Mariele Diekhof
Projektarbeit ist ein fester Bestandteil gegenwärtiger Kindergarten-Pädagogik. Auch die Beteiligung der Kinder an der Themenauswahl bekommt einen zunehmenden Stellenwert. Aber wie sollen wir die Kinder an der Themenauswahl beteiligen? Sollen wir ihnen Vorschläge machen, aus denen sie dann wählen können? Genügt das?
Diese Fragen haben wir in unserer Kita oft diskutiert. Bis dann eines Tages die Antwort da war - sie mußte nur erkannt und aufgegriffen werden: Mit einem Bild von Anna-Lena (5 Jh.) fing alles an. Eine Lawine kam ins Rollen, die unsere Kita-Arbeit in Zukunft stark beeinflussen sollte. Aber das wußte ich noch nicht, als mir Anna-Lena eines Morgens stolz ihr gemaltes Bild entgegenhielt.
"Guck mal, was ich hier gemalt habe - Schildkröten am Gartenteich." Ich setzte mich mit ihr ins Sofa, damit wir uns das kleine Kunstwerk gemeinsam ansehen konnten. "Das ist Mama-Schildkröte, und die kleine da, das ist ihr Baby." "Und wo ist der Papa?" wollte ich wissen. Anna-Lenas spontane Antwort: "Na, der war so blöd und ist in den Teich gesprungen." "Ach so, dann kommt der Papa bestimmt gleich wieder raus?" "Nein - ein Sägefisch hat ihn durchgesägt ..."
So saßen wir einige Zeit beisammen und unterhielten uns über das Bild. Da kam mir ein spontaner Gedanke. "Anna-Lena, wollen wir uns eine stille Ecke im Kindergarten suchen, und du erzählst mir dann die ganze Bildergeschichte noch mal? Ich schreibe sie dann auf, und dann hast du eine eigene kleine Geschichte, die dir deine Eltern heute Abend im Bett vorlesen kann." Sie war einverstanden und erzählte mir kurz darauf Wort für Wort diese Geschichte.
"Da waren mal drei Schildkröten, Papa, Mama und das Kind. Und einmal war der Papa so blöd und dann ist er tief im Teich gewesen und der Sägefisch hat ihn durchgesägt. Mama Schildkröte und das Kind waren sehr traurig. Und dann hat der Sägefisch sich entschuldigt, und dann hat er eine Blume gezaubert, eine Seerose. Und dann hat der Papa auf einem Stein gelegen und der Sägefisch hat ihn wieder hochgebracht. Dann war er wieder lebendig. Mama und das Kind haben sich sehr gefreut. Dann ist die Geschichte zu Ende."
Anna-Lena war sichtlich stolz auf ihre Geschichte und war damit einverstanden, daß ich sie auch den anderen Kindern vorlas. Mittags saßen wir dann alle in einer gemütlichen Runde beisammen, und ich leitete die "Vorlesestunde" mit den Worten ein: "Heute möchte ich euch eine ganz besondere Geschichte vorlesen. Nein, keine von einem berühmten Geschichtenerzähler, sondern eine von unserer Anna-Lena." Durch diese Einleitung war die Aufmerksamkeit der Kinder geweckt, und die kleine Anna-Lena, die sonst eher zu den zurückhaltenden, stillen Kindern zählte, genoß es sichtlich, im Mittelpunkt zu stehen.
Allen Kindern gefiel die Geschichte gut. Nachdem ich sie dreimal vorgelesen hatte, schloß sich eine Diskussion an. Es kamen Fragen auf: "Warum ist denn der Papa in den Teich gesprungen?" "Hat das Kind geweint, als der Papa plötzlich weg war?" "Tat das dem Papa weh, als der Sägefisch ihn durchgesägt hat?" "War der Sägefisch dann immer lieb zu den Dreien?" So mußte sich Anna-Lena intensiv mit ihrer Geschichte auseinandersetzen, die dadurch immer umfangreicher und detaillierter wurde.
