Kleinkind geschickt gehen und laufen kann, so sind auch die Gelegenheiten vorbei, von den Eltern getragen zu werden. Außer das Kind sucht Trost und Schutz, so wird es wieder auf den Arm genommen.

Die Entwicklungsübergänge sind gekennzeichnet durch ein Aufgeben von Fertigkeiten, aber auch dem Erwerb neuer Fähigkeiten und Freiheiten.

Es gibt im Leben des Kindes auch Einschnitte, die nicht so leichtfüßig übersprungen werden: Die ersten Trennungen von den Eltern, wenn beispielsweise ein Babysitter das Kind beaufsichtigen soll, oder das Kind in einer anderen Familie alleine bleiben soll; der Besuch einer Kinderkrippe, die Aufnahme in eine Kindergruppe, der Eintritt in den Kindergarten, der Übergang zur Schule. Im Jungendalter sind der Übergang von der Schule in die Arbeitswelt und das Verlassen des Elternhauses, um allein wohnen zu können, entscheidende Lebenseinschnitte und es sind immer Abschiede vom Gewohnten zu neuen Lebensräumen.

Das Kinderlied "Hänschen klein .." spricht diese Abnabelung vom Elternhaus an. Dabei wird auch deutlich: Abschied-Nehmen ist nicht allein die Aufgabe des Kindes sondern auch der Eltern. Das Lied macht darauf aufmerksam: Nicht das Kind leidet bei dieser Trennung ( Es zieht "frohgemut" in die Welt, heißt es im Lied.) vielmehr ist es die Mutter deren Tränen fließen, sie leidet am Abschied und muss loslassen können.

Meist hat der Jugendliche schon mehrere Abschiedssituationen durchgemacht, bei denen Tränen flossen: Die Anforderungen der Arbeitswelt verlangen heute öfters als in früheren Zeiten einen Wohnungswechsel, der mit dem Verlust einer vertrauten Umgebung und liebgewonnen Freunden verbunden ist.

Das harmonische Zusammenleben vieler Familien geht in Brüche und Kinder erleben, wie ihre Eltern in Streit und Wut auseinander gehen. Es ist Für Kinder ist es ein schmerzhaftes Abschiednehmen, wenn sie auf die Nähe der Mutter oder des Vaters verzichten müssen, da sie doch beide lieben.

Wahrscheinlich waren Jugendliche schon dabei, als ein Bekannter oder Verwandter beerdigt wurde und haben Kummer und Trauer gespürt.

Die meisten Menschen würden gerne diese Begebenheiten aus ihrem Leben streichen. Die Kinder von diesen Erfahrungen fern zu halten, ihnen leidvolle Verlusterfahrungen zu ersparen ist der schlechteste Dienst, den man ihnen antun kann. So paradox es klingen mag: Schmerzhafte Abschiede sollen die Kinder bewusst durchleben und die Trauer spüren. Canacakis behauptet, die Menschen wären von Natur aus gut ausgestattet schmerzhafte Einschnitte im Leben zu verkraften, wenn sie nur Trauer und Kummer zuließen. Sie sind belastbar, wenn Gefühle zugelassen werden dürfen, Verständnis für den anderen und die momentane Situation vorhanden ist und positive Erwartungen und Zukunftshoffnung bestehen. Das erfordert Geduld vom Tröstenden am Trauernden.

Dagegen sind die Kinder noch viel näher an der ursprünglichen Dynamik des Lebens und können meist schneller und leichter mit Verlust und Leid fertig werden. Wenn sie aber in den Erwachsenen schlechte Vorbilder der Trauerbewältigung haben, so wird es auch für sie zunehmend schwerer diese Situationen zu meistern.

Die Grundlage einer Bewältigung von Trauer, Wut und Schmerz ist hohe Sensibilität gegenüber Menschen und gegenüber der Natur. Übergänge kündigen sich an und Menschen haben normalerweise eine Vorahnung davon, wenn ein Abschied ansteht. Wer diese Zeichen versteht, der kann sich einrichten und ist auf das Loslassen vorbereitet. Beispielsweise können Erfahrungen in der Natur bei Kindern und Erwachsenen ein Gespür für Veränderungen ausbilden und somit für den ständig wiederkehrenden Kreislauf des Lebens ein Gespür entwickeln.

In allen Kulturen und zu allen Zeiten war den Menschen bewusst, wichtige Übergänge im Leben können Ängste und Krisen hervorrufen und sogar eine Scheitern der Lebensbewältigung verursachen. Daher gibt es für derartig hochsensible Lebenssituationen feste Formen und Zeremonien - Rituale für Abschied und Neubeginn. Sie geben dem Menschen eine Form vor, sie zeigen den Sinn des Übergangs auf und zugleich wird demjenigen, der in einen neuen Lebensabschnitt eintritt, vermittelt, die mitfeiernde Gemeinschaft begleitet und unterstützt dich. Taufe, Firmung und Ehesakrament sind im Christentum Formen, die Übergänge in einen neuen Lebensabschnitt begleiten.

Alltägliche und entscheidende Übergänge im Leben des Kindes sollen gebührlich beachtet und gefeiert werden. Rituale sind dabei hilfreiche Formen, die der Situation Bedeutung verleihen und den Übergang zelebrieren helfen, sodass er zu einem feierlichen Erlebnis werden kann.

Literatur

Canacakis, J. & Bassfeld-Schepers, A.: Auf der Suche nach den Regenbogentränen. Heilsamer Umgang mit Abschied und Trennung, München 1994/4