Auszug aus dem Konzept Raumstation: Raumstation - Kinderseelen in Corona-Zeiten – Ein sicherer Raum und eine intensive Zeit mit Kindern. (www.diskurs-niederrhein.de) Internetveröffentlichung mit Genehmigung von Diskurs Niederrhein
Dagmar W. Nieke
Time intensive ist ein pädagogisches Instrument, das zum Ziel hat Kindern in einer Weise zu begegnen, die ihre sozialen Bedürfnisse nach Individualität, Nähe und Aufmerksamkeit befriedigt. Kinder und Erwachsene erleben eine gemeinsame intensive Zeit, in der primär die Auseinandersetzung miteinander einen Raum bekommt. Wertschätzung und Respekt bilden die Basis von Time intensive und prägen das Bild vom Kind dieser Methode.
Was ist wertvoller als Zeit?
In diesem Bewusstsein erscheint die Forderung nach mehr Zeit für Kinder nur folgerichtig. Kinder brauchen Erwachsene, die ihnen die nötige Aufmerksamkeit schenken, die bereit sind ihre Fragen zu beantworten, die ihnen einfühlend und verstehend begegnen (vgl. Tausch & Tausch, 1991). Dies gilt für alle Menschen, aber eben insbesondere für Kinder, die unter der Schnelllebigkeit des gegenwärtigen Alltags häufig zu wenig Beachtung finden. Es sind die Kinder, deren Stimme häufig nicht gehört wird. Sie passen sich an, ohne die Zeit zu bekommen, die sie benötigen, um eigene Erfahrungen machen zu können.
Die besondere Situation der Corona-Pandemie hat uns einmal mehr gezeigt, es sind die Kinder, die auf der Strecke bleiben. Kinder funktionieren gut. Sie halten Abstand und tragen Masken. Sie reagieren, statt zu agieren. Was Kinder benötigen ist Zeit für eigene Erfahrungen, Zeit für individuelle Lernprozesse, Zeit für die Entwicklung ihrer Persönlichkeit. Dies belegen auch wissenschaftliche Studien, die einen bedeutenden Zusammenhang zwischen einer Zeit ungeteilter Aufmerksamkeit und der emotionalen Entwicklung von Kindern nachweisen (Ravens-Sieberer, Wille & Settertobulte, 2007)
Nicht mangelndes Wissen um pädagogisch sinnvolles Verhalten, lässt häufig wichtige Entwicklungschancen ungenutzt, oft ist es die fehlende Bewusstheit für die Bedeutung von intensiver gemeinsamer Zeit. Kinder müssen Selbstwirksamkeit erleben, um sich zu resilienten Persönlichkeiten entwickeln zu können. Ebensolche Prozesse benötigen eine intensive Zeit, die Erwachsene und Kinder gemeinsam gestalten sollten (vgl. Brooks & Goldstein, 2015).
Der Begriff der intensiven Zeit (Time intensive), hat zwei Bedeutungsebenen. Zum einen bezieht er sich auf den tatsächlichen Zeitraum, in dem das Kind die individuelle Aufmerksamkeit bekommt, die es braucht, um sich gut zu fühlen. Zum anderen definiert sich „Time intensive“ aber insbesondere über die Ausgestaltung dieses Zeitraumes. Diese besondere Zeit mit dem Kind, in der es sich wertgeschätzt und gesehen fühlt, Zuwendung und Beachtung erfährt.
Erste Bedeutungsebene - tatsächlicher Zeitraum:
- eine Zeit gemeinsamen Erlebens
- ein von gegenseitiger Aufmerksamkeit geprägtes Gespräch
- ein begleiteter Lernprozess
- ein intensiver gemeinsamer Augenblick
Zweite Bedeutungsebene - Ausgestaltung des Zeitraums:
- eine kindgerechte Kommunikation
- die Beachtung der Kinderrechte
- die Schaffung eines sicheren Raumes
Time intensive unterscheidet sich vom Konzept der Quality-Time (Milkie et al., 2010). Während Quality-Time ein Konzept ist, das in den 90er Jahren oft als Rechtfertigung für eine verfehlte Work-Life-Balance Anwendung fand, handelt es sich bei Time intensive um ein methodisches Angebot an Kinder, gehört und gesehen zu werden. Quality-Time suggeriert den Eltern, die fehlende Zeit mit den Kindern, durch eine qualitativ gute Zeit auszugleichen bzw. nachholen zu können (Stamm, 2010). Kurz gesagt, wurde die Hoffnung geschürt, ein effizienter Zeit-Einsatz zur Kompensierung mangelnder gemeinsamer Zeit von Eltern und Kind, könne Qualitätseinbußen in der Eltern-Kind-Beziehung auffangen (Russell, 1989).
