Dokumentation als zentrales Element in der Reggio-Pädagogik

Tassilo Knauf

Die Dokumentation ist ein zentrales Element der Reggio-Pädagogik. Die besondere Bedeutung der Dokumentation gehört zu den wichtigsten Unterscheidungsmerkmalen zwischen der Reggio-Pädagogik und anderen elementarpädagogischen Ansätzen.

Dokumentation ist Widerspiegelung und zugleich Konstruktion. Denn die Dokumentation hat den Anspruch, ähnlich einem Spiegel möglichst authentisch die beobachtete Person oder den beobachteten Prozess wiederzugeben; die Dokumentration ist aber auch immer Produkt und Schöpfung dessen, der seine Beobachtungen festhält. Insofern ist die Dokumentation Ergebnis eines Dialoges; sie hat damit einen sozialen Charakter und ist nicht Resultat einer objektiven, quasi naturwissenschaftlichen Sachstandserhebung. Beim Dokumentieren wird das Phänomen der selektiven Wahrnehmung wirksam: Der Mensch konstruiert seine Beobachtungen, weil er in der Lage ist, die in jeder Sekunde auf ihn einwirkenden Sinnesreize/ Informationen auf der Basis lebensgeschichtlicher Vorerfahrungen und individueller Bedeutungshierarchien zu filtern (vgl. Siebert 1999, S. 21 f.). Qualitätskriterium für eine Dokumentation kann daher nicht Objektivität, wohl aber Authentizität sein. Zwar unterliegt die Dokumentation einem doppelten Interpretationsprozess des Beobachters, nämlich durch die selektive Informationsaufnahme beim Beobachten und dann bei dem Transfer der reflektierten Beobachtung in Sprache oder in eine andere Darstellungsform; doch beide Selektions- und Interpretationsprozesse gewinnen an Qualität, wenn möglichst viel und Differenziertes von der beobachteten Person oder Handlung aufgenommen und ernst genommen wird, also nicht den Schemata und Stereotypen des Beobachters angepasst wird. Carla Rinaldi umschreibt die Beziehung zu der beobachteten Person oder Handlung in der Dokumentation mit den Begriffen "Spuren" und "Zeugnissen" (Rinaldi 2002, S. 113 f.).

Die Dokumentation erfüllt pädagogische Funktionen für die Kinder, die Erzieherinnen, die Eltern und die Öffentlichkeit:

Für Kinder bildet die Dokumentation von Handlungsepisoden ein Instrument, um sich eigener oder gemeinschaftlicher Aktionsstrukturen klar zu werden, sich ihrer präziser zu erinnern und sie als Grundlage für aktuelle Handlungsziele zu nutzen. Sie fungiert als "Veranschaulichung eigener Erkenntnisprozesse", als Gedächtnisstütze und Zeitbrücke sowie auch als Herausforderung für "Neubetrachtung" und "Selbstkorrekturen" (Rinaldi, 2002, S. 114). "Die Dokumentation erlaubt den Kindern, all das noch einmal zu durchlaufen, was sie tun und was sie sind. Sie hilft ihnen, ihre Methoden, ihre Entscheidungen, die Momente des Stillstands, ihren Eifer, zum Ziel [...] zu gelangen, noch einmal zu erleben" (Vecchi, 2002, S. 156). Kinder erfahren Dokumentation darüber hinaus als Wertschätzung ihrer Handlungen, verstärkt dann, wenn sie selber an der Gestaltung der Dokumentation beteiligt waren (vgl. Knauf 2000, S. 193). Und sie erleben die Räume ihrer Einrichtung, an deren Wänden sich über Projektdokumentationen ihre Aktionen "spiegeln", als persönlich und heimatlich.

Für Erzieherinnen ist die Dokumentation "eine außergewöhnliche Gelegenheit, das Lernen zu lernen. Das Erziehenlernen der Erzieherin vollzieht sich im selben Augenblick und Kontext, in dem das Kind lernt." Denn es werden im dokumentierten Beobachten "[...] die Lernarten des Kindes, der Kinder bewusst und sichtbar [...]. Die Spuren, Erinnerungen und Dokumente werden Objekt und Subjekt grundlegender Momente der Reflexion einzelner wie auch Erzieherinnengruppen [...]" (Rinaldi 2002, S. 114). "Die Dokumentation [...] ermöglicht [...] Reflexion, Vergleiche, Interpretation und Diskussionen in einem Bereich, in dem es für die Pädagogik noch viel zu erforschen gibt, im Bereich des kindlichen Wissens (Vecchi, 2002, S. 156). Zugleich ermöglicht die Dokumentation der Erzieherin "[...] einen Gleichlauf mit den Gedankenstrategien der Kinder, erlaubt es, ihnen beizustehen und sie wirksamer zu unterstützen" (ebd.) Das Dokumentieren verlangt eine Erzieherin, die "[...] offen und interessiert an den Gedanken und Handlungen der Kinder" [...] ist (Thissen 2000, S. 24), die ihre Arbeit reflektiert und bereit ist, sich in Theorie und Praxis der Dokumentation weiter zu qualifizieren. Die Dokumentationspraxis verändert und stärkt damit die Professionalität der Erzieherin ("Doku statt Deko"!).