Ein Rollenspiel
Hättet ihr Lust, diese Geschichte nachzuspielen?" Die Kinder waren begeistert. Wir überlegten gemeinsam, welche Rollen zu besetzen waren und welche Utensilien wir dazu benötigten. Und so zogen wir durch den Kindergarten, um alles zusammenzuschleppen, was wir eventuell zum Rollenspiel gebrauchen konnten. Der Phantasie waren keine Grenzen gesetzt: bunte Tücher, Steine, Papierblumen, Holzfische, Muscheln etc. Eine "Kulisse" entstand. Dann wurden die Rollen verteilt und die wenigen Verkleidungs-Utensilien angelegt. Dann erklärte ich kurz die Anfangs-Darstellung, und schon ging es los!
Ich erzählte die Geschichte, wobei die Kinder an den entsprechenden Stellen ihre Rollen spielten. Sie handelten an den richtigen Stellen, teilweise fügten sie selbst Details hinzu. Es machte allen sichtlich Spaß, und an den folgenden Tagen konnten es die Kinder kaum erwarten, die Geschichte immer und immer wieder zu spielen, jeweils mit anders verteilten Rollen und mit neuen Variationen. Mir wurde deutlich, wie intensiv sich die Kleinen mit der Geschichte, mit dem Rollenspiel auseinander setzten und wie begeistert sie bei der Sache waren. Zwei Bedingungen schienen mir wichtig:
- Die Kinder spielten eine Geschichte, die eines von ihnen "erfunden" hatte.
- Die Rahmenbedingungen boten genügend Raum zur ständigen Variation des Spiels, ganz nach den Einfällen und der Phantasie der Kinder.
Literaturecke
Damit ich auf die vielen Fragen der Kinder eingehen konnte ("Was fressen denn Sägefische?" - "Können die auch Menschen durchsägen?"), richtete ich in den folgenden Wochen - jeweils abgestimmt auf den Verlauf der verschiedenen Rollenspiele - eine kleine Literaturecke mit speziellen Kinderlexika und Bilderbüchern ein. So konnten wir immer wieder gemeinsam nachschlagen und nach Antworten suchen.
Ohne daß es so beabsichtigt war, hatte sich ein Projekt entwickelt - ganz so, wie wir es kannten und wie es in der Kindergarten-Pädagogik häufige Praxis ist. Hier war jedoch keine Planung des Erzieherteams vorausgegangen, sondern das Bild und die Geschichte eines Kindes.
Klar, daß diese spannenden Entwicklungen auch im Team interessiert verfolgt und diskutiert wurden! Dabei waren, wie sich herausstellen sollte, bis hierhin die Möglichkeiten der kinder-eigenen Geschichte noch lange nicht erschöpft.
Geschichten-Werkstatt
Zunächst sollten auch die anderen Kinder die Möglichkeit bekommen, ihre Phantasie und Kreativität einzubringen. Hierfür wurde ein kleiner Raum gemütlich hergerichtet. Ein großer Tisch wurde ans Fenster gerückt und mit Malunterlagen, Buntstiften und weißem Malpapier ausgestattet. So konnten sich jeweils zwei bis drei Kinder aus dem Gruppengeschehen zum Malen zurückziehen. Nach der Fertigstellung eines Bildes hatte das Kind dann Gelegenheit, mir dazu eine Geschichte zu erzählen, die ich Wort für Wort mitschrieb. Das Ganze ging möglichst ohne Ablenkung von außen vor sich.
Nachmittags nahmen wir uns (im Wechsel) regelmäßig Zeit, die mitgeschriebenen Geschichten sauber abzuschreiben und mit dem dazugehörigen Bild abzuheften. Die Kinder bekamen eine Kopie mit nach Hause.
Nicht nur die Kinder und Mitarbeiter hatten viel Freude an den Aktionen, auch die Eltern waren beeindruckt. Eine Mutter berichtete ganz erstaunt, daß sie schon seit einer Woche jeden Abend als Gute-Nacht-Geschichte die eigene Geschichte ihres Kindes vorlesen mußte! Ich muß gestehen, daß ich anfangs mit einer derartigen Wirkung selbst nicht gerechnet hatte.
Nun hatten wir schon eine Fundus an Geschichten und Bildern. Manche Aktionen entwickelten sich hieraus ganz spontan, wie z.B. obiges Rollenspiel. Andere wurden vorausgeplant und auch gruppenübergreifend verwirklicht.
