Christa Preissing
Es ist eigentümlich mit dem Begriff "Bildung". Er ist so typisch deutsch, dass er in andere Sprachen nicht einfach zu übersetzen ist. In der englischen Fachliteratur wird der Begriff im Original aus dem Deutschen übernommen, etwa so wie das Wort "Kindergarten". Eine Hommage an das "Volk der Dichter und Denker", an die großen Vorbilder, an die deutschen Universalgelehrten wie Leibniz und die großen Bildungsbürger wie Alexander von Humboldt?
Vorbei, vorbei - die deutsche Bildung ist schwer angeschlagen. PISA bringt es an den Tag. Knapp vierzig Jahre nachdem Georg Picht der Bundesrepublik die erste Bildungskatastrophe bescheinigte, folgt nun eine Diagnose des Patienten deutsche Bildung, die eine Therapie auf der Intensivstation dringend geboten erscheinen lässt. Und um das Übel an der Wurzel zu packen und nicht nur an Symptomen herumzudoktern, steht auch die frühkindliche Bildung erneut auf dem Prüfstand.
Schauen wir uns an, was es mit der Bildung auf sich hat - wo also die Wurzeln liegen - und gehen wir in die Geschichte, weil sie - entsprechend gelesen -sehr vieles bereit hält, an dem wir uns bilden können.
Etymologisch betrachtet - also in der Lehre von der Herkunft der Wörter - geht der Begriff Bildung ganz einfach auf "Bild" zurück. Schon diesen Wortstamm gibt es nur im Kontinental-Germanischen, und er wurde zunächst gebraucht im Sinne von Bild als Abbild. Bildung meinte damals, die Welt, so wie sie ist - oder zu sein schien -, möglichst genau nachzuzeichnen. Laut etymologischem Wörterbuch erfuhr das Wort Bildung schon früh - weit vor der Aufklärung - einen Bedeutungswandel in dem Sinne, dass Bildung meinte: Sich ein Bild machen - das beinhaltet im Unterschied zum Abbild bereits die Auffassung, dass es mehr als eine Weltsicht gibt. In dem "sich ein Bild machen" stecken subjektive Deutungen. In der Formulierung kommen auch bereits die Einsicht und Ansicht zum Vorschein, dass der Mensch sich nur selbst bilden und nicht gebildet werden kann. Die Erkenntnis, dass Bildung ein aktiver und kein passiver Prozess ist, ist also so neu nicht; deswegen aber nicht weniger wichtig.
Beginnen wir unsere Bildungsreise im 17. Jahrhundert. In dieser Zeit, also vor der Aufklärung, und weit vor jeder Vorstellung von Demokratie hierzulande, waren die Positionen in der Gesellschaft klar verteilt und der Lebensweg mit der Geburt weitgehend vorher bestimmt - jedenfalls was den sozialen Status betraf. Es sei hier schon vorweggenommen: Die PISA-Studie diagnostiziert für Deutschland auch heute genau dieses: Die Herkunftsfamilie bestimmt mehr als alles andere, wer nach zehn Jahren Schule welche Bildungsleistungen erbringt- gemessen an den Maßstäben der Studie: dem Verständnis von Texten, dem mathematischen Verständnis und dem Verständnis naturwissenschaftlicher Zusammenhänge. Die Herkunft bestimmt damit auch, wer welche Chancen hat, einflussreiche Positionen in der Gesellschaft zu besetzen. Dies ist in keinem der untersuchten europäischen Länder und in kaum einem anderen der in PISA untersuchten 32 Staaten so deutlich wie bei uns - trotz mehr als dreieinhalb Jahrzehnten Bildungspolitik, die mit dem Etikett der Chancengleichheit versehen ist. Das ist für mich der Hauptskandal für unser Bildungswesen.
Doch zurück ins 17. Jahrhundert - wir werden sehen, was sich noch aus dieser Zeit erhalten hat. Mit der sozialen Position in der Gesellschaft, die wie gesagt mit der Geburt determiniert war, war auch weitgehend bestimmt, wer sich von welchem Ausschnitt von Welt ein Bild machen durfte und konnte und welche Mittel ihm - oder ihr - dazu zur Verfügung standen. Der Bauer im Feudalstaat z.B. machte sich ein Bild von seinem Feld, von der Beschaffenheit des Bodens, dem Anbau der Pflanzen, der Aufzucht von Tieren, von den Jahreszeiten, vom Wetter und seinem Einfluss auf die Ernte. Und er wird sich ein Bild gemacht haben von dem zehnten Anteil, den er dem adligen Landherren abzugeben hatte. Hier reichten noch mathematische Grundkenntnisse im Zahlenraum bis Zehn - von seinem Verständnis naturwissenschaftlicher Zusammenhänge hing allerdings seine Existenz ab. Textverständnis hatte er nicht; zum Lesen hatte er sowieso keine Zeit, und für ihn gab es auch nichts zu lesen, wofür auch?