Für Eltern bietet die entwickelte Dokumentationspraxis einer Einrichtung ein erweitertes Informationsspektrum im Hinblick auf Aktivitäten, Ideen, Interessen, Bedeutungsschwerpunkt sowie die Entwicklung ihres Kindes, aber auch in Hinsicht auf die pädagogische Konzeption der Einrichtung und die Arbeitsweise der einzelnen Erzieherinnen. "[...] die Eltern wollen nicht nur wissen, was ihr Kind gemacht hat, sondern auch, welche Bedeutung die Pädagog/innen den Aussagen, Ausdrücken und Beziehungen der Kinder geben" (Thissen 2000, S. 26).

Für die (Fach-)Öffentlichkeit sind Umfang und Differenzierungsspektrum der Dokumentationspraxis einer Einrichtung ein wichtiger Indikator für die Einschätzung der pädagogischen Richtung und Qualität einer Einrichtung.

Im Einzelnen verfolgt die Dokumentationspraxis unterschiedliche Zwecke, woraus sich auch spezifische Dokumentationsformen ergeben:

  1. Dokumentation von thematisch orientierten Kinderaktionen in Projekten
  2. Dokumentation von Beobachtungen der Kinder

Die Projektdokumentation wird vielfach als die eigentliche Dokumentationsaufgabe in der Reggio-Pädagogik betrachtet; durch sie wurde die Reggio-Pädagogik weltbekannt. "Die Projekte und ihre Dokumentation sind die Meisterleistung der reggianischen Kitas" (Göhlich 2001, S. 6). Die nach inzwischen 35 Jahren als klassisch geltende Dokumentationsform in den reggianischen Einrichtungen ist die Wanddokumentation, die in Anspielung an die Metapher der "100 Sprachen" mit dem Terminus der "Sprechenden Wänden" verbunden wird. In der Ausstellung " Die 100 Sprachen des Kindes" sind durch Kommentare erweiterte Beispiele der Sprechenden Wände dokumentiert (siehe Stichwort "Ausstellung").

Die Wanddokumentationen haben oft das Format von mehreren Metern langen weißen Papier- oder Pappbahnen mit einer Höhe von einem bis knapp zwei Metern. Vielfache Variationen werden jedoch praktiziert.

Daneben gibt es Dia- und Video-Dokumentationen und vor allem gebundene Heftdokumentationen, oft in DIN-A4-Format, aber auch in gezielten Formatabweichungen, z.B. ganz schmale Hoch- oder Querformate, die der einzelnen Dokumentation Besonderheit verleihen und Aufmerksamkeit sichern. Die Heftdokumentationen haben verschiedene Adressaten: die Kinder, die sich z.T. nach Monaten wieder mit einem Thema, mit einer bestimmten Aktion oder auch mit der eigenen (dokumentierten) Person beschäftigen wollen, die Erzieherinnen, Eltern, Kolleginnen anderer Einrichtungen.

Wand- und Heftdokumentationen unterscheiden sich in Funktion, Struktur und Erstellung: Wanddokumentationen spiegeln die Aktualität von Aktionen und Interessen der Kinder wider. Sie sind in hohem Maße prozessorientiert, sie werden erweitert, können aber auch im Verlauf eines Projektes verändert, neu sortiert und umgehängt werden. Sie erinnern die Kinder daran, was sie in den letzten Tagen und Wochen erforscht, diskutiert oder gebaut haben und womit sie sich gedanklich und emotional beschäftigt haben. Die Wanddokumentation ist zugleich eine Chance für Erzieherinnen, durch Überschriften, Hervorhebungen oder die Aufteilung des ausgestellten Materials dem Handlungsprozess der Kinder eine Struktur zu geben, ihn mit angedeuteten Fragestellungen und vielleicht auch möglichen Zielsetzungen zu verbinden.

Für die beteiligte(n) Erzieherin(nen) liegt in diesem Anspruch aber auch ein Problem: Nicht immer findet/ finden sie Zeit, die Dokumentation aktuell zu halten. Oder aber es gibt Schwierigkeiten, gemachte Fotos schnell zu entwickeln und von ihnen Abzüge herzustellen (hierfür kann eine Digitalkamera sehr hilfreich sein).