Time intensive hingegen beschreibt eine Zeit gemeinsamen Erlebens, die begrenzt sein kann, aber nicht sein muss. Time intensive ist eine Zeit voller Aufmerksamkeit, Wertschätzung und Respekt. Sie dient dazu, den Kindern eine kostbare Gegenwart zu ermöglichen, die langfristig ihr Selbstkonzept positiv beeinflusst (Tausch & Tausch, 1991). Kinder sollen im Erleben einer hochwertigen gemeinsamen Zeit, Selbstwirksamkeit erfahren. Sie sollen in dieser Zeit erfahren, ich bin jemand dem zugehört wird, ich bin jemand der angelächelt wird, dem etwas zugetraut wird und der Rechte hat.
Für den pädagogischen Kontext bedeutet dies, dass Kinder und pädagogische Fachkräfte diese Zeit gemeinsam gestalten. Dabei ist die Haltung der Erwachsenen zum Kind entscheidend für den Erfolg der Methode. Sieht die pädagogische Fachkraft im Kind einen Menschen der Rechte hat, die es zu bewahren gilt, begegnet sie dem Kind mit Respekt und Wertschätzung, so trägt sie zur Förderung seines Selbstkonzeptes bei. Dies führt letztlich zur Förderung der seelischen Gesundheit des Kindes (Ebd.).
Zu einer ähnlichen Einschätzung kommt auch Brisch 2012, in dem er im Rahmen eines Vortrages zu den Auswirkungen der frühkindlichen Bindung auf die sozial-emotionale Entwicklung von Vorschulkindern „Time Intensive statt Time Out“ fordert (Brisch, 2012). Auch wenn er hier den Begriff in einem anderen pädagogischen Kontext nutzt, so geht es auch hier um die Methode der Ausgestaltung einer gemeinsamen Zeit zwischen pädagogischer Fachkraft und Kind. Statt das Kind aus der konflikthaften Situation herauszunehmen und es sich selbst zu überlassen (Time out), sollten die Kinder in der Situation belassen und intensiv begleitet werden (Time intensive).
Time intensive als Methode des Raumstation Konzepts
Die Methode Time intensive, bildet einen wichtigen Teil des Fundaments für das Konzept Raumstation, das als Stützpunkt auf dem Weg zurück in die KiTa und Schulrealität zu verstehen ist. Hier können die Kinder durchatmen, verschnaufen und neue Kraft schöpfen. Es ist ein Konzept zur Gestaltung von Transitionsprozessen für Kinder in KiTas und Grundschulen.
Die Ziele des Konzepts,
- Ermöglichung eines gelungenen Starts in die neue KiTa- und Schulrealität
- Vertrauen, Sicherheit und Stabilität schaffen
- Ängste aufarbeiten
- Ermöglichung positiver emotionaler und sozialer Erfahrungen
- Förderung der Entwicklung der eigenen Persönlichkeit
- Förderung von Selbstwirksamkeit
- Förderung des körperlichen, emotionalen und sozialen Wohlbefindens
- Partizipation in allen Belangen der kindlichen Lebenswelt
- Veränderungen erfolgreich bewältigen
- Normalität leben
verdeutlichen allesamt die Notwendigkeit einer intensiven Zeit mit den Kindern.
Die intensive Zeit, bestimmt von Merkmalen wie Respekt, Aufmerksamkeit und Wertschätzung zieht sich wie ein roter Faden durch die gelebte pädagogische Haltung in der Raumstation. Sie prägt die weiteren Methoden des Konzepts, wie den sicheren Raum, die kindgerechte Kommunikationskultur und den achtsamen Umgang zwischen pädagogischer Fachkraft und Kind.
Time intensive als Methode sollte Basis allen pädagogischen Handelns sein.
Literatur
Brisch, K-H.: Frühkindliche Bindung und ihre Auswirkungen auf die sozial-emotionale Entwicklung von Vorschulkindern. Internationale Konferenz. Bindung und Jugend. München 2012
Brooks, R.; Goldstein, S.: Das Resilienz-Buch. Wie Eltern ihre Kinder fürs Leben stärken. Stuttgart: Klett-Cotta 2015
Milkie, A. M.; Kendig, S. M.; Nomaguchi, K. M. & Denny, K. E.: Time with children. Children´s well-being and work-familiy balance among employed parents. Journal of marriage and family.ncfr 2013 Abgerufen von http:// socy.umde.edu/plubikationprofil/592.
Ravens-Sieberer, U., Wille, N., & Settertobulte, W.: Was fördert das gesunde Aufwachsen von Kindern in Familien. Eine qualitative Studie im Auftrag der AOK-Die Gesundheitskasse und des Sterns durchgeführt von der Gesellschaft für angewandte Sozialforschung (GE-FAS), Gütersloh 2007
Russell, A.: The second shift: Working families and the revolution ant home. New York: Viking 1989
Stamm, M.: Lasst die Kinder los! Weshalb entspannte Erziehung lebenstüchtig macht. München: Piper 2016
Tausch, R. & Tausch, A-M.: Erziehungs-Psychologie. Begegnung von Person zu Person. Göttingen: Hofgrefe 1991