Alfred Weinrich
Wir gebrauchen unsere Hände, wie wir atmen oder aufrecht gehen - ohne an sie zu denken. Sie stehen uns - in aller Regel - stumm und willig zur Verfügung. Sie leisten, was wir ihnen abverlangen, in den vielerlei Verrichtungen des Arbeitsalltags und der Lebensbewältigung und verschaffen uns Erfolgserlebnisse und Vergnügen.
Dass ihre Leistungen auf einem riesigen Repertoire an Fähigkeiten, Mustern und Routinen beruhen, die in unserem Körpergedächtnis gespeichert sind, kommt uns kaum in den Sinn. Noch weniger die Frage, wie wir dieses Repertoire erworben haben. Wenn wir uns die Mühe machen, genau zu beobachten, was ganz kleine Kinder tun, wie sie scheinbar endlos, sinnlos und rastlos hantieren, agieren, lallen, sich bewegen, dann ahnen wir: Sie üben und haben Spaß daran. Ihr Spiel ist mehr als bloßes Betasten und Probieren. Sie trainieren ihre Fähigkeiten und machen sich zugleich mit ihrer Umgebung vertraut. Wir sehen sie handelnd denken.
Aber wir haben uns daran gewöhnt, über die Hände hinwegzusehen. Das war nicht immer so. In der Welt und in der Sprache unserer Eltern und Großeltern spielten die Hände noch eine andere Rolle. Das Deutsche Wörterbuch der Brüder Grimm aus dem 19. Jahrhundert dokumentiert den damaligen (literarischen) Sprachgebrauch und zählt eine Unmenge von Gebrauchsformen des Wortes Hand in seinen direkten - sinnlichen wie auch in übertragenen - bildhaften Bedeutungen auf, die uns meist noch verständlich, aber kaum mehr geläufig sind. Offenbar hat dieser Wandel, wie auch unsere Gewohnheit, die Hände zu übersehen, etwas mit der Entsinnlichung unserer modernen Welt zu tun.
Die Hirnforscher sagen uns, dass in der frühen Kindheit tatsächlich ein beträchtlicher Teil unseres Lebenspensums an Lernen bewältigt wird: Körperlernen, Handlernen, Spracherwerb. Bedürfen also diese frühen Lernprozesse gar nicht unserer Aufmerksamkeit? Können wir der Natur der Kinder ihren Lauf lassen, darauf vertrauen, dass ihre Körper und Hände schon - naturwüchsig - angemessene Bedingungen für die Entfaltung ihres Grundrepertoires finden werden, und uns, als Pädagogen, wichtigeren Themen zuwenden, wie etwa der Vermittlung von kognitiven und kreativen Fähigkeiten, sozialen Kompetenzen und Kulturtechniken? Dieses Konzept kommt uns doch recht vertraut vor!
Neuerdings mehren sich in der (Früh-) Pädagogik die Stimmen, die das alte Konzept kritisieren, das im (kindlichem) Lernen einen von außen steuerbaren Prozess sieht, und vorschlagen, genauer hinzusehen. Die Erkenntnisse über das frühe Lernen lieferten ein besseres Konzept zum Verständnis von Lernen überhaupt. Säuglinge und Kleinkinder konstruierten, indem sie handelnd denken und denkend handeln, ihr Grundrepertoire an Fähigkeiten und damit zugleich ihren Anteil an der Welt (Hier beziehe ich mich insbesondere auf die Schriften von Gerd E. Schäfer von 1999 und 2003).
Im Konstruktionskonzept steckt, als Vorbild, die Tätigkeit der Hände. Sie bilden sich aus zu Werkzeugen und schaffen sich weitere Werkzeuge, um die Welt handhabbar zu machen. Das Gehirn ist immer beteiligt, aber die Hände sind seine wichtigsten Außenposten - in Verbindung mit allen anderen Sinnen. Es denkt mit den Händen - wie mit dem ganzen Körper -, zunächst buchstäblich und dann auch im übertragenen Sinn: wie mit den Händen, indem es selbst Werkzeuge, nämlich Symbole als Begriffe gebraucht.
