Aus: kindergarten heute 1993, Jg. 23, Heft 9, S. 26-33
Lothar Klein
Kinder lernen, indem sie etwas praktisch tun, in der Bewegung und mit ihren Sinnen. Sie gebrauchen dabei vor allem Hände und Augen. Sie lernen durch Nachahmung und Übung. Anders als bei Erwachsenen, muss eine neue Erkenntnis zunächst in ihren Händen gelegen haben und sinnlich wahrnehmbar, im wahrsten Sinne des Wortes "begreifbar" gewesen sein, bevor sich in ihren Köpfen ein geistiges Abbild, eine "Vorstellung" davon gebildet hat. Auch Erwachsene können dies von Zeit zu Zeit noch selbst nachvollziehen. So ist es beispielsweise fast unmöglich, jemandem einen komplizierten Weg in einer fremden Stadt zu erklären, in der er nicht schon einmal war. Nur wer sich die Angaben schriftlich festhält oder über ein sehr gutes Gedächtnis verfügt, kann etwas damit anfangen. Auf keinen Fall jedoch entsteht ohne konkrete Anschauung eine wirklichkeitsnahe Vorstellung im Kopf.
Als Gestalter ihrer eigenen Entwicklung tasten Kinder sich in ihren Erfahrungsräumen, einem eigenen Rhythmus folgend, immer weiter vor und eignen sich dabei neue Kenntnisse, Fertigkeiten und Fähigkeiten an. Dies geschieht über konkrete Anschauung, ausprobieren, praktisches Tun, Versuch und Irrtum sowie entdeckendem Lernen. Umso mehr muss uns beunruhigen, wenn wir feststellen, dass Möglichkeiten zur eigenen ungeplanten und spontanen Gestaltung sehr eingeschränkt sind - und zwar heute mehr denn je. Kindheit heute ist u.a. auch von Erwachsenen fast lückenlos überwachte und gelenkte Kindheit. Dies trifft besonders für die Situation in Kindertagesstätten zu. Überall sind dort Erwachsene gegenwärtig. Das den Kindern zur Verfügung gestellte (!) Material ist meist sauber und zweckbestimmt, von Erwachsenen erdacht und hergestellt. Die Umgebung von Kindern lässt in der Regel eigenen Gestaltungsvorstellungen wenig Raum.
Kindertagesstätten neigen dazu, kindliche Tätigkeiten in zeitliche und "rationale" Strukturen zu binden. Material muss aus Kostengründen geschont werden. Die unbestimmte Festlegung dessen, was "Aufsichtspflicht" ist, löst Ängste bei Erzieherinnen aus. 20 Kinder in einem Raum erzeugen einen solchen Geräuschpegel, dass z.B. freies Arbeiten mit Holz im gleichen Raum kaum noch zu verkraften wäre. Der Zwang, sich "nach außen" darzustellen, bewirkt, sind wir ehrlich, zudem bei den Erwachsenen manchmal den Drang nach Perfektion. "Schöne" Kinderarbeiten sollen ausgestellt werden, müssen manchmal in bestimmter Zeit fertig werden usw.
Auch außerhalb von Kindertagestätten ist die Situation nicht viel besser: Von den Fußgängerwegen bis zu den Freizeitgeländen und Spielplätzen ist alles fix und fertig gestaltet, aufgeräumt und in hohem Maße auf bestimmte Tätigkeiten festgelegt. "Gepflegte" Fußgängerwege verhindern heute beispielsweise alles, was Kinder früher gerne darauf taten: Pfützenspringen, Klicker-Bahnen bauen, Hickelkästchen aufmalen, Fahrradrennen veranstalten. Schnee und Eis werden im Winter sofort beseitigt. Im Sommer werden die Wege regelmäßig gekehrt und von Dingen befreit, mit denen Kinder eventuell etwas anfangen könnten.
Was Kinder aber brauchen, sind Möglichkeiten des eigenständigen Gestaltens und Ausprobierens. Das setzt voraus, dass sie selbst bestimmen können, wann und was sie tun und das dafür Notwendige dann auch vorfinden. Das wiederum geht nur, wenn Kinder spontan sein können. Erwachsene stehen da meist mit ihren zweck- und zeitrationalen Planungen im Weg. Daher steht die Forderung: Kinder müssen auch unabhängig von der jeweiligen "Erlaubnis" oder Planung Erwachsener gestalten, ausprobieren, üben, erleben, entdecken, bestimmen und entscheiden können.
