Ingrid Miklitz
In der Kindergartenpädagogik bestimmt ein individualistisch geprägter Erziehungsstil die Pädagogik und die Curricula. Das „Ich-Zuerst-Prinzip“ dominiert den Kita-Alltag. Das spiegelt sich in den Orientierungs- und Rahmenplänen der Bundesländer wieder: Kinder sollen darin unterstützt werden, selbstbewusst und selbstbestimmt zu agieren, ihre Emotionen zu äußern und über die eigenen Belange autonom zu entscheiden. Achtsamkeit lernen die Kinder vor allem sich selbst und ihren Bedürfnissen gegenüber. Die vielgelobten „Ichlinge“ verinnerlichen sehr bald, dass es erstrebenswert ist, im Mittelpunkt zu stehen, besonders und einzigartig zu sein, sich selbst fortlaufend zu optimieren.
Ein verpflichtendes, konzeptionell verankertes „Sich Einsetzen für das Gemeinwohl“ sowie ein sich Einsetzen für eine in weiten Bereichen malträtierte außermenschliche Mitwelt – nach solchen, konsequent wertebasierten pädagogischen Ansätzen, sucht man vergeblich.
Welches Kindergartenkind sagt heute schon den schönen Satz: „Ich muss heute in den Kindergarten. Die brauchen mich da. Ich muss meine Arbeit weiter machen.“
Hungrig nach Lob und Anerkennung werden die Kinder aus dem Kindergarten entlassen. Ideale Konsumenten, die das Leben voll auskosten wollen und dies auch nach außen demonstrieren müssen; koste es was es wolle.
Selbstbezug und Individualisierung bedeutet vor allem Verlust:
- Verlust von Verantwortung, Verlust von sozialen Bindungen (Singularisierung) und damit verbundenen Verpflichtungen
- Verlust von einem sich getragen fühlen als Teil eines größeren Ganzen
- Verlust der Befreiung vom Zwang fortlaufender Selbstdarstellung und Selbstoptimierung
- Verlust von Solidarität und Unterstützung
- Verlust der Fähigkeit eigene Bedürfnisse zurückzustellen
- Verlust der Bereitschaft in größeren Zusammenhängen Verantwortung zu übernehmen
- Verlust von Beziehungsfähigkeit und Demut
- Verlust einer gelebten Achtsamkeit gegenüber der außermenschlichen Mitwelt.
Die Liste ließe sich fortsetzen. Zukunftsfähigkeit sieht anders aus!
Das Fatale: Wir können uns eine Gesellschaft von Menschen, die ihre „Einzigartigkeit“ ausleben wollen, schlichtweg nicht (mehr) leisten.
Konzeptuelle Grundsätze des Lebenspraktischen Ansatzes
Es ist Zeit für einen Paradigmenwechsel
- Die Grundlage des Lebenspraktischen Ansatzes bildet eine wertebasierte Pädagogik. Zu den gelebten Alltagstugenden gehören Verantwortung, Genügsamkeit, Disziplin, Dankbarkeit, Naturverbundenheit, Achtsamkeit und Fürsorge für die menschliche und außermenschliche Mitwelt, Demut und Toleranz.
- Der Lebenspraktische Ansatz stellt das Wohlergehen der Gruppe, das Allgemeinwohl, in den Mittelpunkt. Das bedeutet eine Abkehr von einem individualistisch geprägten Erziehungsstil.
- Der Kita-Alltag wird von zwei Schwerpunkten bestimmt (Biopolarität):
- Einsatz/Arbeit für das Gemeinwohl, welches die außermenschliche Mitwelt einschließt
- selbstbestimmte Zeit für selbstgewählte Tätigkeiten.
- Die Curricula orientiert sich an Alltagstauglichkeit und -notwendigkeit (Nützlichkeit), das heißt an den Arbeiten/Tätigkeiten, die in einer Kita und im Umfeld der Kita (auch im Naturraum) anfallen.
- In der Gruppenzeit werden praktische, alltagstaugliche Fertigkeiten und Fähigkeiten vermittelt.
- Ziel ist es, möglichst viel im Kindergarten selbst herzustellen und möglichst wenig zu kaufen, zu konsumieren.
- Die Bestandspflege ist tägliche Übung und Aufgabe. Wann und wo immer möglich werden Dinge repariert und so gepflegt/pfleglich behandelt, dass sie lange halten.
- Die Achtung und Wertschätzung der Dinge, die das Kind umgeben, ist begründet in der Achtung vor der Mitwelt, deren endliche Ressourcen sich in den Gebrauchsgegenständen verdinglichen.
- Die Umgebung ist so strukturiert, dass sie Kindern ein Höchstmaß an eigenständigem Erfahrungshandeln im Innen- und Außenbereich ermöglicht.