Die Bauersfrau machte sich vermutlich ein Bild von den geernteten Früchten und den aus der Tierzucht gewonnenen Produkten, von dem, was es braucht, um daraus Nahrung zuzubereiten, von den Mengen an Nahrungsmitteln, die benötigt werden, um eine große Familie zu nähren, und von einer entsprechenden Vorratshaltung, damit Mensch und Vieh auch über den Winter kamen (vermutlich hatten die Bäuerinnen erweiterte Mathematikkenntnisse und hatten weniger Schwierigkeiten mit der Mengenlehre als die Schülerinnen der ersten Bildungsreform). Dazu kam Wissen über die verschiedenen Methoden des Zubereitens und der Konservierung von Lebensmitteln sowie über Heilpflanzen, die gegen Krankheiten eingesetzt werden konnten - auch die Bauersfrauen werden über naturwissenschaftliche Kenntnisse verfügt haben, die uns von Experten der verschiedenen Ernährungs- und Medizinschulen heute für teures Geld verkauft werden. Da ihre Erfahrungen durch gemeinsame Arbeit der Generationen direkt an die Kinder weitergegeben wurden, gab es auch für sie weder die Notwendigkeit noch die Möglichkeit, Texte zu verfassen oder zu lesen.
Für Bauer und Bauersfrau war das Bild von der Welt so weit und so vielfältig, wie ihr unmittelbarer Handlungsraum reichte. Einen größeren Ausschnitt von Welt konnten und brauchten sie sich nicht anzueignen. Sie brauchten sich nicht weiter zu bilden. Wozu auch? Sie hätten in einem anderen Teil der Welt als dem, der ihnen zugeteilt war, doch nichts zu sagen gehabt. Waren sie deshalb dumm?
Ein erweitertes Weltbild hatte der Landherr, schon deshalb weil ihm mehr Ländereien gehörten als die, die eine Bauernfamilie bewirtschaftete. Ab einer bestimmten Anzahl von Ländereien ist es effektiver, zu multiplizieren als nur zu addieren. Und für die Hochrechnung, um wie viel der Reichtum sich mehrt, wenn man einem anderen noch einige Ländereien abkauft oder sie sich auf einem sonstigen Wege zu eigen macht (z.B. durch Heirat oder einen kleinen Krieg), benötigt es schon einige mathematischer Kenntnisse. Auch eine Buchhaltung macht hier Sinn, so dass Grundkenntnisse im Schreiben und Lesen von einigem Vorteil sind. Man hat ja was und will es jederzeit überprüfen und darstellen können- auch und gerade wenn es so viel ist, dass Auge und Hand es nicht mehr fassen können. Darüber hinaus hatten die Landherren die Möglichkeit, die Anbaumethoden und die Erfolge von verschiedenen Bauern zu vergleichen und so herauszufinden, welche die besten Methoden waren. Und da sie ein unmittelbares Interesse daran hatten, unter Einsatz geringster materieller Mittel - die Arbeitskraft der Bauern ausgenommen - einen möglichst hohen Ertrag zu erwirtschaften, werden sie ein gutes Grundverständnis empirischer Naturwissenschaften entwickelt haben.
Die Frauenbildung dieser sozialen Schicht - so weit es bekannt ist (die Geschichtsschreibung überliefert ja eher die männliche Weltsicht) - konzentrierte sich vor allem auf die "schönen Künste", die der Repräsentation dienten: zunächst der Selbstrepräsentation, um möglichst hochwertig verheiratet zu werden, und danach der Präsentation der Macht und des Reichtums des Mannes. Ihre Berechnungen waren vermutlich weniger mathematischer Natur als auf den passenden Einsatz aussagekräftiger Symbole bezogen. Vielleicht stammt aus dieser Zeit und aus dieser Klasse das gut gepflegte Vorurteil, Mathematik und Naturwissenschaften seien nichts für Frauen...