In Wiesbaden wird seit nunmehr fast 16 Jahren in Horten und Kindergärten und seit einigen Jahren auch in altersgemischten Gruppen eine Pädagogik probiert, die es Kindern ermöglichen soll, alltägliche Erfahrungen nach eigenen Vorstellungen und Zeitrhythmen und möglichst unabhängig von Erwachsenen machen zu können.
Diese Pädagogik orientiert sich an der Praxis des französischen Reformpädagogen Célestin Freinet, der in den 20er und 30er Jahren in kleinen Dorfschulen arbeitete. Freinet stellte den Alltag der Kinder praktisch und theoretisch in den Mittelpunkt des Unterrichts und veränderte diesen vollkommen in Richtung Selbsttätigkeit. Dabei nutzte er das ausgeprägte Interesse der Schüler am praktischen Tun. Auch heute noch ist die Freinet-Pädagogik in französischen Schulen weit verbreitet und auch in deutsche Reformansätze eingeflossen.
"Freinet-Pädagogik" ist eine Pädagogik des entdeckenden und selbständig gestalteten Lernens: Kinder haben neben dem sonst in Kindertagesstätten Üblichen auch Werkstätten, in denen sie jederzeit unbeaufsichtigt arbeiten bzw. spielen können. Sie bestimmen in zunehmendem Maße Teile ihres eigenen Alltags in der Gruppe und darüber hinaus selbst. Dafür gibt es eine besondere (in Kindertagesstätten notwendige) Struktur. Sie lernen mit der Zeit, sich selbständiger und unabhängiger auch außerhalb der Grenzen der eigenen Gruppe oder der Kindertagesstätte zu bewegen. Viele Bereiche der Kindertagesstätte stehen Kindern und Erwachsenen gleichermaßen offen und weisen für beide die gleichen Regelungen auf.
So findet man in Kindertagesstätten, welche sich an der Freinet-Pädagogik orientieren, u.a. bis zu 10 verschiedene Werkstätten. Werkstatträte haben Geld, besorgen Material, denken sich "gute" Werkstattregeln aus. Kinderräte entscheiden gemeinsam mit der Leitung über Fragen der gesamten Tagesstätte, die aus der Sicht der Kinder (!) wichtig sind. Auch sie "erfinden" für alle (auch für Erwachsene !) verbindliche Regelungen. Gruppensprecher und Gruppensprecherinnen werden in "Gruppenbesprechungen" gewählt. Gruppenbesprechungen werden weitgehend von Kindern selbst durchgeführt. Erwachsene nehmen daran teil, sie beteiligen sich als Gruppenmitglied. Sie sind nicht überflüssig. Was besprochen werden soll, wird zuvor an Wandzeitungen gesammelt. "Arbeitsbesprechungen" legen fest, was in der Gruppe getan werden müsste und ob es jemand tun möchte. "Abmeldetafeln" eröffnen die Möglichkeit, die Einrichtung zu verlassen, ohne zu fragen.
Im Laufe der Jahre wurden immer wieder neue Regelungen ausprobiert. Nicht mit allen kamen Kinder zurecht. Erst eine konsequente Einbeziehung der Kinder und die gewachsene Bereitschaft der Erwachsenen, Kindern gegenüber Irrtümer einzugestehen, sich auf Veränderungen einzulassen und Kinder zu ermutigen, etwas auszuprobieren, obwohl die Erwachsenen "wissen", dass es "sowieso" nicht klappt, haben schließlich zu tragfähigen Abmachungen und Organisationsformen geführt.
Ich möchte stellvertretend drei solcher Formen vorstellen: die Werkstattdiplome, die Kinderräte und die Abmeldetafeln.
Das Werkstattdiplom
Dirk hat sich für die Teilnahme an einer Holzwerkstattgruppe angemeldet. Er hat sich in die Liste eingetragen und immer wieder nachgerechnet, wie lange es noch dauert, bis er "dran" ist. Nun ist es soweit.