- Das Raumkonzept erlaubt es den Kindern, an Arbeitsflächen überwiegend im Stehen zu arbeiten.
- Die Einrichtung ist mit einer Vielzahl von Geräten mit Handantrieb ausgestattet. Das ermöglicht Einblicke in technische Abläufe und schont Ressourcen.
- Die pädagogischen Fachkräfte vermitteln einen Ressourcen schonenden, ökologisch verantwortbaren, gesunden und sparsam wirtschaftenden Lebensstil.
- Grundsätzlich übernehmen Fachkräfte keine Tätigkeiten, die von Kindern ausgeführt werden können.
- Arbeitsprozesse werden nach Möglichkeit in den Außenbereich verlagert, sodass ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Tätigkeiten im Innen- und Außenbereich besteht.
- Auf Lob wird weitestgehend verzichtet. An seine Stelle tritt der Werkstolz eines Kindes und die Erfahrung, gebraucht zu werden.
- Die Erkundung und Erforschung des Lebensumfeldes steht im Vordergrund. Auf Surrogate wird verzichtet. Die Ersterfahrung erfolgt nach Möglichkeit an realen Objekten.
Verlorenes Paradies
Ich wollte ja mal nützlich sein, da war ich noch ganz klein.
Ich räumte Töpfe aus dem Schrank und Schuhe auf die Bank.
Ich ordnete und wischte ab, schob Besen durch das Zimmer.
Bald war ich Kindergartenkind, doch nützlich war ich nimmer.
Ich kann machen, was ich will …
Was möchtest du denn spielen?
fragt man mich jeden Tag.
Ich kann spielen, was ich mag.
Mögen kann ich viele Dinge,
machen kann ich vieles nicht.
Beliebigkeit ist angesagt –
schillernd schön und schillernd fremd.
Ich packe meine Sammlerbrust in Watte.
Ich bau mir meine Hütten mit Klötzchen klein, klein, klein.
Ich versenke meine Finger in eine Kuscheltierarmada.
Was kann schöner sein?
Stumpfe Messer sind Betrug
Gebt den Kindern scharfe Messer.
Scharfe Messer machen klug.
Scharfe Messer schneiden besser.
Stumpfe Messer sind Betrug.
(Miklitz, Ingrid, 2012, Pädagogische Gedichte, Elkina-Verlag).
Literatur
Der Lebenspraktische Ansatz. In: Naturraumpädagogik in der Kita. Herder Verlag Freiburg, 2019.
Der Lebenspraktische Ansatz. In: Pousset, R. (Hg.): Handwörterbuch Frühpädagogik. Berlin: Cornelsen Scriptor 2014.
Miklitz, I.: Der Lebenspraktische Ansatz. In: Der Waldkindergarten- Dimensionen eines Pädagogischen Ansatzes, Cornelsen-Verlag Berlin, 8. Auflage.
Miklitz, I.: Der lebenspraktische Ansatz. In: Der Waldkindergarten. Cornelsen-Verlag Berlin, 3, Auflage 2007.
Der Lebenspraktische Ansatz. In: Fachzeitschrift für Elementarpädagogik im Naturraum „Draußenkinder“, Ausgaben 3 und 4, 2018.
Der Lebenspraktische Ansatz. In: Handbuch frühe Kindheit. R. Branches-Chyrek et al. 2020.
Miklitz, I.: Der Lebenspraktische Ansatz. In: Projekt Alters- und Zeitmischung LWV Baden 2002.
Filme zum Lebenspraktischen Ansatz
Miklitz, I.: Der lebenspraktische Ansatz. In: Auf dem Weg zum plastikfreien Waldkindergarten, 2019. In deutscher Version: https://youtu.be/FwmWrHuMkYw (auch verfügbar in englischer, spanischer und italienischer Version).
Informationen zur Autorin Ingrid Miklitz
Ingrid Miklitz ist Dipl.-Sozialwissenschaftlerin und Sozialpädagogin (grad.) und seit 1997 der Wald-/Naturraumpädagogik in Theorie und Praxis verbunden. Seit 2000 ist Miklitz erste Vorsitzende des LV der Wald- und Naturkindergärten BW e.V. und Herausgeberin der Zeitschrift „Draußenkinder“. Sie ist Autorin zahlreicher Bücher und Fachpublikationen zum Themenbereich „Kind und Natur“ und seit 2012 Herausgeberin der Fachzeitschrift für Elementarpädagogik im Naturraum „Draußenkinder“ (Elkina-Verlag). Bis 2018 unterrichtete die Autorin als Dozentin am Berufskolleg für Sozialpädagogik in Pforzheim.