Das Weltbild des Landadels war deutlich männlich und umspannte einen erweiterten Horizont. Es war gezeichnet nicht nur von den eigenen Erfahrungen - wie beim Bauern und der Bauersfrau - sondern konnte auch die Erfahrungen mit aufnehmen, die die machten, die für den Landherren arbeiteten. Natürlich nahm er von deren Erfahrungen nur das auf, was in sein Weltbild passte, was seinen Interessen diente. Da er die Befehlsgewalt hatte, hatte er auch die Interpretationsmacht. Er musste sich nicht mit denen herumstreiten, denen er die Erfahrungen sozusagen abgenommen, sie ihnen enteignet hatte. Er musste sich mit ihnen nicht darüber verständigen, ob die Interpretationen seines Weltbildes die "richtigen" waren. Kraft seines Besitzes konnte er in seinem Rahmen die "richtige" Interpretation, die "Wahrheit" befehlen. War er deshalb schlauer als der Bauer (oder die Bäuerin)?
Ja und dann die Kirche: Ich will ja hier niemandem zu nahe treten, wir sind ja mitten drin - aber es gibt diese Steigerung nun mal in der Geschichte: Der Einflussbereich der Kirche war um einiges größer als der des Feudalherren, größer noch als der aller Feudalherren ihres Kulturkreises zusammen. Sie verfügte - vor der Trennung von Staat und Kirche - über ungezählte Seelen und konnte sich deren vielfältige Erfahrung zu Nutze machen. In ihren Klöstern arbeiteten die Gelehrten, die all diese Erfahrungen sammelten, mit dem überlieferten Weltwissen vorangegangener Epochen verglichen, auswerteten und interpretierten. Ihr Weltbild war umso größer, umspannte es ja auch noch die spirituelle Welt, aus der sich die Definitions- und Interpretationsmacht ebenso speiste wie aus dem irdischen Besitz. Weibliche Weltsichten waren vollständig ausgeblendet. Als Hüterin Jahrtausende währender Geschichte war die Kirche ganz sicher die unangefochtene Expertin des Textverständnisses und der Symbolik. Das Buch der Bücher steht hierfür ebenso wie die Reichtümer in allen Bereichen der Kunst.
In der Zeit, in der ich mich in meinem historischen Ausflug befinde, galt das (männliche) Expertentum der Kirche in allen anderen Bildungsbereichen. Das Vermögen der Kirche - und ich meine sowohl das materielle wie das immaterielle - war so umfassend, dass es das Erfahrungswissen aus allen männlichen gesellschaftlichen Bereichen brauchte, um es zu erhalten und zu mehren. Die Naturwissenschaften, im Mittelalter noch verteufelt, weil sie an den Machtansprüchen der Kirche kratzten, wurden Schritt für Schritt in das kirchliche Weltbild eingebaut - selbstverständlich in einer Interpretation, die nicht mehr in Frage stellte als im Rahmen dessen, was jeweils als unumstößliche Wahrheit definiert war und von der Kirche selbst beantwortet werden konnte.
Warum dieser Ausflug in die Geschichte?
Ich wollte deutlich machen, worauf ich vor allem Wert lege, wenn es um Bildung geht. Es geht nicht darum, einen möglichst weitgespannten Kanon von Wissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten zu produzieren und diesen möglichst vielseitig und flexibel auf gestellte Aufgaben anwenden zu können.
- Bei Bildung geht es um Teilhabe an der Welt (heute heißt das Partizipation), um den Zugang zu Handlungs-, Spiel- und Entscheidungsräumen, um den Zugang zu materiellen und kulturellen Ressourcen, die in unserer Gesellschaft so reich vorhanden sind. Hierzu gehört auch die Frage, welchem Bildungsbereich hierfür welche Mittel zur Verfügung stehen und die Frage der (Aus-) Bildung der dort tätigen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen. Ein Grund dafür, dass unser Bildungssystem Chancenungleichheit (re-) produziert, dürfte darin liegen, dass den Bildungsbereichen, die noch nicht oder wenig selektieren - Kitas und Grundschulen - im Vergleich die wenigsten Mittel zur Verfügung gestellt werden.
- Es geht um die Möglichkeit für jede und jeden Einzelnen, Einfluss zu nehmen auf das öffentliche Leben und Welt mit zu gestalten, also in und durch Bildungsprozesse die Erfahrung machen zu können, dass die eigene Anstrengung etwas bewirkt.
- Es geht um die Möglichkeit, Welt zu entwerfen - im Geiste, mit Fantasie und künstlerischem Geschick - und sie real zu gestalten. Es geht auch um Visionen.
- Es geht um Interessen - die eigenen und die von anderen -, um Erkundung und Interpretation, also Deutung der Welt in ihrem natürlichen, kulturellen und sozialen Gehalt.
- Es geht um faire Aushandlungsprozesse, wenn Interessen nicht deckungsgleich sind und Widersprüche auftauchen, und es geht um die Kraft, Unsicherheiten aushalten zu können und Mut zur Veränderung zu behalten.