Mit drei anderen Kindern und Andrea, der Erzieherin, geht es Mittwochs um 15.00 Uhr los.
Das erste Treffen der Werkstattgruppe:
"Bevor man mit der Arbeit beginnt, muss man sich im Benutzerbuch eintragen, den Kittel anziehen und zuknöpfen und das Licht anmachen", erklärt Andrea. Alle machen das als erstes. "Nun braucht ihr eine Idee", sagt Andrea. "Ich baue ein Puppenbett für die Drachengruppe." Dirk hat noch keine richtige Idee. Nachdem er sich umgesehen hat, beschließt er aber, ein Schiff zu bauen. Andrea geht ihrer eigenen Arbeit nach, sie leitet nicht an, gibt nicht vor, was getan werden muss. Jeder tut, was er möchte. Zunächst versucht Dirk von einem dicken Stück Holz etwas abzusägen. Als er loslegt (erst dann !!), greift Andrea ein: sie zeigt (!!) ihm eine wichtige Regel: Das Stück Holz muss mit einer Schraubzwinge oder am Schraubstock festgespannt werden. Dirk hantiert mit der Säge, biegt sie nach allen Seiten, hakt sie im Holz fest, kommt nicht weiter. Andrea sagt aber nichts. Dirk legt die Säge von selbst wieder weg. Das ist ihm noch zu schwer. Nun nimmt er eine kleinere, Holzplatte, an der er nichts mehr absägen muss. Darauf befestigt er ein weiteres Holzstück, das wie ein Segel aussehen könnte. Für diese Arbeit benötigt er fast eine Stunde. Das "Befestigen" ist nämlich schwieriger, als er dachte. Die Nägel sind zu lang, und mit Leim hält das Ganze nicht. Dirk weiß noch nicht, dass Leim noch nicht klebt, solange er feucht ist. Während der Arbeit (!!) hat Dirk die Regeln, die er brauchte, kennen gelernt, nicht aber unbedingt alle. In diesem Fall waren es folgende: Jedes (!) Werkstück muss festgespannt werden, eine Zange soll man nicht ziehen, sondern abrollen. Einen Hammer fasst man besser am Stiel hinten an. Am Schluss schreibt er seinen Namen auf das Schiff und es wandert ins "Regal für angefangene Sachen". Andrea hat Dirk erklärt, dass aus diesem Regal nichts wegkommen kann.
Das zweite Treffen (eine Woche später):
Andrea baut weiter an ihrem Puppenbett. Dirks Schiff ist fertig. Nun möchte er etwas anderes bauen. Er findet eine runde Holzscheibe, die irgend jemand einmal ausgesägt hat. Rundherum schlägt sie 10 cm lange und sehr dicke Nägel hinein. Er braucht dafür ziemlich lange, denn die langen Nägel halten nicht so gut in der Holzplatte. Immer wieder muss er es neu versuchen. Dann aber ist er zufrieden. Den Rest der Zeit sieht er Andrea bei ihrer Arbeit zu. Auch das Nagelbrett wandert ins Regal für angefangene Sachen. Andrea brauchte Dirk bisher bei ihrer Arbeit nicht "helfen". Dirk hat noch nicht darum gebeten. Er wird es bis zum Ende auch nicht tun.
Das dritte Treffen (wieder eine Woche später):
Dirk weiß nicht, was sie machen soll. Andrea arbeitet und die anderen Kinder auch. Dirk langweilt sich. Erst, als er vor dem Regal für angefangene Sachen steht, kommt ihm eine Idee. In der einen Hand hält er das Nagelbrett, in der anderen das Schiff und erklärt Andrea nun, indem er auf das Nagelbrett deutet: "Das ist eine Insel!" An die Nägel wird nun Papier geklebt: die Bäume! Alles wird grün angemalt. Zusätzlich werden weitere kleine Nagelbäume "gepflanzt".