Um den Problemdruck zu reduzieren, hat sich in einigen reggianischen Einrichtungen während der letzten Jahre die Praxis entwickelt, täglich Kinderarbeiten zu sammeln und in einer Auswahl unkommentiert am nächsten Morgen in den Gruppenräumen auszustellen. Damit steht täglich ein Materialfundus zur Verfügung, aus dem - etwa am Ende der Arbeitswoche - die Kinderarbeiten für die Weiterführung von Projektdokumentationen ausgesucht werden können. Das Beispiel zeigt, dass auf eine kontinuierliche Ergänzung der Projektdokumentation im Verlauf der Woche verzichtet werden kann. Kinder gewöhnen sich an Zeitrhythmen der Dokumentationskomplettierung. Sie sind gespannt darauf, wie die Erzieherinnen die Aktionen der letzten Tage (Woche) zusammenstellen und damit interpretieren. Die entstehenden "Zeitbrücken" bauen Spannungen auf, fordern das Erinnerungsvermögen der Kinder heraus und vermitteln damit oftmals auch eine neue Motivation, am Thema weiter zu arbeiten.

Um den Anspruch einer (auch öffentlichen) Projektpräsentation gerecht zu werden, wird auf die Form der Heftdokumentation ein größerer Wert gelegt als bei den Wanddokumentationen, die mit ihrer Prozessorientierung immer auch Züge des Provisorischen behalten. So wird mit den Kindern ein origineller Titel der Dokumentation gewählt; es werden die beteiligten Kinder als Autoren genannt und oft auch zeichnerisch (oder fotografisch) wiedergegeben; in die Dokumentation werden Zitate aus Gedichten, Märchen oder Grundlagentexten der Reggio-Pädagogik eingestreut.

Die Grundelemente von Wand- und Heftdokumentation bleiben dagegen die gleichen:

  • Zeichnungen und (in den Heften abfotografierte) Bilder der Kinder
  • Fotos, die den Prozess der Kinderaktionen in Ausschnitten wiedergeben
  • Aussagen der Kinder, die bis zur kompletten Diskussionsprotokollen ausgeweitet werden können
  • Überschriften, die den Projektverlauf strukturieren
  • kurze Kommentare
  • Daten für die zeitliche Einordnung des Projektes.

Von Einrichtung zu Einrichtung, aber auch von Dokumentation zu Dokumentation sind die Anteile dieser Elemente unterschiedlich verteilt. Wie aber beispielsweise an der Ausstellung "Die 100 Sprachen der Kinder" ablesbar ist, haben sich auch historisch die Schwerpunkte der reggianischen Projektdokumentationen verändert: Standen bis in die 80er Jahre des 20. Jahrhunderts eher die von den Kindern geschaffenen, oft bewundernswerten "Werke" im Vordergrund, hat sich seither die Wiedergabe der Prozesselemente schrittweise immer mehr in das Zentrum geschoben: zunächst durch die Nutzung der Fotografie als Mittel, Kinderhandlungen festzuhalten und nachvollziehbar zu machen, dann durch Verstärkung des Elements verschriftlichter Kinderäußerungen.

Die Dokumentation von Kinderbeobachtungen reflektiert in der Reggio-Pädagogik das Grundproblem der schwer kontrollierbaren Übergänge zwischen Objektivität und Subjektivität. Theoretische Ausgangspunkte sind der Strukturalismus (auch Ausschnitte enthüllen die Strukturelemente des Ganzen) und der Konstruktivismus (in der Beobachtung und ihrer Reflektion konstruiert der Beobachter seine eigene Wirklichkeit und auch seine Menschenbilder) (vgl. Siebert 1999). Beobachtung ist immer selektive Wahrnehmung. In ihrer Dokumentation fließen immer auch Vorannahmen und Wertungen des Beobachters ein. Um diese zu begrenzen, stehen in den reggianischen Einrichtungen Kurzbeobachtungen ("10-Minunten-Beobachtungen") im Vordergrund: Kinder werden einzeln oder in Kleingruppen meist aus der Distanz beobachtet; möglichst parallel oder unmittelbar nach der Beobachtung werden die Handlungsepisoden der Kinder handschriftlich notiert. Dabei wird ein hohes Maß an Authentizität der Verschriftlichung von Beobachtungen angestrebt. Die Dokumentation der Kurzzeitbeobachtungen erfolgt in der handschriftlichen Notierung der unmittelbar wahrgenommenen Handlungsprozesse der Kinder.