Mir der folgenden Darstellung möchte ich einen Eindruck geben, welche Aktionen und Projekte bei uns entstanden. Aus der Vielfalt greife ich die heraus, welche den Kindern besonders gefallen haben Dies nur als Anregung - jede Erzieherin wird mit den Kindern in ihrer Kita situationsbedingt andere Ideen entwickeln.
Geschichten-Landschaften
Eines Tages beobachtete ich die kleine Johanna und zwei ihrer Freundinnen am Knetetisch. Sie formten kleine Mäuse und unterhielten sich über "Winfried, die kleine Feldmaus" (eine der kinder-eigenen Geschichten). Johanna: "Guckt mal, das ist Winfried, der hat ganz große Ohren und einen ganz langen Schwanz. Er ist ein Angeber." Ich beobachtete die drei eine Weile und setzte mich dann zu ihnen. In unserem Gespräch entwickelte sich die Idee, die Mäusegeschichte als Landschaft auf einem Tisch zu gestalten.
Am nächsten Tag ging es zum Sammeln der Materialien hinaus in den Garten bzw. durch die Räume des Kindergartens, bis wir alles Brauchbare zusammengetragen hatten. Dann ging es an die Arbeit. Nach Fertigstellung der Landschaft stand diese den Kindern natürlich zum Spielen zur Verfügung. Dabei entwickelten sich ähnliche Abläufe wie bei den Aktionsspielen in der Turnhalle. Die Kinder schlüpften in die verschiedenen Rollen, und es entwickelten sich schon an diesem Tag ganz neue Geschichten, die an dem Landschafts-Tisch gespielt wurden.
Bewegungsspiele
Einige der Geschichten ließen sich zu Szenerien erweitern, die mit Musik und Bewegung verbunden wurden. So z.B. eine Geschichte von Nico über "Die großen Wellen", einer Seereise mit einem Segelschiff. Die Schiffe nebst Ausrüstung wurden mit einfachen Mitteln symbolisiert, und es konnte losgehen. Ferne Länder wurden angesteuert, und dort wurde zu der passenden Musik getanzt: Trommelmusik in Afrika, türkische Musik am Mittelmeer (die Musik wurde auf Kassette von einem unserer türkischen Kinder mitgebracht), und auf den Reisen gab es natürlich Haifische, vor denen die Boote flüchteten.
Backaktionen
Die Geschichte von der kleinen Jaqueline über Wale gab uns Anlaß für eine große Backaktion. Aus dem Teig wurden von den Kindern kleine Wale geformt - jedenfalls konnte man sich mit genügend Phantasie solche Tiere vorstellen ... Ein Teil der Wale wurde verspeist, andere fanden für einige Zeit noch Verwendung in einer der "Geschichten-Landschaften" (s.o.).
Landschafts-Ausstellung
Als wir eine ganze Reihe von Tischen mit den "Landschaften" in einem Raum stehen hatten, organisierten wir eine Ausstellung, zu der Eltern, Verwandte und anderen Interessierte eingeladen wurden.
In der Nähe jedes Tisches wurde die dazugehörige Geschichte mit Bild aufgehängt. Die Hinweisschilder "Bitte nicht berühren" gaben dem Ausstellungsraum noch eine ganz besondere Note ...
Die Ausstellung wurde ein voller Erfolg. Die Kinder waren - zu Recht - stolz auf ihre kleinen Landschaften, und die Besucher waren beeindruckt von der Kreativität und der Phantasie der Kinder, die sich in diesen "Gesamtkunstwerken" zeigten.
Kreatives Gestalten
Aus den Geschichten der Kinder, die gerade im Mittelpunkt standen, ergab sich ständig ein natürlicher "Bedarf" an Dingen, die in den Aktionen (Rollenspiele etc.) zum Spielen benötigt wurden und die mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln gestaltet wurden. Nicht nur das Basteln von kleinen Gegenständen aus den Geschichten - auch die Erstellung von einfachen Verkleidungen und Kulissen für die Rollenspiele förderten die Kreativität. Dabei erlebten wir häufig, daß die Kinder selbst Vorschläge machten, noch bevor wir Erzieher unsere Ideen hätten einbringen können.