Das vierte Treffen:
Dirk holt sich ein großes Brett. Offensichtlich ist ihm nun während der Arbeit eine Idee gekommen. Auf das Brett werden Boot und Insel mit Holzleim geklebt. Drumherum wird alles blau angemalt: das Meer. Die Insel bekommt noch einen gelben Sandstrand. Nun ist das "Produkt" fertig (Es hätte auch ein Turm sein können, der aus zwei zusammengeleimten Holzstücken besteht.). Dirk erhält sein Diplom. Die Insel wird mit Sofortbildkamera zusammen mit Dirk auf zwei Photos gebannt. Eines wird an der Werkstattür befestigt: der "Beweis", dass Dirk sein Diplom hat. Eines kommt auf sein Diplomformular.
Nun müssen nur noch die Mitglieder des "Werkstattrates" (4 Kinder, ein Erwachsener) das Diplom unterschreiben. Dann wird es Dirk in der Gruppenbesprechung von einem Mitglied des Werkstattrates überreicht. Von da an kann er wann immer er will (auch ohne Erwachsene) in die Werkstatt gehen und sogar jemanden mitnehmen, der noch kein Diplom hat. Wollen Erwachsene eine Werkstatt benutzen, müssen auch sie ein Diplom im gleichen Verfahren erwerben. Besitzen sie kein Diplom, müssen sie sich ein Kind mit Diplom suchen, um in eine Werkstatt gehen zu können.
Die Werkstätten werden im Alltag von Kindern ganz unterschiedlich benutzt, manche sehr häufig (Holzwerkstatt, Computer, Druckerei, Künstleratelier), andere eher selten (Druckerei, Forscheratelier, Handarbeitsatelier, Technikatelier). Abhängig ist dies von den dort vorgefundenen Betätigungsmöglichkeiten (u.a. also von der Einrichtung) und davon, ob es alltägliche Gelegenheiten für die Nutzung einer Werkstatt gibt. Plant z.B. eine Gruppe neue Vorhänge, belegt sie für einige Zeit immer wieder das Handarbeitsatelier. Sind die Vorhänge fertig, brauchen diese Kinder das Atelier vorerst nicht mehr. Ist im Technikatelier die Carrera-Bahn aufgebaut , ist diese Werkstatt ununterbrochen überfüllt. Das Forscheratelier hat so etwas wie eine Winterruhe. Im Sommer gibt es eben mehr zu erforschen: ein Terrarium für Insekten wird dann angelegt, Pflanzen werden gepflanzt und beobachtet, Feldholzinseln werden gesucht. Auch spezielle Vorlieben oder Interessen einzelner Kinder spielen eine große Rolle. Fast alle Kinder wollen irgendwann alle möglichen Diplome haben. Es kommt aber nicht selten vor, dass ein Kind beispielsweise ein Druckereidiplom macht und danach nur noch sporadisch oder gar nicht mehr die Druckerei nutzt. Das ist normal und keinesfalls bedenklich. Auf der anderen Seite nämlich gibt es auch das Kind, das auf diesem Weg seine Liebe für Spinnen entdecken und pflegen kann. Kinder möchten zunächst einmal alles kennenlernen. Was sie schließlich davon gebrauchen, sollen sie später, wenn sie es ausprobiert haben, selbst entscheiden können.
Inzwischen gibt es Diplome in folgenden Werkstätten: Holzwerkstatt, Töpferei, Druckerei, Forscherateliers, Künstlerateliers, Handarbeitsateliers, Technikateliers, Computer, u.a.
Kinder beginnen meist mit 5 Jahren, Diplome zu erwerben, wenige schon früher. Viele jüngere Kinder gehen aber oft schon vorher mit älteren Kindern in die auch ihnen auf diese Weise zugänglichen Werkstätten.
Der Kinderrat
Eine wahre Geschichte:
Große Aufregung ist im ganzen Haus. Der Kinderrat hat einen Beschluss gefasst, der die Gemüter erregt: Falls noch einmal der Gefrierschrank der Kindertagesstätte über Nacht offen steht, alles abtaut und damit verdirbt, müssen alle Erwachsenen gemeinsam für die Kosten aufkommen. Auch alle Schulkinder werden mit .-50 DM je Kind daran beteiligt. Ausgenommen sind die Küchenfrauen ("Die lassen die Schränke bestimmt nicht offen!") und die jüngeren Kinder ("Die gehen ja nicht alleine dran."). Immerhin: von dem Beschluss sind über 30 Erwachsene und etwa 40 Kinder betroffen. Gefasst hat ihn der Kinderrat, ein Gremium, zu dem die Leiterin der Kindertagesstätte, eine gewählte Erzieherin und die Gruppensprecherinnen (meist sind es Schulkinder) gehören.
