Die Reggio-Pädagogik ist ein weltweit anerkanntes Konzept, dass seit den 1980er Jahren die Bildungsdiskurse rum um das Thema frühe Kindheit in Deutschland zunehmend beeinflusst hat. Der Ausgangspunkt bildet das Zusammenspiel zwischen dem Individuum, der Selbstkonstruktion, dem sozialen Umfeld im Zusammenhang mit der sozialen Konstruktion, wie Rinaldi (2001) schreibt „Jedes Kind ist … eine Konstruktion (selbst-konstruiert und sozial-konstruiert), die auf einen spezifischen Kontext und eine Kultur bezogen ist.“ (S. 39) Zu diesem Thema befragen wir Susanne Günsch, Gründerin der ersten deutschen Remida – das kreative Recycling Centro in Hamburg.
Wodurch hebt sich die Reggio-Pädagogik Ihrer Meinung nach von anderen pädagogischen Konzepten ab?
Es ist die einzige Pädagogik, die nach ihrem Ursprungsort benannt ist und nicht nach einem Menschen – sie heißt eben nicht Malaguzzi-Pädagogik. Sie geht auf eine Elterninitiative zurück: Unter dem Eindruck des 2. Weltkriegs fragten sich die Menschen in Villa Cella (damals ein Dorf, dass heute ein Teil der Stadt Reggio Emilia ist), „Wie wollen wir, dass unsere Kinder aufwachsen, damit Krieg und Faschismus nie wieder passieren?“.
Es ist die Erziehungs- und Bildungsphilosophie der Stadt Reggio Emilia, die in ihren kommunalen Kitas realisiert wird und auch in andere Einrichtungen sowie ins Umland ausstrahlt. Das hat viel mit der Geschichte und der Tradition als „Rote“ Provinz, dem Widerstand der Partisanen und dem hohen Bewusstsein für Partizipation zu tun. Es ist kein Konzept, denn es gibt nichts bzw. wenig Festgelegtes dazu. In den veröffentlichten Projekten kommen die handlungsleitenden Prinzipien zum Ausdruck, dazu zählen u. a. das Bild vom Kind als reiches Wesen mit „100 Sprachen“ oder der Raum als dritter Erzieher.
Was sind für Sie die wichtigsten Bausteine der Reggio-Pädagogik?
Diese Erziehungs- und Bildungsphilosophie stellt das Kind in den Mittelpunkt – und das nicht nur als Floskel wie es hierzulande in jeder Konzeption vorkommt. Es bedeutet zuhören, begleiten und den Spuren der Kinder folgen. Jedes Kind als handelndes Subjekt anzusehen, das seine eigenen Bildungserfahrungen selbsttätig macht und das auf der Basis ästhetischer Bildung. Ästhetik abgeleitet vom griech. Aisthesis bedeutet Sinneswahrnehmung. Lernen durch eigene Erfahrungen mit den Sinnen ist etwas vollkommen anderes als die „deutsche Belehrmentalität“. Hier wissen die Erzieher/innen was gut und richtig ist und erklären den Kindern die Welt.
Kinder nehmen in 100 Sprachen, auf 100 Weisen wahr und drücken sich auf ebenso viele Weisen wieder aus. Dies anzuerkennen und dem Raum, Zeit und Aufmerksamkeit zu geben ist ein wesentlicher Baustein des Reggio Ansatzes. In Dialogen entsteht eine Projektarbeit, die im Gegensatz zu den hier veranstalteten Projekten ein offenes Ende hat. Denn man weiß ja nicht, wohin die Spuren der Kinder einen bringen. In Projekten lernen alle – mit und voneinander – auch die Erwachsenen verstehen sich als Lernende. Sie stoßen dabei auf Fragen, auf die sie keine Antwort wissen. Es geht darum gemeinsam zu überlegen, wie man etwas in Erfahrung bringen kann. Dabei ist die Leistung des Einzelnen in der Gemeinschaft wichtig. Lernen ist ein sozialer Prozess, bei dem jeder etwas beträgt. Partizipation ist ebenfalls ein elementarer Baustein, schon aus historischer Betrachtung ist dies ein alles durchdringendes Handlungsprinzip. Alle: Eltern, Kinder, Mitarbeiter/innen, die Kommune sind und werden beteiligt.
Welche Schlüsselqualifikationen sind in der Reggio-Pädagogik wichtig?