Wichtig scheint mir: Das praktische Denken geht dem theoretischen voraus, aber das Grundmuster bleibt, und vieles spricht dafür, dass in diesem Muster, also sozusagen im Verborgenen, auch die Hände weiter eine Rolle spielen, behilflich sind, ja dass ihr Gebrauch das Denken anregt. Kreative oder intensive Momente in unserem Leben, in denen wir ganz beteiligt sind, lassen uns das ahnen. So verstanden ist jedes Lernen ein bis in den körperlichen Grund reichender Akt der Selbstbildung, der durch äußere Einwirkung, wie z.B. Erziehung, gefördert oder behindert werden kann (Hier stütze ich mich auf das Buch von Frank R. Wilson, erschienen 2002).
In der pädagogischen Praxis gibt es schon lange Modelle, die, entgegen den jeweils vorherrschenden pädagogischen Lehrmeinungen, dem Respekt vor dem einzelnen Kind, seiner Körperlichkeit, seinen Möglichkeiten und seinen Äußerungen Vorrang geben vor Lernzielen und Curricula. Als neuere Beispiele seien hier nur Emmi Pikler für das Lernen im ersten Lebensjahr und die Krippen und Kindergärten in Reggio Emilia erwähnt. An ihnen zeigt sich, dass auch die pädagogische Praxis der Theorie voraus sein kann.
Die praktische Umsetzung dieses neuen Lernkonzepts hat sich auch das Projekt "Bildung und Erziehung in Kindertageseinrichtungen" vorgenommen. Es wurde 1997 bis 2000 mit Kindertagesstätten in drei Bundesländern durchgeführt und ist dokumentiert in den von Laewen und Andres herausgegebenen Büchern von 2002, auf die ich mich im Folgenden beziehe. Sein Es Anspruch wird schon in dem wuchtigen Buchtitel "Forscher, Künstler, Konstrukteure" demonstriert. Gemeint sind die Kinder im Vorschulalter als handelnd Lernende. Das weckt die Erwartung, dass hier nun endlich auch die Hände in ihrer besonderen Bedeutung für das Lernen in den Blick genommen werden.
Eine Stichprobe: "Besonders im frühen Alter organisieren die Kinder ihre Beziehungen zur Welt als Bewegungen und Bewegungsmuster. Die ersten 'Begriffe' von der Welt, die sie sich machen, sind noch sehr handlungsnah und bestehen eher aus Bewegungs- und Handlungsmustern als dass sie von geistiger Natur wären. Das können sie erst werden, wenn die Wahrnehmungen und Erfahrungen, die die Kinder machen, in Bilder und später in Symbole umgesetzt werden können, mit denen Kinder dann ebenso wie Erwachsene 'denken' können. Zunächst aber hängt ihr 'Denken' noch eng mit dem Handeln zusammen" (Bd. 2, S. 47).
Es ist dann noch weiter davon die Rede, dass "sich Kinder ihre Zugänge zur Welt... über Handeln und Bewegung erschließen"; von der "Konstruktion seiner Motorik" als "wichtiger Entwicklungsaufgabe", und der "Ausdifferenzierung der Feinmotorik" - alles im gleichen, abgehobenen Ton (a.a.O. S. 48). Auf fast 700 Seiten der Veröffentlichungen des Projekts: Die Hände werden nirgends zum Thema. Der Blick geht über sie hinweg.
In unserer Stichprobe können wir einen Grund ausmachen. Es heißt dort, sinngemäß: Was "noch sehr handlungsnah" und körperlich sei, das sei noch nicht "von geistiger Natur", sei noch kein richtiges Denken, "wie Erwachsene denken können". Der Autor meint hier offenbar den langen Weg zum symbolischen Denken, in dem Zeichen für Sachverhalte oder, um im konstruktivistischen Bezugsrahmen zu bleiben, für Konstruktionen von Welt stehen, ohne dass es noch einen erkennbaren sinnlichen Bezug gäbe. Ein Beispiel: Der Klang und das Schriftbild des Wortes Hand sind zwar noch sinnlicher Natur, haben aber mit dem Körperteil, den das Wort bezeichnet, nichts zu tun. Das Wort ist ein vereinbartes Symbol.