Wie kam es zu einem solchen Beschluss?
Eines Tages hatten die Küchenfrauen einen Wandzeitungszettel aufhängt: "Wir wünschen uns, dass die Schulkinder nicht mehr den Gefrierschrank offen stehen lassen. " Es war schon dreimal vorgekommen und jedes Mal verdarben Lebensmittel im Wert von 150.- bis 200.- DM. Aber: Woher wollten die Küchenfrauen wissen, dass das Schulkinder gewesen sind? Die Schulkinder waren richtig sauer. Das half ihnen, die Sache nun selbst in die Hand zu nehmen.
Was aber beschließen? Erste Versuche, das Problem in den Griff zu bekommen: "Wir installieren eine Videokamera und überwachen alles", wurden schließlich verworfen.
"Wir legen ein Benutzerbuch an!" "Aber, die kleinen Kinder können doch noch gar nicht schreiben." "Dann dürfen die eben nicht mehr dran." "Aber, was machen wir, wenn es trotzdem noch passiert?" "Es tragen sich ja doch nicht alle ein." Ratlosigkeit.
"Wir müssen etwas machen, damit alle Angst haben, noch mal den Schrank offen stehen zu lassen." Nach und nach reifte der Beschluss: Wenn alle gemeinsam für die Folgen aufkommen müssen, passt jeder auf jeden auf! Dann ist das ein gemeinsames Problem. Die Kinder wurden in dieser Meinung von den zwei Erwachsenen im Kinderrat unterstützt. Der Beschluss war gefasst, obwohl den Erwachsenen etwas mulmig war. Sie ahnten ja die Reaktionen.
Aber es war ein Präzedenzfall. Beschlüsse des Kinderrates müssen anerkannt werden. Wie sollen die Kinder sonst die Folgen ihrer Entscheidungen erleben ? Besserwissende Erwachsene dürfen nicht mit ständigen Ratschlägen verhindern, dass Kinder etwas so regeln, wie sie es sich vorstellen.
Vorausgegangen waren auch in diesem Fall schlechte Erfahrungen. Die Kinder im Kinderrat hatten nämlich mehrmals erlebt, dass sie zwar mitbestimmen können, ihre Beschlüsse aber von Erwachsenen nicht so recht akzeptiert worden waren. Immer wieder hatten sich Erwachsene eingemischt und mit ihnen "diskutiert". Mit der Zeit wird Kindern so der Mut genommen, wirklich eigene Entscheidungen zu fällen. Das müssen sie aber, denn auch "Entscheiden" muss praktisch geübt werden.
Bestimmte Rahmenbedingungen helfen ihnen dabei: Jedes Treffen von Werkstatt- oder Kinderrat ebenso wie von Gruppenbesprechungen dauert garantiert (!) nicht länger als 15 Minuten. Die Wandzeitung, auf der namentlich gekennzeichnete Punkte gesammelt werden, strukturiert die "Tagesordnung" von selbst. Gesprächsführung, Protokoll, zeitliche Begrenzung etc. werden durch sinnlich nachvollziehbare Mittel unterstützt und geübt: Sanduhren werden gedreht, die Wandzeitungszettel sichtbar abgenommen, eingeklebt und abgehakt, die Anwesenheit und damit auch Verantwortung aller durch eigene Unterschrift im Protokoll sinnlich erfahrbar gemacht usw.
Erwachsene sind den gleichen gemeinsamen Regelungen unterworfen. Sie dürfen z.B. nicht einfach die Gruppenbesprechung für die Einleitung einer "pädagogischen Maßnahme" unterbrechen. Auch sie müssen sich melden, warten, bis sie drankommen und dann den anderen ihren Vorschlag unterbreiten. Dazu reicht oft die Geduld nicht. Aber Erwachsene sollen nicht bevormunden, sondern praktisch vormachen. Deshalb sollen Erwachsene auch stets konkrete und positive Vorschläge machen.