Durch die Offenheit aller Beteiligten für den jeweils anderen ist eben ein hohes Maß an Selbstreflektion gegeben. Außerdem befördert diese Pädagogik Eigeninitiative, meiner Ansicht nach die wichtigste Schlüsselqualifikation. Kindern wird zugehört, sie werden in ihrer Selbsttätigkeit und Wirksamkeit unterstützt, was wiederum gleichermaßen die Erwachsenen herausfordert. Kreativität ist ebenfalls eine wichtige Schlüsselqualifikation, da dies die Fähigkeit zu schöpferischem Denken und Handeln ist. In Reggio werden besonders Kinder ermutigt, das macht auch etwas mit den Erwachsenen.
Welche Rolle haben Erzieher/innen im Reggio-Konzept?
Die Erzieher/innen sind Begleiter/innen. Sie sind weiterhin Impulsgeber/innen, Zuhörer/innen, Hinseher/innen, Moderator/innen der Prozesse sowie Gastgeber/innen der Räume. Sie haben die Aufgabe den Spuren der Kinder zu folgen. Sie verstehen sich selbst als Lernende, denn auch sie machen neue Erfahrungen in der Auseinandersetzung mit den Kindern. Darüber hinaus arbeitet in jeder Einrichtung auch ein Künstler oder Kunstpädagoge. Sie haben eine ganz andere Ausbildung, Expertise und Perspektive und können das Team sowohl mit ihrem Blick auf die Welt als auch hinsichtlich der Wahrnehmung auf die Welt sowie durch verschiedene Ausdrucksweisen bereichern. „Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern macht sichtbar“, dieses Zitat von Paul Klee bringt das zum Ausdruck. Auch die Hauswirtschafter/innen und die Köchin sind wichtige Ansprechpartner für die Kinder. Die pädagogische Qualität wird durch ein hohes Maß an Fachberatung gehalten, da regelmäßig Prozesse in Projekten reflektiert werden.
Was sind Ihrer Meinung nach die besonderen Stärken und Schwächen des Konzepts?
Diese Philosophie trägt den Erkenntnissen über die Entwicklung von Kindern und ihren Bildungsprozessen Rechnung. Sie versteht sich als experimentelle Pädagogik, die sich stets weiterentwickelt im Austausch zwischen Theorie, also Hochschulen und Praxis. Sie ist in der Kommune bei den Menschen verankert. Bei allen gesellschaftlichen Entwicklungen bringen sich Politik, Bildung, Soziales, Kultur und Wirtschaft ein und engagieren sich zum Wohl der frühkindlichen Bildung, weil sie diese als Gemeinschaftsaufgabe ansehen und als wichtigste Investition in die Zukunft begreifen. So gibt es eine Wechselwirkung zwischen den Einrichtungen und der Umgebung. Durch Projektdokumentationen haben Menschen Anteil daran, wie Kinder lernen und was dort in den Kitas passiert und bringen sich dort auch ein. In Reggio wird Kultur und Bildung viel mehr zusammengedacht als das Fürsorgliche wie bei uns. Schwächen kann ich darin nicht erkennen. Im Gegenteil: Es gibt vieles, dass wir davon lernen können.
Lässt sich der pädagogische Ansatz unter den in Deutschland üblichen Rahmenbedingung so wie in Reggio verwirklichen?
Ja! Es ist eine sehr häufige „Killerphrase“, dass wir hier nicht in Reggio wären und es darum hier nicht umsetzbar sei. Alle maßgeblichen Prinzipien wie Beteiligung, Subjektorientierung, Verknüpfung von Theorie und Praxis sind ortsunabhängig realisierbar. Trotz aller wissenschaftlichen Erkenntnisse aus der Babyforschung zur Entwicklung und Bildungsprozessen gibt es hier ein starkes Beharrungsvermögen hinsichtlich der Traditionen am „preußischen Gehorsam“ und eine Haltung „ich weiß doch, was für die Kinder gut ist“ sowohl in der Praxis als auch in weiten Teilen der Fachschulen. Akademische Ausbildungen sind hier noch ziemlich neu.
Einzig die externen Rahmenbedingungen sind hier anders. Wir finden hier die gesellschaftliche Verantwortung nicht in der Weise vor, wie in Reggio Emilia. Doch auch das lässt sich aus der Kita heraus anstoßen. Kitas können über Öffentlichkeitsarbeit zeigen, welchen gesellschaftlichen Auftrag sie leisten, wie Kinder dort zu ihren Lernerfahrungen kommen, welche Bedeutung es hat und wie die Umgebung sich beteiligen kann. In Reggio gelingt das über Dokumentationen der Projektarbeit, die teils öffentlich präsentiert werden. Die Reggio-orientierten Kitas hier sind damit sehr erfolgreich, auch wenn es zunächst für alle Beteiligten ungewohnt ist, dass Projekte aus Kitas z. B. im Rathaus ausgestellt werden. Daraus entsteht schnell eine Wechselwirkung, von der die Kita wiederum profitiert.