- Und es geht bei alledem um die Frage, wessen Sprache gehört, wessen Erfahrungen und welche Deutungen anerkannt werden - oder anders herum, wessen Sprache, Erfahrungen und Deutungen ignoriert, abgewertet oder so uminterpretiert und zugerichtet werden, dass sie in das Weltbild eines Anderen, Mächtigeren hineinpassen. Es geht also immer auch um Macht und Ohnmacht.
- Es geht um die Möglichkeit oder Unmöglichkeit; Zugang zu Erfahrungsbereichen und Ressourcen zu haben, die es erlauben, das im eigenen Handlungsraum sich entwickelnde Weltbild im lebendigen Austausch mit anderen zu erweitern, zu vertiefen oder auch zu korrigieren.
- Und es geht um den Austausch von Erfahrung auf einem gleichberechtigten Niveau, einen Austausch in gegenseitigem Respekt - oder in wechselseitiger Anerkennung, wie Hans-Rudolf Leu es nennt - und in einem Klima, das jeder und jedem die Sicherheit gibt, dass ihre bzw. seine Erfahrungen und Deutungen wertvoll sind, dass sie gehört und wahrgenommen werden, dass niemandem seine bzw. ihre Erfahrungen weg genommen oder nieder gemacht werden.
Und noch etwas ist wichtig: Es geht nicht um Bildung für etwas (auch nicht für das Leben), sondern es geht um Bildung an sich. Ein Kind bildet sich nicht, damit es später im Leben irgendwann irgendwo Einfluss nehmen kann, sondern ein Kind bildet sich nur, weil und wenn es hier und jetzt Einfluss hat, wenn es die Bestätigung erfährt, dass sein Denken und Handeln jetzt etwas bewirken, dass es hier und heute wichtig ist.
Dem allem vorausgesetzt ist eine politische Grundannahme: dass wir über Bildung in einer demokratischen Gesellschaft und nicht weiter über einen Feudalstaat oder eine andere Form der Diktatur sprechen.
Bevor wir angesichts der Diagnosen von PISA die Vorschulgruppen wieder einrichten, die Schulpflicht vorverlegen, Heinevetters Mengelehretrainer aus den späten sechziger Jahren und Schüttler-Janikullas Sprachtrainingsmappen entstauben, die logischen Blöcke aus der Bauecke sortieren und ihrem damals zugewiesenen Zweck, dem Sortieren nach Farben und Formen, Größe und Volumen, wieder zurückführen und bei Ravensburger den Chemiebaukasten für Zweijährige in Auftrag geben, sollten wir uns ordentlich über diese Fragen streiten - unter uns, mit Jugendlichen, die sehr viel dazu zu sagen haben, mit Kindern und Eltern, mit Arbeitgebern und Arbeitnehmern und mit den Politikern, die jetzt nach einer Schnelltherapie suchen, wohl wissend, dass eine hohe Dosis Antibiotika vielleicht ein Symptom - z.B. die Deutschsprachdefizite der Kinder nicht deutscher Herkunft - kurzfristig bessern kann, nicht aber die Ursachen beseitigt.
Die derzeitige Diskussion um die Sprachdefizite der Kinder nicht deutscher Herkunft ärgert mich so, dass ich hierzu an dieser Stelle etwas weiter ausholen möchte: In meinem Weltbild - mir war es möglich, dieses Bild unter Nutzung soziolinguistischer, pädagogischer und soziologischer Wissenschaft zu zeichnen - haben die Kinder nicht deutscher Herkunft Schwierigkeiten mit der deutschen Sprache,
- deren Herkunftsfamilien hier einen geringen sozialen Status haben und
- deren Eltern hier einen Beruf ausüben, in dem Sprache als Kommunikationsmittel weniger wichtig ist, oder die arbeitslos sind und
- deren Familiensprache zu den Sprachen gehört, die in der Bundesrepublik und auf dem Weltmarkt nicht viel wert sind (etwa die türkische, arabische und teilweise auch die russische Sprache), und
- deren Kulturgruppe hier zu den Minderheiten gehört, die diskriminiert und stigmatisiert sind, also rechtlich und politisch der deutschen Dominanzgesellschaft nicht gleichberechtigt gegenüberstehen.
Kurzum: Sprachdefizite haben vor allen nicht deutsche Kinder, deren Familien und kulturellen Bezugsgruppen in dieser Gesellschaft nichts zu sagen haben.