Indem der Autor dafür die Bezeichnung "geistige Natur" wählt, gleitet er unversehens in ein altes ideologisches Vorurteil, das im Geist eine Substanz irgendwo oberhalb des Körpers; und im Körper ein Substrat für den Geist sieht. Die aktuelle Tendenz zur Entsinnlichung unserer Lebenswelt mag dem noch zusätzlich Vorschub leisten. Die klassische Gegenüberstellung von Körper und Geist, Leib und Seele, nämlich als qualitativ unterschiedliche, ja gegensätzliche Substanzen, ist aber, wiederum in unserem Bezugsrahmen, ein Konstrukt, das zu dem konstruktivistischen Verständnis von kindlicher Bildung nicht passt, ihm sogar im Weg steht. Von den Höhen des Geistes aus erscheinen die Details der Stufen körperlichen Lernens als unwichtig, kaum mehr wahrnehmbar, und die Annahme, dass körperliche Vorgänge lebenslang der Urgrund allen Lernens und Denkens bilden, ist eher anrüchig, nicht recht akzeptabel. Die in den Veröffentlichungen des Projekts immer wieder beschworene Definition kindlichen Lernens als eigene Konstruktion verflüchtigt sich zur leeren Formel, wenn sie ihren sinnlichen Kerngehalt nicht sehr ernst und unter die Lupe nimmt.
Noch ein Beispiel dafür, wie der Blick der Autoren selbst dann noch über die Hände hinweggeht, wenn sie, sozusagen unter der Hand, schon Thema sind. In den "Bausteinen einer Fortbildungskonzeption" werden Übungen aus der Bauhaus-Pädagogik empfohlen und beschrieben, die Erzieher/innen an das Verständnis kindlicher sinnlicher Wahrnehmungs- und Gestaltungsweisen heranführen sollen. Durch Ausschaltung oder Einschränkung eingespielter Kontrollen, etwa des Malens durch das Auge, werden die Hände zu spontanen Akteuren. "Anhand der Videoaufnahmen werden die TN mit der sinnlichkörperlichen Ebene konfrontiert: Sie sind meist zwar unsicher beim Betrachten, begreifen aber sofort, welche wichtige Rolle die körperliche Ebene der Bewegung im Gestaltungsprozess der Kinder (und bei ihnen selbst) spielt" (Bd. 1, S. 275). Fertig! Als ob es unanständig wäre, genauer hinzusehen! Die Hände - etwas Intimes, ein Stück Nacktheit, Sexualität? Vielleicht auch das!
Dass - wie in diesem sehr sinnvollen Fortbildungskonzept - die Praxis der Theorie voraus ist, scheint mir übrigens insgesamt für das Verhältnis des zweiten Bandes der Projektveröffentlichungen, des "Werkstattbuchs", zum ersten Band zu gelten, der die theoretischen "Bausteine" enthalten soll.
Meine Kritik aus dem einen Punkt des Übersehens der Hände kann und will nicht den Anspruch erheben, allen Aspekten und allen Verdiensten dieses Projekts gerecht zu werden. Seine Pionierfunktion sei unbestritten! Der Fehler liegt meiner Ansicht nach darin, dass das konstruktivistische Konzept nicht konsequent auf die eigene Theorie angewandt wird. Das hoffe ich deutlich gemacht zu haben. Ich möchte aber noch auf eine bedenkliche Folge hinweisen, die sich daraus ergeben könnte.
Die Autoren sehen das zentrale Instrument der die Selbstbildung der Kinder unterstützenden Pädagogik, die sie vorschlagen, im Aufgreifen und Entschlüsseln der Themen der Kinder, die diese in ihrem handelnden, konstruierenden Lernen bearbeiten, und halten sich dies als entscheidenden Fortschritt gegenüber dem Situationsansatz zugute.
