Aus: e&l- Zeitschrift für handlungsorientiertes Lernen 1997, Jg. 5, Heft 3/4, S. 36-38
Michael Rehm
Ein paar Gedanken voran...
Spiele sind unterhaltsam, machen Spaß, sind meist Selbstzweck - man spielt um zu spielen. Auf der anderen Seite können sie kraftvolle Werkzeuge im pädagogischen und therapeutischen Bereich sein. Spiele sind allgemein - ob kindliches Spiel oder Spiele in einer Gruppe von Erwachsenen - ein Raum zum Probehandeln, wobei gelernte Verhaltensmuster oft direkt im Alltag angewandt werden können. Durch den geschützten Raum des Spiels wird aber spielerisch gelernt, der Ernst und der Streß ist viel geringer als im Alltag - deswegen machen die Spiele Spaß, man kann experimentieren ohne große Konsequenzen befürchten zu müssen.
Auch im pädagogischem Rahmen wird selbstverständlich viel gespielt. Hierbei dienen die Spiele oft keinen bestimmten Zweck, sie machen Spaß und wirken auflockernd. Wenn man aber bestimmte pädagogische oder therapeutische Ziele verfolgt, ist es notwendig, daß man sich einige Vorgedanken macht, dann sollten die Spiele (Kooperationsspiele, Initiativaufgaben, Abenteuerspiele) nicht nur aus dem Stand gespielt werden. Zum Beispiel macht die richtige Einführung, z.B. durch eine Rahmengeschichte, evt. die Einkleidung in eine Spielreihe, viele Spiele erst so richtig interessant. Aber auch Gedanken darüber, welche Sicherheitsaspekte zu beachten sind, was während des Spiels passieren kann, wie ich das Spiel nachbereite, sind einige der vielen Überlegungen, welcher der oder die Durchführende sich stellen sollten. Folgend ein paar Leitfragen zum strukturierten Planen von Spielen und erlebnispädagogischen Maßnahmen.
Vorüberlegungen
Welches Ziel will ich erreichen? Wo steht die Gruppe im Gruppenprozeß, welche Stärken / Schwächen zeigen die TeilnehmerInnen und die Gruppe als Ganzes (was sollte gefördert, verbessert oder herausgearbeitet werden)? Welche Bedürfnisse haben die Einzelindividuen? Gibt es bei den Einzelpersonen etwas spezielles zu beachten (Ethnische/religiöse Besonderheiten, Berührungsängstliche, Hypermotoriker etc.) Wie ist ihre physische Leistungsfähigkeit? Zu welcher Tageszeit soll die Aktivität stattfinden? Welche Aktionen gehen voraus, welche folgen? Soll das Spiel etwas vor- oder nachbereiten?
Sind ähnliche Spiele schon gemacht worden? Welche psychischen und physischen Gefahren sind zu überdenken? Welche weiteren Vorbereitungen bedarf es? Was ist an Material nötig? Welche Nachbereitungen sind möglich / nötig (aufräumen, Reflexionen)?
Wahl des Mediums
Welche Ziele will ich mit dem Spiel erreichen? Dies ist m.E. der wichtigste Gesichtspunkt beim Wählen der Aktivität - es ist eben sinnvoller, Individualsportarten bei intrapersonellen Zielen zu wählen und gruppendymnamische Aktivitäten zur Förderung/Auslösen von Gruppenprozessen. So klar wie dies klingt, so oft wird dies vergessen.
Weiterhin: Was ist machbar (Zeit, Kosten, Aufwand)? Ist das Ziel nicht auch einfacher zu erreichen (ökonomisches Prinzip)?
Das Ziel sollte - wenn möglich - die Wahl des Mediums bestimmen und nicht umgekehrt. Dies wäre didaktisch am sinnvollsten, aber oft zwingt der vorgegebene Rahmen zum andern Weg - eben wenn z.B. in der Nähe eine Kletterwand vorhanden ist und kein Fluß, wird man eher zum Klettern gehen. Hier wird es dann allerdings oftmals etwas schwieriger, das vorhandene Medium für das gewünschte pädagogische Ziel zurecht zu biegen.