Nun könnte man unterstellen, dass all diese Faktoren Resultat der mangelnden Deutschkenntnisse sind, dass diese Menschen hier deshalb nichts zu sagen haben, weil sie nicht ordentlich deutsch sprechen können, und dass dies alles nicht so wäre, wenn sie sich nur endlich anstrengen würden und fleißig Deutschkurse besuchten. Genau diese These unterstellen diejenigen Politiker, die ausreichende Deutschkenntnisse zur Voraussetzung für Zuwanderung machen wollen. In meinem Interpretationsgefüge heißt das allerdings, die Dinge auf den Kopf zu stellen und Ursache und Wirkung bewusst zu verwechseln. Das dahinter stehende Interesse ist allzu deutlich: Mit der deutschen Sprache sollen sie auch das deutsche Weltbild übernehmen.
Ich spreche mich damit keinesfalls gegen Sprachförderung aus, im Gegenteil - aber wie Sie sich sicher denken können, wird mein Konzept zur Sprachförderung anders aussehen. Es wird seinen Ausgang nehmen in dem Interesse an dem, was diese Kinder, ihre Familien und ihre kulturelle Bezugsgruppe uns zu sagen haben. Dabei ist die deutsche Sprache ein Ausdrucksmittel unter anderen, die nicht weniger wichtig sind. Sie bekommt Bedeutung für die Sprechenden dann und nur dann - so meine These -, wenn es wichtig ist, sich mittels dieser Sprache mitzuteilen und wenn diese Mitteilungen Aussicht haben, gehört zu werden und etwas zu bewirken. Es geht leider nicht eine Nummer kleiner (und billiger): Es geht um die Frage, welchen Platz diese Kinder, ihre Familien, ihre kulturellen Bezugsgruppen in unserer Gesellschaft haben wollen, sollen und können. Das betrifft allerdings auch die Kita als einem Ausschnitt von Gesellschaft, in der sich Kinder, Eltern und Erzieherinnen ihr Bild der Welt machen. Denn, so eine Kernaussage unseres Bildungskonzeptes: "Im Kindergarten bildet sich das Kind und bildet sich Gesellschaft".
Und dabei bin ich wieder bei meinem roten Faden.
Ich schlage als Kurzformel einen Bildungsbegriff vor, den ich mit Blick auf Bildung im Kindergarten sukzessive ausführen möchte: Bildung heißt, sich ein Bild machen von der Welt. Und das heißt immer auch, sich ein Bild machen von sich selbst und den anderen in dieser Welt. Damit sind Bildungsinhalte genannt; es geht nicht nur um die äußere Welt, sondern auch um die innere Welt, das innere Erleben und die Beziehung in der Gemeinschaft.
Bildung ist also immer (Weiter-) Bildung der eigenen Persönlichkeit, ist subjektiv, ist Sich-Bilden. Bildung ist immer auch (Weiter-) Bildung von Gemeinschaft, eben Bildung von Gesellschaft, ist intersubjektiv, findet also in Interaktion zwischen Subjekten statt, ist Sich-mit-anderen-Bilden. Und Bildung ist immer auch Bildung an der Sache, an den Phänomenen, Dingen und Ereignissen in der Welt, in der die reichen Erfahrungen anderer und vorangegangener Epochen aufgehoben und verborgen sind und entdeckt werden können. Sie ist forschende und experimentelle Untersuchung der Natur und der Dinge sowie tätige Aneignung, ein "Sich-zu-eigen-Machen" der Erfahrungen in der Natur und des "Weltwissens" der Anderen.
Bildung ist das Streben, die eigene Initiative, in tätiger Auseinandersetzung mit den Dingen und dem Geschehen in der Welt und im gemeinsamen Tun mit anderen eine Position, einen Standpunkt zu bedeutsamen Fragen zu entwickeln - bedeutsam für mich, bedeutsam für andere und bedeutsam für das Geschehen in der Welt.
Schlüsselsituationen als Ausgangspunkt der pädagogischen Arbeit im Situationsansatz
Schlüsselsituationen sind bedeutsame Situationen im Erleben der Kinder. Sie enthalten eine Fülle von möglichen Bildungsinhalten, die mit den Kindern gemeinsam entschlüsselt, entdeckt und erforscht werden.
Entlang der drei Dimensionen der Bedeutsamkeit - Bedeutsamkeit für das einzelne Kind, Bedeutsamkeit in der Interaktion mit den anderen und Bedeutsamkeit für das Geschehen in der Welt - skizziere ich drei Zugänge zu Situationsbereichen, anhand derer eine Art Curriculum konstruiert werden kann.