Immerhin sind ja gerade auch solche Entschlüsselungen Konstrukte, Werkzeuge, oder sagen wir einfach: Deutungen, der beobachtenden und entschlüsselnden Erwachsenen. Das heißt, sie sind abhängig von deren Wissens- und Verstehenshorizont. Durch die Marken, die das Projekt setzt - eine offensichtlich noch sehr in der Entwicklung befindliche Entwicklungspsychologie und die Reflexion eigener biografischer Lernerfahrungen -, scheint mir dieser Horizont noch viel zu eng abgesteckt. Es sind Anfänge, nicht mehr! Aber selbst, wenn sich dieser Horizont durch künftige Forschungen wesentlich erweitern lässt, bleibt immer noch die Frage, ob sich damit auch die Treffsicherheit von Deutungen erhöht oder nicht einfach nur die Vielzahl von Deutungsmöglichkeiten.
In der Verpflichtung von Erziehung auf eine so heikle Aufgabe sehe ich zwei Risiken: Dass Erwachsene sich befugt fühlen, in Lernprozesse einzudringen, die sie besser nur fördernd begleiten und ihrer Eigensteuerung überlassen sollten, und dass den Kindern vermeintliche Themen übergestülpt werden. So könnte sich ein unterschwelliges Einfalltor auftun für Projektionen von Fremdinteressen, die sich als Entwicklungsthemen der Kinder tarnen. Und außerdem: Wer sorgt dafür, dass gelingende Entschlüsselungen nicht zum Verfügungswissen werden, beispielsweise für die Werbung?
Sinnvoll und notwendig ist sicher die Entwicklung von systematischen Formen der Beobachtung und ihrer Dokumentation. Da würde ich die Beobachtungsbögen der Autoren gern ergänzen um die Frage, was die Kinder mit ihren Händen tun, und um die Bitte, sich mit Deutungen zurückzuhalten.
Zugleich ist es mir wichtig festzuhalten, dass es ein besonderes, vielleicht eher seltenes pädagogisches Talent zu geben scheint, nämlich die Fähigkeit zum intuitiven Erfassen von wichtigen Entwicklungsthemen der Kinder. Wer sich da sicher weiß in seiner Achtung vor und in seiner Intuition für kindliches Lernen, dem sollte auch niemand mit irgendwelchen theoretischen Einwänden in den Arm fallen. Denn, wie gesagt, die Praxis ist der Theorie oft voraus! Denken wir nur an Reggio und Malaguzzi. Der soll übrigens einmal den Erzieherinnen einer Einrichtung in Reggio empfohlen haben, den Mund zu halten und nur auf die Hände der Kinder zu achten. Wenn's nicht stimmt, ist es doch gut erfunden!
Literatur
Hans-Joachim Laewen, Beate Andres (Hrsg.): Bildung und Erziehung in der frühen Kindheit, Bausteine zum Bildungsauftrag von Kindertageseinrichtungen (Bd. 1), Weinheim, Berlin, Basel: Beltz 2002a
Hans-Joachim Laewen, Beate Andres (Hrsg.): Forscher, Künstler, Konstrukteure, Werkstattbuch zum Bildungsauftrag von Kindertageseinrichtungen (Bd. 2), Weinheim, Berlin, Basel: Beltz 2002b
Gerd E. Schäfer: Sinnliche Erfahrung bei Kindern. In: A. Lepenies u.a.: Kindliche Entwicklungspotentiale. Normalität, Abweichungen und ihre Ursachen. Materialien zum 10. Kinder- und Jugendbericht. Bd. 1, München: DJI 1999, S. 153-290
Gerd E. Schäfer (Hrsg.): Bildung beginnt mit der Geburt. Förderung von Bildungsprozessen in den ersten sechs Lebensjahren; Weinheim, Berlin, Basel: Beltz 2003
Frank R. Wilson: Die Hand - Geniestreich der Evolution. Ihr Einfluss auf Gehirn, Sprache und Kultur des Menschen. Stuttgart: Klett/ Cotta 2000 u. Reinbek: Rowohlt 2002