Kinderperspektiven in der pädagogischen Praxis

Heidi Ingemann Jensen

 

Einleitung

Im Mittelpunkt der pädagogischen Praxis steht der einzigartige Blick des Kindes, denn Kinder können uns am besten sagen, was ihnen Spaß macht oder ob sie etwas Neues im Morgenkreis ausprobieren möchten.

Vor diesem Hintergrund erleben wir das Kind als kompetenten Akteur. Die Perspektive der Kinder ist daher ein wesentliches Feedback an die pädagogischen Fachkräfte. Insofern pädagogische Fachkräfte Kinder dazu einladen, sich auszudrücken, wenn sie wissen, wie sie aus der Perspektive der Kinder lernen und damit als Grundlage die Praxis verbessen, unterstützen sie nicht nur die Rechte der Kinder (vgl. Art. 12 UN-Kinderrechtskonvention), sondern setzen einen wichtigen Grundstein für ihr weiteres Leben. In diesem Sinne können Kinderperspektiven als wesentliche Grundeinheit die Qualitätsentwicklung in den Kitas stärken (vgl. Nentwig-Gesemann, Walther 2021; Mey 2003).

Die Beobachtung und Dokumentation der Kinderperspektive wird zunehmend auch in der Forschung berücksichtigt, wie sich am Beispiel des Buchs „Die Erfassung von Kinderperspektiven und ihr Potenzial für Forschung und Professionalisierung“ (Velten, Alexi & Höke 2017) verdeutlichen lässt. Die Autorinnen schreiben dazu:  

„In den aktuellen Diskursen der Früh- und Grundschulpädagogik ist das Bild vom Kind als kompetentem Akteur, der aktiv und eigensinnig seine Bildungsbiografie gestaltet und dabei von Eltern, Peers und pädagogischen Professionellen als Ko-Konstrukteur_innen unterstützt wird, unumgänglich geworden (vgl. Büker 2015).

Auf diese Weise werden bzgl. der Gestaltung von Bildungsprozessen die Annahmen des (sich selbst bildenden) »kompetenten Kindes« und der »Kompetenz des es umgebenden sozialen Systems« zusammengedacht. Für die Kindheitsforschung führt das Paradigma des kompetenten Kindes zu dem Anspruch, die Perspektiven von Kindern auf ihr Umfeld, die ihnen angebotenen Bildungsaktivitäten und die sie umgebenden Beziehungen systematisch zu erfassen und in Evaluationen zu berücksichtigen.” (Velten, Alexi & Höke 2017, S. 127)

Auch in der neueren Kindheitsforschung, wie sich am Beispiel einiger Forschungsarbeiten aus dem angloamerikanischen Raum verdeutlichen lässt, findet sich die zunehmende Einbeziehung der Kinderperspektive (vgl. Elbers 2004; James 2017) auch in Bezug auf das Wohlbefinden (well-being).

„Attempting to understand children’s well-being from where they stand, starts from engaging with children as social actors and is driven by their experiences and opinions“ (Fattore, Mason, Watson 2007, S. 6). Wobei in den Untersuchungen deutlich wird, dass es bisher keinen eindeutigen Konsens über die Definition von Wohlbefinden gibt (vgl. Schäfer 2015, S. 23).

Der Einbezug von Kinderperspektiven in die pädagogische Praxis wird in Dänemark beispielsweise gesetzlich geregelt, dies hat auch zum Ziel, die Lernumgebung anzupassen (vgl. DKA – Deutsche Kindergärten Apenrade 2020). In diesem Kontext ist besonders die stetige Weiterentwicklung der pädagogischen Qualität von Bedeutung.

Eine hohe pädagogische Qualität hängt damit zusammen, inwieweit die pädagogischen Fachkräfte verstehen, wie die Rahmenbedingungen der Kita auf die Kinder wirken und inwieweit die Kinder das Gefühl haben, sich einbringen und diese beeinflussen zu können. Es kann mitunter schwierig sein, Kinder um Feedback zu bitten, weil man dazu bereit sein muss, gegebenenfalls Fehler zuzugeben. Wenn wir Kinder und die Dinge, die sie mitbringen, nicht ernst nehmen, weil „wir Erwachsenen verantwortlich sind und es besser wissen“, riskieren wir, den Kindern beizubringen, dass ihre Erfahrungen in der Welt nicht von Bedeutung sind. Wenn wir jedoch das Feedback der Kinder respektieren und es nutzen, um unsere eigene Praxis herausfordern, erhalten wir Zugang zu viel Wissen, was den Kern pädagogischer Professionalität ausmacht.

Eine hohe pädagogische Qualität kann beispielsweise durch die Kinderbeteiligung erreicht werden. Bei der Kinderbeteiligung geht es darum, sich selbst und den pädagogischen Alltag so zu organisieren, dass es möglich wird, diese aus Sicht der Kinder zu sehen und zu strukturieren. Alle Situationen, Routinen und Mahlzeiten bieten dazu eine Gelegenheit zur Kommunikation. Dabei ist der Entwicklungsstand der Kinder wichtig – die älteren Kinder können sich häufig schon verbal verständigen. Bei den Kleineren können besonders nonverbale Ausdrucksformen wie Mimik und Gestik berücksichtigt werden.