1. Ich in meiner Welt: Individuelle Handlungs- und Erfahrungsräume
Bedeutsam ist, was dem Mädchen oder dem Jungen ermöglicht, sich in dem Ausschnitt der Welt zu bewegen, der ihr oder sein Handlungs- und Erfahrungsraum ist, ihn zu erforschen und sich darin zurecht zu finden und ihn nach eigenen Interessen und Bedürfnissen mit zu gestalten. Für ein Kindergartenkind ist das seine Familie, die unmittelbare Wohnumgebung, der Kindergarten selbst - vielleicht noch weitere Erfahrungsbereiche, von denen die Erzieherin noch nichts weiß und die sie mit dem Kind, vielleicht auch mit den Eltern, entdecken und kennen lernen kann. Es geht um reale Orte - vielleicht der Heimatort, an dem die Familie früher gelebt hat -, Orte, die manchmal besucht werden - am Wochenende, in den Ferien oder weil Verwandte oder Freunde der Familie dort wohnen - oder Orte aus der Vergangenheit, vielleicht auch der Ort, an dem die Eltern arbeiten. Es können aber auch fantastische Orte sein, geträumte, in der Fantasie selbst entworfene Orte, Abenteuerwelten und Traumreisen. Und es können virtuelle Orte sein, die durch Medien produziert sind: Klangwelten, erzählte Geschichten, Bilder, Filme, Internet und andere im Computer entworfene Orte und Räume. Vielleicht auch spirituelle Räume, meditative Innen- und Weltsichten.
In einer Kindergemeinschaft im Kindergarten kommt so schon ein ganz schön großer Ausschnitt von Welterfahrung zusammen, der Stoff für Bildung in Hülle und Fülle bietet - ohne dass ein Lehrplan bemüht werden muss, in dem die Bildungsinhalte nach Wissensdisziplinen getrennt und nach Altersgruppen sortiert aufgelistet werden. Eher ist es die Qual der Wahl der Inhalte, die die Erzieherin mit einer Gruppe von Kindern intensiver bearbeiten und zu einem Bild werden lassen will. Die Kleinsten werden der Erzieherin den Weg weisen, wenn sie genau beobachtet und wahrnimmt, zu welchem Thema welche Kinder immer und immer wieder mit bewunderungswürdiger Hartnäckigkeit zurückkehren. Mit den älteren Kindern können solche Schwerpunkte gemeinsam geplant werden.
Viele Türen können hier geöffnet werden zum "Weltwissen der Siebenjährigen" wie Donata Elschenbroich es in ihrem gleichnamigen Bestseller entwirft. Ausgangspunkt bleibt immer die Erfahrungswelt der Kinder. Es geht nicht darum, möglichst viele der möglichen Themen abzuarbeiten, sondern jedem einzelnen Kind die Gelegenheit zu geben, das für sie oder ihn Bedeutsame einbringen zu können, es mit anderen Interessierten auszutauschen und Möglichkeiten zu finden, den Handlungsraum mit den Kindern nach ihren Vorstellungen zu gestalten.
2. Ich und Wir: Interaktion und Beziehung in der Gruppe
Bedeutsam sind Diejenigen, die das Kind in seinen Bewegungen unterstützen, weil sie ähnliche Interessen und Bedürfnisse haben - die eventuell aber auch mit ihm konkurrieren, eben weil sie dasselbe wollen und nicht von allem, was dazu gebraucht wird, immer ausreichend vorhanden ist. Oder Konkurrenz entsteht, weil eine oder einer mehr will als die anderen. Bedeutsam sind auch Diejenigen, die dem Kind begegnen, ihm etwas entgegenstellen, weil sie andere Interessen und Bedürfnisse haben, und mit denen ausgehandelt werden muss, wie unterschiedliche Interessen und Bedürfnisse nebeneinander oder nacheinander zum Zuge kommen können oder sogar so miteinander verbunden werden können - dass etwas Neues, mehrere Bedürfnisse und Interessen Zufriedenstellendes entsteht.
Im Kindergarten betrifft das die Aushandlungsprozesse mit den anderen Kindern, mit den Erzieherinnen und Erziehern, mit anderen Menschen, die dort arbeiten, und auch mit den Eltern, soweit sie Einfluss nehmen auf das Geschehen im Kindergarten. Hier geht es um Freundschaften und Interessengemeinschaften, um das Knüpfen und Lösen von Bündnissen, um Anerkennung und Abwertung, um Integration oder Ausgrenzung. Es geht um den Umgang mit Konflikten, um Regeln, Normen und Werte. Und letztlich darum, ob jedes Mädchen und jeder Junge hier etwas zu sagen hat oder ob es Machtstrukturen gibt, die die einen privilegieren und die anderen diskriminieren. Das Thema heißt Demokratie im Kindergarten.