Die Erfahrung hat aber gezeigt, daß durch die gezielte Einführung und den entsprechenden Rahmen bei vielen Medien eine große Bandbreite an Zielen erreicht werden kann. Außerdem wird nicht nur in der Aktivität, sondern auch außerhalb durch die entstehenden Gruppenprozesse, oder u.a. die Natureindrücke, das Zusammensitzen am abendlichen Lagerfeuer etc. gelernt.
Physiologische Sicherheit
Die physiologische Sicherheit der Teilnehmer muß immer gewährleistet sein. Gefahren sind abzuwägen, evt. geschultes Personal zu Rate zu ziehen. Bei verschiedenen Aktivitäten müssen die Teilnehmer lernen, sich selbst gegenseitig zu sichern (spotting), um Verletzungen durch stürzen oder fallen zu vermeiden. Es ist weiterhin vorab zu überlegen, was bei Unfällen zu tun ist (Erste Hilfe Ausrüstung, Rettungskette, Erste Hilfe Ausbildung der Durchführenden), eventuell ist es sinnvoll dies gedanklich in der Leitung des Projekts durchzuspielen.
Psychologische Sicherheit
Wir wissen oft nicht, was bestimmte Spiele und Handlungen bei verschiedenen Personen auslösen können, welche Bedeutung diese für sie haben. Deshalb ist Freiwilligkeit generelles Prinzip. Dennoch darf man etwas "Überzeugungskraft" anwenden - hinterher hat es meistens den zuerst Spielunwilligen auch gut gefallen.
Zur psychologischen Sicherheit sollte man die Aktivitäten, wenn auch nur kurz, nachbereiten (z.B. darüber reden), um eventuell entstandene Probleme besprechen zu können. Auch hier sollte man vorab überlegen, wie man reagieren will, falls etwas schief läuft (z.B. ein Teilnehmer in Tränen ausbricht, es zu Streit kommt etc.), ab wann man eingreift bzw. abbricht.
Motivation
"Ein Spiel hat positiven Aufforderungscharakter, somit ist eine extrinsische Motivation nicht nötig" (vgl: Reiners nach Portele. In Reiners, Annette: a.a.O., S. 20). Ein frommer Wunsch, es ist dennoch oft der Ideenreichtum der Kursleiterin gefragt, um die Kursteilnehmer zum Spielen zu bringen. Hierbei hilft es öfters bei speziellen Gruppen wenn Sinn und Grund der Spiele und Aktivitäten erklärt, den Teilnehmern einsichtig gemacht werden. Besonders im Erwachsenenbereich wollen die Teilnehmer oft wissen, warum sie jetzt spielen "müssen". Wenn erklärt wird, daß bestimmte durchdachte Ziele dahinterstecken, welche spielerisch einfacher zu erreichen sind, als mit "pauken", sind sie meistens leichter zu begeistern. Weiterhin ist Freiwilligkeit selbstverständlich, wenn jemanden ein Spiel unangenehm ist, sollte er / sie die Möglichkeit haben, als Beobachter teilzunehmen.
Die richtige Einführung / Rahmengeschichte
Eine gute Einführung ist meist schon die halbe Miete um das Interesse zu wecken. Eine schöne Geschichte zuvor, ein Beispiel oder ein Bild kann den Anreiz und den Lernerfolg sehr stark erhöhen und die Aufmerksamkeit auf ganz bestimmte gewollte Komponenten wecken. Die Teilnehmer können sich leichter in das Spiel hineindenken, die Phantasie wird beflügelt, evt. die Lernsituation intensiver. Es wird in der Aktion selbst schon gelernt und automatische Übertragungen auf den Alltag gemacht, und nicht erst in der Reflexion hinterher. Natürlich können wir nicht für die Teilnehmer erleben oder "vorerleben". Jedes Mitglied der Gruppe wird aufgrund seiner eigenen Sozialisation die gleiche Aktion sehr unterschiedlich erfahren. Durch geschicktes Arrangement des pädagogischen Settings (Geschichte, Umgebung, Spielregeln, Struktur des Spiels, ... ) wird jedoch die Wahrscheinlichkeit, daß bestimmte Erfahrungen gemacht und Lernziele erreicht werden, sehr stark erhöht.