Theater
Einmal jährlich gab es in unserer Kita ein größeres Ereignis: Eine Theateraufführung der Kinder. Klar, daß wir hier eine der Kinder-Geschichten inszenierten. Mit großem Enthusiasmus waren die Kinder dabei. Die vielen Proben, das Herstellen der Kulissen und Kostüme waren mindestens genauso wichtig wie die Aufführung selbst, bei der es selbstverständlich nicht auf eine bestimmten Standard oder gar auf Perfektion ankommt - wichtig ist allein der Spaß für die kleine Schauspieler und für das Publikum.
Entwicklung unserer pädagogischen Linie
In der Projektarbeit reihen sich viele kleine Aktionen aneinander, die alle einen Bezug zu der Thematik haben. Kinder, die während einer Aktion, z.B. einem Rollenspiel, selbst auf die Idee kommen, daß Vögel in der Szenerie dabei sein müßten, werden diese Vögel mit größerer Motivation basteln, als wenn sie von den Erziehern dazu ermuntert werden - dies vielleicht sogar ohne Bezug zu einer umfassenden Thematik. Das Endprodukt "Vogel" ist gar nicht wichtig - wichtig ist der Rahmen, in dem er entstanden ist. Der Rahmen, den die Kinder selbst hergestellt haben.
Nicht wir begeistern die Kinder für ein Thema, sondern die Kinder uns. Dies war der Kern unserer anderen, "neuen" Arbeitsweise: Wir hinterfragen, ob wir den Kindern ständig - weil wir sie ja "erziehen" sollen - Vorgaben machen sollten. Statt dessen achten wir auf die Kreativität und die Einfälle der Kinder. Mit Einfühlung in die Kinder stellten wir deren Ideen und Phantasien in den Mittelpunkt unserer Arbeit. Damit haben wir ihre Fähigkeiten wahrgenommen und sie ernstgenommen.
Wir begleiten, unterstützen und ermutigen die Kinder auf ihren Wegen. Wir stellen ihnen den gesamten Kindergarten (ausgenommen Büroräume) als Entdeckungsfeld zur Verfügung. Wir lassen sie selbständig werden, indem wir uns, unsere Ideen und Vorstellungen zurücknehmen. Wir geben den Kindern ausreichend Raum, Zeit und Material:
- Zeit, um Projekte ausführlich und andauernd zu erarbeiten,
- Zeit , um all die auftauchenden Fragen zu beantworten bzw. um die Kinder Antworten finden zu lassen,
- Raum und Material als Voraussetzung für eine breite Palette von Ausdrucksmöglichkeiten des Kindes: für Sprache, Gestik, Mimik, Bewegung, Musik, Tanz, künstlerische Gestaltung.
Nur wenn wir uns in die Gedankenwelt der Kinder hineinversetzen und ihnen Hilfestellung geben, damit sie ihre Ideen und Vorstellungen weiterentwickeln können, nur dann haben wir optimale Bedingungen für die geistige und körperliche Entwicklung der Kinder hergestellt, sie stark gemacht für ihren weiteren Weg.
Hinweise der Autorin
Aus meinen Aufzeichnungen und einem Aufsatz hierüber, den ich hier veröffentliche, ist schließlich ein Buch entstanden: Mariele Diekhof: "So kunterbunt ist unsere Welt", Pädagogik - Verlag Mawo, ISBN-3-9806228-2-7, 128 S., teilw. farb., DM 26.-, erhältlich über jede Buchhandlung. Der Verlag hat diesen Auszug genehmigt, einschließlich des honorarfreier Abdrucks. Weitere Leseproben finden Sie auf der Site des Verlags: http://www.kitabuch.de. Dort befindet sich auch meine Emailadresse für Anregungen, Fragen und Kommentare, über die ich mich stets sehr freue!
Nachsatz
Im Raum Berlin/Brandenburg gebe ich Seminare zu den Themen "Kindliche Phantasie als Quelle von Projekten" und "Phantasievolles darstellendes Vorlesen".