Für die Erzieherin/ den Erzieher gilt es wiederum, genau zu beobachten und die eigene Position in der Kindergemeinschaft zu reflektieren. Löst die Erzieherin aufkommende Konflikte bereits im Keim oder verhindert bereits ihr Entstehen, weil sie von vorneherein regelt, wer was wo mit wem wie lange tun darf, wird sie die Kinder von sich abhängig machen, ihre Macht, die sie als Erwachsene hat, missbrauchen und den Kindern ihre Weltsicht überstülpen. Lässt sie zu, dass bestimmte Kinder ständig ausgeschlossen oder benachteiligt werden - weil sie z.B. anders aussehen als die Mehrheit, weil sie Mädchen oder Junge sind, weil sie eine andere Sprache sprechen -, fördert sie die Übernahme von in der Gesellschaft vorhandenen Diskriminierungsmustern, die Kinder schon frühzeitig in ihr Weltbild einbauen. Sie hat also hier die Verantwortung einzugreifen. Kein leichter Balanceakt - die Erzieherinnen und Erzieher brauchen hier kollegiale Beratung und professionell gestützte Reflexionsmöglichkeiten. Soziales Lernen? Ja - aber keine Kuschelpädagogik, wie sie dem Kindergarten neuerdings vorgeworfen wird, sondern Lernen in sozialen Kontexten, das kognitive, soziale und emotionale Bestandteile aufeinander bezieht.
3. Die Welt und ich: Weltgeschehen im Erleben von Kindern
Bedeutsam sind auch Phänomene, Bedingungen und Ereignisse in meinem Ausschnitt von Welt, auf die ich keinen direkten Einfluss habe, die aber mich oder diejenigen beeinflussen, die mit mir zusammen leben. Bedeutsam sind Ereignisse, die die innere Erlebniswelt des Kindes ansprechen, die Spaß machen oder traurig stimmen, die Ärger oder Wut erzeugen, die freudige Neugier wecken oder Angst auslösen. Nur wenn und weil das innere Erleben angesprochen ist, weil Gefühle mit im Spiel sind, entwickeln die Kinder Fragen, die aus ihnen die lernbegierigen Forscher mit der "strahlenden Intelligenz" machen.
Der Wechsel von Tag und Nacht ist ein Thema, das interessiert, weil ein Kind vielleicht den nächsten Tag herbei sehnt oder weil es Angst vor der Dunkelheit hat oder sich ärgert, dass es im Sommer abends schon zu Bett gehen muss, obwohl es draußen noch hell ist. Sind die Fragen da, kann es auch interessant sein zu erfahren, dass auf der anderen Seite der Weltkugel genau dann Tag ist, wenn bei uns Nacht ist oder dass es Länder nah am Äquator gibt, in denen es das ganze Jahr über zur gleichen Tageszeit hell bzw. dunkel wird, und warum das so ist.
Hier sind auch Erklärungen erlaubt und gewünscht, wenn sie an den Fragen der Kinder anknüpfen und die "Experten" der Versuchung widerstehen, alles erklären zu wollen, was sie wissen, statt da aufzuhören, wo die Frage des Kindes nicht mehr Antwort verlangt. Die Filme von Donata Elschenbroich und Otto Schweitzer zeigen hier einige brillante Beispiele aus der Praxis.
Erklären, das Teilen von Wissen und Erfahrung, ist auch da angebracht, wo Aufklärung über einen Sachverhalt Unsicherheiten und Ängste von Kindern überwinden hilft. Die Selbstbildungsprozesse der Kinder anzuerkennen heißt für mich nicht, dass die Erwachsenen in diesen Bildungsprozessen mit ihrem Wissen und ihren Erfahrungen keine aktive Rolle übernehmen dürfen. Es gilt jedoch immer wieder zu reflektieren, wo und wie Erklärungen die Bildungsprozesse der Kinder stützen und wo sie hindern und ablenken von den Fragen, die das Kind sich gerade stellt.
Auch hier sind kollegiale Beratung und professionelle Begleitung nötig, weil wir alle wenig gelernt haben, den Kindern über ihren Weg zu trauen. Zu schnell, zu oft, zu weitreichend sind wir mit Erklärungen, Belehrungen, Anleitungen und Ermahnungen zur Stelle. Wir haben es selbst nicht anders erfahren.