Bei der Auswahl der Geschichte ist wie immer das Feingefühl der Spielleiterin gefragt: Welches Spiel zu welchen Zweck zu welchen Zeitpunkt und welcher Einführung. Es hat sich in der Praxis inzwischen bewährt, verschiedene Spiele und Aktionen in eine Rahmengeschichte oder eine Abenteuerspielsequenz einzubinden (vgl. dazu: Gilsdorf, Rüdiger: a.a.O.).
Durchführung
Während den Spielen zieht sich der Teamer so weit wie möglich zurück und beobachtet die Gruppe, unter anderem um durch seine Leitungskompetenz gegebene dominante Figur in der Gruppe das Spiel nicht zu beeinflussen. Er kann nun für weitere Aktivitäten Informationen sammeln (wie arbeitet die Gruppe zusammen, werden Pläne entwickelt oder mehr intuitiv bzw. spielerisch gehandelt, welche Rollen übernehmen die einzelnen Gruppenmitglieder, wer dominiert, wer zieht sich zurück etc.). Erst bei ernsten Konflikten oder physischen Gefahren greift er ein, läßt die Gruppe noch einmal ihr Handeln bzw. ihre Lösungsstrategie durchdenken, oder bricht bei größeren Problemen oder Gefahren ab.
Bei reinen Auflockerungsaktivitäten kann der Teamer jedoch auch ebenso einmal mit vollem Engagement mitmachen, um mit seiner Gruppe gemeinsam, als fast "normales" Mitglied etwas zu spielen.
Nachbereitung
Warum immer diese Reflexionen? Diese Frage stellen sich die Teilnehmer der verschiedenen Aktivitäten des öfteren.
Das Wichtigste bei der Erlebnispädagogik aus pädagogischer Sicht ist die Umsetzung der von den Partizipanten durch die Aktivitäten gewonnenen Erkenntnisse - sie zuerst als allgemeine Lebenshilfen anzuerkennen, sowie dann den Transfer ins normale Leben bzw. in den Schul- bzw. Berufsalltag zu vollziehen. Sonst verbleiben die Aktivitäten "nur" Spiel, Sport und Freizeitabenteuer, von "Pädagogik" kann man dann kaum sprechen, auch wenn Sport und Freizeiterlebnis ihren eigenen wichtigen Stellenwert haben.
Viel ist schon über Reflexion und Transfermodelle geschrieben (Heckmair, Bernd / Wagner, Franz-Josef: a.a.O. Gass, Michael A., übersetzt von Schad, Niko: a.a.O. Schad, Niko: a.a.O.. Kolb, Darl G.: a.a.O.. Gass, Michael A.: a.a.O.) und in den Artikeln diskutiert worden, besonders welche Modelle den besten Lernerfolg erzielen. Dies ist bestimmt auch sehr wichtig, viele Aussagen richtig.
Der Gedanke, die Aktivitäten für sich sprechen zu lassen, sie selbst wirken zu lassen, liegt auf der Hand. Das Natur-, Gruppen-, und Abenteuererlebnis hat seine eigene Wirkung auf die Teilnehmer. Dennoch sind Reflexionen wichtig, um den Gruppen- bzw. Aktivitätsleitern ein Feedback zu geben, sowie den Teilnehmern die Möglichkeit zu eröffnen, ihre Erlebnisse und Gefühle zu verbalisieren und somit zu verinnerlichen. Es können dadurch aufgetretene Probleme besprochen werden, Lösungsmöglichkeiten für künftige Aktivitäten gesucht werden, aber auch positive Effekte hervorgehoben werden. Aus Sicht der Lernpsychologie bewirkt die Verbalisierung, aber auch die rein gedankliche Wiederholung bei nonverbalen Reflexionen, eine viel höhere Lernleistung. Während den verbalen Reflexionen wird des weiteren die Kommunikationsfähigkeit trainiert und Kommunikationsstrukturen innerhalb der Gruppe offengelegt.
Bei Reflexionen ist zu beachten, daß sie sobald als möglich nach der Aktivität durchgeführt werden, da sonst die Eindrücke zu sehr verwaschen, zu verklärt und einseitig gesehen werden. Ebenso ist es sehr interessant, die Erwartungshaltungen der Teilnehmer zu Beginn zu erfragen und mit der Gesamtreflexion am Ende des Kurses zu vergleichen.