Die Abmeldetafeln
Es ist 16.30 Uhr. Katjas Eltern kommen in die Gruppe, um Katja zum Schwimmen abzuholen. Doch Katja ist nicht da. Sie ist mit Biljana, Nurdan und Dirk in die Stadt gegangen. Sie möchte neue Aufkleber für ihr Album kaufen. Katja ist 9 Jahre alt, Nurdan 10 Jahre, Biljana und Dirk sind 8 Jahre alt. Katja und ihre Freundinnen haben Tanja, ihrer Erzieherin, nichts davon gesagt, dass sie in die Stadt gehen . Dennoch, es gibt weder bei Katjas Eltern noch bei Tanja so etwas wie Aufregung oder Ärger. Ein Blick auf Katjas Abmeldetafel genügt, um zu wissen, wo sie ist. Ihr Klettband-Zeichen zeigt auf das Symbol für "Hertie".
Nur, wann die Kinder zurück kommen, wissen die Erwachsenen nicht. Das ärgert Katjas Eltern etwas, weil sie sich darauf eingerichtet hatten, gegen 17.00 Uhr im Schwimmbad zu sein. So sind eben die Erwachsenen. Tanja, die Erzieherin, kann Katjas Eltern etwas beruhigen: "Normalerweise sind die Mädchen so um Viertel vor 5 wieder da, in 10 Minuten müssten sie also eigentlich zurück sein." Tanja hat da so ihre Erfahrung.
Und tatsächlich, etwa 10 Minuten später kommen die vier Mädchen zurück, zeigen Katjas Eltern stolz ihre neuen Aufkleber und platzen fast vor Erzähldrang. Was haben sie nicht alles gesehen und erlebt, "beim Hertie und in der Fußgängerzone"?
Kinder bekommen stets dann eine Abmeldetafel, wenn sie es möchten, unabhängig vom Alter. Zunächst sind diese Tafeln leer. Meist äußern die Kinder selbst, wohin sie gerne gehen möchten ohne zu fragen. Nun müssen die Erwachsenen entscheiden, ob sie das verantworten können. In altersgemischten Gruppen reden hierbei auch ältere Kinder mit. Die Erfahrung ist, dass Kinder sich selbst selten überschätzen. Müssen Erwachsene etwas ablehnen, ist das gleichzeitig für sie Programm: Wie kann ich dem Kind helfen, sich den betreffenden Bereich selbständig und gefahrlos zu erobern? Manchmal wandert ein solcher Wunsch auf einem Zettel in den Gruppenwochenplan und wird dort angeheftet. Das bedeutet: An diesem Tag üben wir gemeinsam z.B. den Weg.
Die Orte, die genannt werden, tauchen nun auf der Abmeldetafel auf, selbst geschrieben oder gemalt. Nach und nach werden im Laufe der Zeit die Abmeldetafeln immer umfangreicher. Immer mehr Orte werden von den Kindern erreicht. Diese Tafeln spiegeln also wieder, wie sich Kinder ihren Nahraum erobern. Erzieherinnen kommen darüber mit den Kindern ins Gespräch. Auf diese Weise wächst auch bei ihnen die Sicherheit, dass Kinder sich außerhalb der Gruppenräume oder sogar außerhalb des Hauses gefahrlos bewegen können.
Die ersten Bereiche, die auf den Abmeldetafeln auftauchen, sind die Werkstätten, andere Stockwerke im Haus, andere Gruppen, das Büro, oder bestimmte Personen (Geschwister, Freunde oder Erwachsene in anderen Gruppen). Kinder haben unterschiedliche Interessen. Das wird nicht zuletzt an der Verschiedenartigkeit der Abmeldetafeln sichtbar. Nicht jedes Kind besucht das Büro. Dann taucht das Büro auch nicht auf der individuellen Abmeldetafel auf. Wichtig scheint es uns auch, dass die Tafeln von Kindern selbst gestaltet werden, dass sie eigene Ausdrücke (statt "Büro" eben "Hedwig" oder "Lothar") und eigene Symbole gebrauchen.