Kinder erwerben in der Auseinandersetzung mit solchen Schlüsselsituationen Ich-, Sozial- und Sachkompetenzen
- ein Selbstkonzept; ein Bewusstsein von sich selbst, verstanden als Selbstvertrauen in die eigenen Kräfte, als Selbstachtung im Sinne des auf sich selbst achten und als Selbstwertgefühl;
- Einsichten in und Erkennen von sozialen Zusammenhängen; die Erfahrung, dass meine Lebensäußerungen Wirkung auf andere haben und andere mich beeinflussen;
- Einsichten in und Erkennen von ökologischen Zusammenhängen, z.B. die Erfahrung, dass es im Sommer im Wald kühler ist als in der Stadt und auch frischer riecht, dass Autos stinken und die Luft grau machen, dass auch Pflanzen Durst haben und gegossen werden müssen, wenn sie nicht ausreichend Regen abbekommen - vielleicht bis hin zur Einsicht, dass es Nichts nicht gibt, sondern selbst ein scheinbar leeres Glas Luft enthält (wie die von Donata Elschenbroich interviewte Chemikerin demonstriert) und deshalb alles, was wir verbrauchen, etwas hinterlässt;
- ein Verständnis von der historischen Gewordenheit der Welt, z.B. der Einsicht, dass es zur Zeit, als meine Eltern Kinder waren, noch keine Handys gab, die Großeltern keine Computerspiele kannten, die Urgroßeltern vielleicht nicht einmal einen Fernseher hatten - seit Menschengedenken aber Geschichten erzählt und Bilder gemalt werden, gespielt, gesungen und musiziert wird - bis hin zu der Einsicht, dass es erzählte, gemalte, gespielte, gefilmte, gesungene, musizierte und getanzte Geschichten gab und gibt, die traurig oder fröhlich stimmen, die Angst oder Mut machen;
- die Erfahrung, dass die Welt voller Unterschiede ist und es dennoch vieles gibt, das überall zählt; z.B. dass Menschen an anderen Orten anders sprechen als ich, es aber überall auf der Welt Weinen und Lachen gibt, dass in anderen Teilen der Welt vielleicht ein ganzes Dorf zur Familie zählt und hier nur ein, zwei oder drei andere Personen, dass es aber überall auf der Welt wichtig ist, jemanden zu haben, mit dem man Freude und Kummer teilen kann und eine Gruppe, zu der man gehört, mit der man den Namen teilt, in der bestimmte Traditionen gelebt werden und in der bestimmte Regeln gelten, auf die der Einzelne mehr oder weniger Einfluss hat;
- Bereitschaft und die Fähigkeit, die Welt nicht nur aus der eigenen Perspektive zu betrachten, z.B. in der interreligiösen Begegnung zu erfahren, dass es verschiedene Antworten gibt auf die existentiellen Sinnfragen: wo komme ich her, warum gibt es mich, was passiert mit mir, wenn ich sterbe...;
- ein Verständnis dafür, dass die eigene Wahrnehmung und die eigenen Ansichten keine objektiven Tatsachen sind und es sich lohnt, sich mit anderen über ihre Wahrnehmungen und Einsichten, ihre Erklärungen und Überzeugungen auszutauschen, vielleicht auch zu streiten;
- die eigene Biographie, Familiengeschichte, lokale und nationale Traditionen und Gepflogenheiten zu reflektieren und zu erkennen, dass die eigene Identität kulturell geprägt ist
- und sich des Einflusses dieser kulturspezifischen Prägungen auf die persönlichen, subjektiven Wertungen und Einstellungen bewusst zu werden.
Dies ist ein anspruchsvolles, komplexes und vielseitiges Bildungskonzept - so anspruchsvoll, komplex und vielseitig wie die Kinder und wie diese Welt, in der sie mit uns aufwachsen. Ein kindgerechtes und realistisches Konzept.
Anmerkung
Bei diesem Artikel handelt es sich um einen Vortrag auf der Tagung des Verbands Evangelischer Kindertagesstätten am 25. und 26. Januar 2002 in Berlin.
Literatur
Elschenbroich, Donata: Weltwissen der Siebenjährigen. Wie Kinder die Welt entdecken können. Doris Kunstmann Verlag, München 2001
Leu, Hans Rudolf: Zum Konzept wechselseitiger Anerkennung. In: Ministerium für Bildung, Jugend und Sport des Landes Brandenburg: Auf dem Weg zu einem Bildungsauftrag von Kindertageseinrichtungen. Potsdam 1998
Qualität im Situationsansatz: Konzeptionelle Grundsätze, Qualitätskriterien und theoretische Dimensionen. Ergebnisse des 1. Projektjahrs zum Teilprojekt IV der Nationalen Qualitätsinitiative im System der Kindertageseinrichtungen. Berlin 2001; zu beziehen über INA gGmbH (s.u.)
Videos
Elschenbroich, Donata; Schweitzer, Otto: Nahaufnahme Qualität
dieselben: Das Rad neu erfinden
dieselben: Ins Schreiben hinein
Alle Filme zu beziehen über Deutsches Jugendinstitut, Nockherstraße 2; 81541 München