Vor diesen Hintergrund werden die Kinderperspektiven ein wichtiger Teil der Kinderbeteiligung, in dem sie die subjektive Perspektive der Kinder in den Mittelpunkt stellt und im räumlichen-sozialen Konzept die Lernumgebung integriert.

Warum mit Kinderperspektiven arbeiten?

Bei der Arbeit mit Kinderperspektiven geht es darum, neugierig und forschend zu sein, wie Kinder den Alltag in Kitas erleben. Søren Kierkegaard beschreibt dies wie folgt: „Wenn es einem wirklich gelingen muss, einen Menschen an einen bestimmten Ort zu führen, muss man sich in erster Linie darum kümmern, ihn dort zu finden, wo er ist, und dort anfangen (eigene Übersetzung).“[1]

Wenn Kinder erleben, dass ihre Perspektiven wichtig sind, kann es das Selbstbewusstsein und die Handlungskraft der Kinder stärken, weil sie erfahren, dass sie anerkannt und ernst genommen werden. Dies gelingt beispielsweise durch die Offenheit gegenüber der Kinderperspektive seitens der pädagogischen Fachkräfte.

Kinderperspektiven im pädagogsichen Alltag – die unbedachte Praxis

In vielen Situationen des Tages agieren pädagogische Fachkräfte bereits unbewusst aus der Perspektive des Kindes. Pädagogische Fachkräfte tun dies beispielsweise mündlich, durch Stille, mit einem Blick, mit einer Bewegung. Dadurch begegnet die pädagogische Fachkraft dem Kind in seiner unmittelbaren Entwicklungszone, unterstützt es in seiner Entwicklung und wahrt seinen persönlichen Freiraum. Im pädagogischen Alltag finden sich immer wieder Herausforderungen – wie beispielsweise Unterbesetzung oder ein hoher Krankenstand, die es mitunter schwierig machen, alle Kinderperspektiven immer gleichwertig wahrzunehmen.

Ein Beispiel aus der Krippe

Die Erzieherin Clara ist allein mit sechs Krippenkindern im Gruppenraum. Drei Kinder spielen ein Hüpfspiel, bei dem sie von einer kleinen Bank auf die Matratze springen und wieder auf die Bank klettern. Sie lachen und haben Spaß.

In der Ecke sitzt Sophie, die den anderen Kindern zusieht und mal aufsteht, sich jedoch wieder hinsetzt. Für Clara sieht es so aus, als wolle sie mitspielen. Das Kind Anna ist noch neu in der Krippe und sie sitzt auf Claras Schoß. Neben Clara sitzt auch noch Jonas.

Hier treffen viele kindliche Perspektiven und Bedürfnisse gleichzeitig aufeinander. Clara könnte zu Sophie sagen: „Möchtest du auch beim Hüpfspiel mitmachen?“ oder „Sollen wir fragen, ob du mitmachen kannst?“.

Hier sollte die Erzieherin Clara auf eine Antwort warten, um Sophies Perspektive auf das Spiel wirklich zu verstehen.

Weiterhin kann die Erzieherin Clara im Nachgang die drei spielenden Kinder ansprechen, „Sieht so aus, als hättet ihr viel Spaß beim Hochklettern und Runterspringen, kann Sophie auch mitmachen?“.

Aber Clara kann auch Annas Bedürfnisse sehen und verstehen und sagen: „Ja, ich weiß, es ist nicht ganz einfach für dich, wenn ich Sophies helfen muss, aber ich bin hier ganz nah bei dir.“

Abschließend betrachtet, kann Clara immer wieder die Perspektiven der Kinder entdecken, aufgreifen und gleichzeitig in Worte fassen, damit sich die Kinder auch in ihren individuellen Bedürfnissen gesehen und anerkannt fühlen.

Praktische Überlegungen in der Arbeit des Sammelns der Kinderperspektiven

Wenn wir die Erfahrungen der Kinder sammeln, sollten folgende Punkte berücksichtigt werden.

  1. Ungleiche Machtverhältnisse. Beobachtungen können die Reaktionen des Kindes allein durch die Anwesenheit des Erwachsenen beeinflussen.
  2. Der vertrauliche und private Raum des Kindes. Verschiedene Ebenen in der Interaktion können Bestandteil einer Kinderperspektive sein, beispielsweise kann es um Gedanken und Gefühle gehen.
  3. Vermittelnde Kommunikation. Konzentrieren Sie sich auf die Observationen des Kindes, anstatt die Äußerungen des Kindes zu bewerten.
  4. Reflexion. Seien Sie neugierig und hinterfragen ihr Verständnis hinterfragen.

Verschiedene Gründe für die Einbeziehung der Perspektiven von Kindern

Es kann verschiedene Gründe geben Kinderperspektiven in die Praxis einzubeziehen.