Erwachsene brauchen natürlich auch Abmeldetafeln - damit die Kinder wissen, wo sie ihre Erzieherinnen suchen müssen ...
Auch Erzieherinnen müssen lernen
Für Erwachsene ist der Umgang mit den dargestellten Methoden gar nicht so einfach. Es dauert seine Zeit, bis das unbedingt notwendige Vertrauen in die Selbständigkeit und Selbsttätigkeit der Kinder entwickelt ist. Erzieherinnen brauchen dazu eigene Erfahrungen und die Erfahrungen anderer.
Deshalb ist ein regelmäßige Austausch untereinander zumindest für eine gewisse Zeit unbedingt notwendig. In Wiesbaden haben sich die Erzieherinnen mehrerer Einrichtungen über viele Jahre hinweg wöchentlich in einem "Freinet-Arbeitskreis" getroffen. Die Arbeit in diesem Arbeitskreis war sehr eng an die tägliche Praxis gekoppelt. Themen wie "Diplome", "Wandzeitungen", "Arbeitsbesprechungen" haben die Treffen manchmal ein halbes Jahr oder länger gefüllt. Ein wichtiges Prinzip dabei war, dass alle das, was besprochen worden ist, auch praktisch ausprobieren. Auf diese Weise haben stets alle auch über ähnliche Erfahrungen verfügen können. Ein gemeinsamer Erfahrungsschatz ist entstanden und wurde eine gute Grundlage für gegenseitiges Verständnis und Akzeptanz und schließlich auch Voraussetzung für gemeinsam entwickelte Verbesserungen. Viele der heute üblichen Methoden wurden auf diese Weise ausprobiert, wieder verworfen, neu besprochen, wieder ausprobiert usw.
Auch, um der Gefahr zu begegnen, nur über die Kinder zu reden, statt sie einzubeziehen, war es wichtig, dass entwickelte Methoden in der Praxis ausprobiert und so überprüft werden. Kinder haben auf diese Weise "rückmelden" können, ob die Ideen der Erwachsenen von ihnen wirklich angenommen werden oder nicht.
Um auch theoretisch auf sichereren Füßen zu stehen, wurden die praktischen Themen immer wieder von Fragen begleitet wie: Wie sind Kinder eigentlich? Wie äußern sie sich? Auf welche Weise lernen sie? So kam es, dass auch Themen behandelt wurden wie z.B.: Welches Verständnis haben Kinder von "Gerechtigkeit" und Regeln? Wie orientieren sie sich eigentlich in der Zeit? Wie planen Kinder? Wie entwickelt sich räumliches Empfinden? Wie bildet sich mathematisches Verständnis? Wie lernen Kinder schreiben und die Handhabung von Symbolen? Was ist Konzentration?
Nach 11 Jahren löste sich der Arbeitskreis wieder auf. Inzwischen war er zu groß geworden und die Bedürfnisse der teilnehmenden Kindertagesstätten zu unterschiedlich. Austausch gibt es aber immer noch in Form gemeinsam erarbeiteter Seminare, Veranstaltungen, Workshops, Hospitationen und Arbeitskreisen zu bestimmten Themen.
Entscheiden sich Erzieherinnen für die Freinet-Pädagogik, so stellen sie bald am eigenen Leib fest, dass auch sie in tastenden Versuchen lernen und immer wieder neue Entdeckungen machen. Erzieherinnen erleben, welchen Spaß es macht, etwas gemeinsam mit Kindern zu entdecken.
Literatur
Célestin Freinet: Die moderne französische Schule. Paderborn, Schöningh Verlag 1979
Elise Freinet: Erziehung ohne Zwang. Der Weg Célestin Freinets. München, dtv 1985
Christine Koitka (Hrsg.): Freinet-Pädagogik. Unterrichtserfahrungen zu Freier Text, Selbstverwaltung, Klassenzeitung, Korrespondenz u.a. Berlin, Basis Verlag 1977
Lothar Klein: Célestin Freinet auf der Spur. In: Kiga heute 5/96 S. 3-13
Lothar Klein: Werken im Hort. Kinder alleine in der Werkstatt. In: TPS 6/86, S. 294ff.
Weitere Informationen
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