Allerdings muß die Gefahr gesehen werden, daß durch zu viele und zu lange Reflexionsphasen das pädagogische Ziel gestört werden kann, der Sinn zerredet wird. Hier ist die erfahrene Pädagogin gefragt, welche ein ausgewogenes Gleichgewicht von Wirkenlassen bestimmter Aktivitäten und Besprechen von anderen vornimmt. Dies ist auch oft von der Art der Aktivitäten vorgegeben.
Merksätze
Der Leiter muß immer selbst abschätzen: Welche Aktivität mit welcher Gruppe wann und warum.
Kein Aktionismus bei Schulungsmaßnahmen. Die Spiele sind hauptsächlich Medium zum Erreichen von pädagogischen Zielen. Es gilt der didaktische Leitsatz: mit geringsten Aufwand das größte Ziel erreichen. Bei Freizeitaktivitäten können sie jedoch reiner Selbstzweck sein.
Sinn und Grund der Spiele und Aktivitäten sollten erklärt, den Teilnehmern einsichtig gemacht werden.
Freiwilligkeit ist selbstverständlich.
Eine gute Einführung ist der halbe Erfolg, eine gelungene Reflexion verbessert den Transfer in den Alltag erheblich.
Spiele und Interaktionspädagogik stehen im Kontext zur Gesamtmaßnahme: Soziales Lernen und offene Lernformen sollten auch sonst eingeübt / praktiziert werden, sonst sind die "Spielformen" unglaubwürdig.
Literatur
Gass, Michael A.: "Programming the transfer of learning adventure education". In: Journal of Experiential Education, 10 (1985), No.3. S. 18-24.
Gass, Michael A., übersetzt von Schad, Niko: "Metaphorisches Lernen in therapeutisch orientierten erlebnispädagogischen Programmen". In: e&l, Zeitschrift für handlungsorientierte Pädagogik, V.3 (1995) Nr. 1 S. 7-10 und Nr. 2. S.58-61.
Heckmair, Bernd / Wagner, Franz-Josef: "Lernmodelle und Programmtypen - Neues zur erlebnispädagogischen Methodik". In: e&l, Zeitschrift für handlungsorientierte Pädagogik, V.3 (1995) Nr. 1. S.4-7.
Kolb, Darl G.: "When Is A Mataphor Not A Metaphor?" In: Journal of Experiental Education, V.14 (1991), No3. S53-54.
Rehm, Michael: "Interaktionspädagogik im Schulungsbereich". Unveröffentlichtes Schulungsskript bfz-Augsburg, 1997.
Schad, Niko: "Erleben und miteinander reden - Reflexionsmodelle in der Erlebnispädagogik". In: e&l, Zeitschrift für handlungsorientierte Pädagogik, V.1 (1993) Nr. 2&3. S.49-53.
Spielbücher
Baer, Ulrich (Hrsg.): "666 Spiele -für jede Gruppe -für alle Situationen". Seelze 1994.
Cornell, Joseph: "Mit Kindern die Natur erleben". Mühlheim 1991.
Fluegelmann, Andrew / Tempeck, Shoshana: "New Games - die neuen Spiele". Band 1 und 2. Mühlheim 1976 und 1991.
Gilsdorf, Rüdiger: "Kooperative Abenteuerspiele: eine Praxishilfe für Schule und Jugendarbeit". Seelze-Velber, 1995.
Gudjons, H.: "Spielbuch Interaktions-Erziehung". 6.Auflage. Schriften zur Beratung und Therapie im Raum der Schule und der Erziehung. Bad Heilbrunn 1995.
Reiners, Annette: "Praktische Erlebnispädagogik". 3.Auflage. Fachhochschule München 1993.S.20.
Robra, Andreas: "Zauberstein und Riesenstab - Abenteuer-Rallyes für Kinder, Jugendliche und Erwachsene". Langenbeutingen 1995.
Rohnke, Karl: "Cowtails and Cobras II, A Guide to Games, Initiatives, Ropes Courses, & Adventure Curriculum". Dubuque, Iowa (USA) 1989.
Rohnke, Karl: "Silver Bullets, A Guide to Initiative Games, Adventure Games and Trust Activities". Dubuque, Iowa (USA) 1984.
Rohnke, Karl: "The Bottom less Bag." Dubuque, Iowa (USA) 1988.
Trommer, Gerhard (Hrsg.): "Natur wahrnehmen mit der Rucksackschule". Braunschweig 1991.