Die Kinderbeobachtungen werden regelmäßig im Team kommuniziert und reflektiert. Dabei können ähnliche Einschätzungskategorien verwendet werden, wie sie Margret Carr in Neuseeland entwickelt hat:

  • die Interessenschwerpunkte der Kinder
  • der Grad an Konsequenz und Hartnäckigkeit bei der Interessenverfolgung
  • die Kompetenz, mit Problemen und Krisen umzugehen
  • die kommunikative Kompetenz
  • die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen und Verantwortung für die Gruppe zu übernehmen (vgl. Leu 2003 sowie auch Thissen 2000, S. 25).

Die mit knappen Stichworten zur Interpretation des Beobachteten versehenen Beobachtungsdokumentationen werden datiert und mit anderen personenbezogenen Quellen (Zeichnungen, Bilder, Fotos, notierte Äußerungen) für jedes Kind gesammelt. Es entsteht ein Portfolio, eine Art Archiv über die Entwicklung jeden Kindes.

Solche Portfolios haben zunächst eine professionelle Funktion für die Erzieherinnen, nämlich

  • für die differenzierte Information und Beratung der Eltern und
  • für die Einschätzung, welche Impulse und Ressourcen im weitesten Wortsinne das einzelne Kind benötigt.

Portfolios können aber auch unmittelbar mit den Kindern und für die Kinder gemacht werden. Das kann zum einen in Gestalt einer sich sukzessive erweiternden Sammelmappe geschehen, die offen in den Gruppenräumen zugänglich ist, von Kindern z.T. mitgestaltet, von ihnen gern betrachtet und gezeigt wird. Zum anderen können solche Portfolios in einer überarbeiteten, mit Überraschungen versehenen Fassung den Kindern und ihren Familien beim Verlassen des Kindergartens überreicht werden. Es sind dann Geschenke mit Erinnerungen von lebenslanger Bedeutung.

Die während der Kita-Zeit entstehenden Portfolios bieten vielfach Kindern die Herausforderung, (sich) selber kleine Selbstporträts und "Ich-Bücher" herzustellen. Kinder gewinnen dabei erste Erfahrungen mit der Produktion von einfachen visuellen Medien.

Für die Dokumentation von Kinderbeobachtungen und Projektdokumentationen haben sich in Reggio auch Mischformen herauskristallisiert: So legen Erzieherinnen in Reggio bei der Begleitung von Projekten vielfach kleine Schemaskizzen an, in denen sie das Projektthema, die an jedem Tag beteiligten Kinder und die wichtigsten Aktionsformen der Kinder eintragen. Diese Skizzen dienen als Erinnerungsstücke für die Weiterführung von Projektdokumentationen, können aber auch (z.B. in kopierter Form) die gesammelten Dokumentationen von Kinderbeobachtungen ergänzen.

Diese Aspekte gewinnen in der aktuellen Qualitätsdiskussion in der Bundesrepublik außerordentlich an Bedeutung. So haben sie in die Entwürfe von Plänen, Empfehlungen und Vereinbarungen für die pädagogische Arbeit im Elementarbereich der Bundesländer Bayern, Brandenburg, Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz Eingang gefunden.

Literatur

Knauf, Tassilo: Reggio-Pädagogik. Ein italienischer Beitrag zur konsequenten Kindorientierung in der Elementarerziehung. In: Fthenakis, Wassilios E./ Textor, Martin R. (Hrsg.): Pädagogische Ansätze im Kindergarten. Weinheim 2000, S. 181-201

Leu, Hans Rudolf: Bildungs- und Lerngeschichten. Ein Weg zur Qualifizierung des Bildungsauftrags im Elementarbereich. U.a. in: KiTa aktuell (Hessen, Rheinland-Pfalz, Saarland) 1/2003

Rinaldi, Carla: 1980 - 1996: Die Evolution der Entscheidungen. In: Reggio Children (Hrsg.): Hundert Sprachen hat das Kind. Neuwied 2002, S. 112-114

Siebert, Horst: Pädagogischer Konstruktivismus. Eine Bilanz der Konstruktivismusdiskussion für die Bildungspraxis. Neuwied 1999

Thissen, Monika: Die Idee der Dokumentation. In: Dialog Reggio - Region Nord (Hrsg.): Qualität von Kindertagesstätten am Beispiel der Reggio-Pädagogik. Austausch- und Erfahrungswerkstatt. Hamburg 2000, S. 24-26

Vecchi, Vea: Die Geburt zweier Pferdchen. Die subjektiven Variablen. In: Reggio Children (Hrsg.): Hundert Sprachen hat das Kind. Neuwied 2002, S. 156-160

Anzeige: Frühpädagogik bei Herder