  • Als Teil des Evaluationsprozesses, indem die Kinderperspektive als Dokumentation zur Weiterentwicklung der Lernumgebungen dienen.
  • Zur Dokumentation von Lernprozessen und die für die Entwicklung didaktischer Werkzeuge.
  • Kinder in exponierten Positionen zu erkennen und zur Sicherstellung einer integrativen Praxis.
  • Als Beteiligungsmethode der Kinder und im Sinne der demokratischen Bildung.
  • Als Reflexionsschleife wird durch die Einbeziehung des Kindes / der Kinderperspektive ein Feedback an die pädagogischen Fachkräfte erzeugt.

Methodische Überlegungen für die pädagogische Praxis

Es gibt verschiedene Möglichkeiten, die Perspektiven von Kindern einzuholen. Hier ist eine Methode beschrieben:

Fokus – Der Fokus des Kindes wird ausgewählt.

Einsammlung – Verwenden Sie verschiedene Methoden, um die Perspektiven der Kinder zu sammeln.

Analyse ­– Analysieren Sie gesammelten Dokumentationen mit den Kindern.

Änderung – Testen Sie Ihre Analyse und nehmen Sie Anpassungen für die Praxis an.

Ausblick

Partizipationsmöglichkeiten der Kinder entstehen durch die Offenheit der pädagogischen Fachkräfte für die Kinderperspektiven

Offenheit gegenüber den Kinderperspektiven im pädagogischen Alltag können neue Lernmomente für das Kind schaffen. Manchmal können wir in der Praxis zu zielorientiert handeln und die Perspektive des Kindes vergessen und das Kind kann somit zu einem passiven Empfänger der Aufmerksamkeit werden. Wenn wir als pädagogische Fachkraft vergessen, die Absichten der Kinder in die Interaktion, in das Spiel oder in die Aktivität einzubeziehen, kann dies dazu führen, dass wir die Grenzen der Kinder überschreiten, und schließlich kann die Interaktion exklusiv werden.

Kinder sind Mitgestalter der Praxis und sie müssen die Möglichkeit haben, mit der pädagogischen Fachkraft zu „verhandeln“, mitzuwirken und mitzubestimmen.

Endnoten

[1] At man, naar det i Sandhed skal lykkes En at føre et Menneske hen til et bestemt Sted, først og fremmest maa passe paa at finde ham der, hvor han er, og begynde der. Synspunktet for min ForfatterVirksomhed.  C.A. Reitzels Forlag, 1859 S. 96

Literaturverzeichnis

Elbers, E. (2004). Conversational asymmetry and the child's perspective in developmental and educational research. International Journal of Disability, Development and Education, 51(2), pp. 201-215.

James, A. (2017). Constructing childhood: Theory, policy and social practice. Bloomsbury Publishing.

Mey, G. (2003). Zugänge zur kindlichen Perspektive: Methoden der Kindheitsforschung. (Forschungsbericht aus der Abteilung Psychologie im Institut für Sozialwissenschaften, 1-2003). Berlin: Technische Universität Berlin, Institut für Sozialwissenschaften, Abt. Psychologie. https://hdl.handle.net/20.500.11780/917

Nentwig-Gesemann, I., & Walther, B. (2021). Kinder als Akteure der Qualitätsentwicklung in Kitas. O. Bilgi G. Blaschke-Nacak J. Durand T. Schmidt U. Stenger C. Stieve (Hrsg.), „Qualität “revisited–Theoretische und empirische Perspektiven in der Pädagogik der frühen Kindheit, S. 180-198.

Schäfer, B. (2015). Flexible Betreuungsangebote und das Wohlbefinden von Kindern: Ein Spannungsverhältnis. Erfahrungen und Erkenntnisse aus der internationalen Forschung Arbeitspapier. München: Deutsches Jugendinstitut.

Velten, K., Alexi, S., & Höke, J. (2018). Die Erfassung von Kinderperspektiven und ihr Potenzial für Forschung und Professionalisierung. In: Profession und Disziplin (pp. 127-137). Springer VS, Wiesbaden.

 

Weiterführende Links

DKA – Deutsche Kindergärten Apenrade (2020). Kinderperspektive. Bildung und die Perspektive des Kindes. Unter: https://dka.dssv-lehrplan.dk/dka-deutsche-kindergaerten-apenrade/kinderperspektive/

Eva Guide Børnemosaikker

https://www.eva.dk/sites/eva/files/2020-12/EVA%20Guide_B%C3%B8rnemosaikker.pdf

Pædagogernes åbenhed for børnenes perspektiver og børns deltagelsesmuligheder i pædagogisk tilrettelagte aktiviteter. Lone Svinth

https://tidsskrift.dk/psyke/article/view/8844/7385

Pædagogisk rettethed og situerede evaluerende praksisser. Krøyer og Laursen

https://tidsskrift.dk/FPPU/article/view/122499/169680

40 veje til bedre trivsel i daginstitutioner

https://dcum.dk/media/1330/40vejetilbedretrivseldagtilbud.pdf

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