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Zitiervorschlag

Staunen bildet. Vom Staunen als Erkenntnis-, Sozio- und Psychodrama in Bildungsprozessen

Ekkehard Martens

 

Staunen tut jeder, nicht zuletzt Erzieherinnen, die es mit den "staunenden Kinderaugen" vor sich zu tun haben, ihre eigenen "staunenden Kinderaugen" mit ihnen neu entdecken und gemeinsam mit den Kindern neugierig auf Bildungsreisen gehen - ohne Zwänge und Regularien, einfach so.

Wie und worüber aber staunen wir Erwachsenen, welche Vorurteile leiten uns? Staunen will gelernt, kultiviert sein.

Einleitung: "Was gibt's denn da zu staunen?"

Wenn einer eine Reise tut, dann kann er viel erzählen, von erfreulichen und unschönen, von faszinierenden und abstoßenden Eindrücken und Erfahrungen. Reisen ist auch eine Metapher für Bildungsprozesse, insofern wir in ihnen Neues und Ungeahntes in der Welt, im Umgang mit uns selbst und mit anderen entdecken, Dabei können wir ins Staunen geraten. Das Staunen über Neues und Ungeahntes kann uns frei machen von bisherigem Bildungsballast als einem toten Wissen, das wir bloß angelernt, uns aber nicht zueigen gemacht haben. Das Staunen kann uns zugleich frei machen für neue Bildungserfahrungen, die unsere Sicht auf uns selbst, auf andere und auf die Welt erweitern und differenzieren. Wer nicht oder nicht mehr unter dem vermeintlichen oder realen Zwang der Arbeitswelt und der Wissensproduktion steht, Wissen oder Bildungsgüter anzuhäufen und stets auf dem neuesten Stand zu sein, kann sich "einfach so" staunend öffnen für das, was ihm an Interessantem, Großartigem oder auch Erschreckendem begegnet. Wir haben nur den einen Nutzen davon: ein reichhaltigeres, freieres Bild von uns selbst, den anderen und der Welt. Und in einer solchen Bildung als Staunen liegt die Chance für ein reichhaltigeres, sinnvolleres Leben.

Wir gewinnen im Staunen neuartige Erkenntnisse von der Welt, lernen uns selbst oder unsere Psyche anders kennen und begegnen den anderen anders als zuvor. Im Staunen spielt sich somit zugleich ein Erkenntnis-, Psycho- und Soziodrama ab. In der Art, wie und worüber wir staunen, zeigt sich, was für uns Erkennen bedeutet - Staunen ist ein Erkenntnisdrama; ferner zeigt sich im Staunen ein Psychodrama, wie wir uns selbst verstehen, und schließlich zeigt sich im Staunen ein Soziodrama, wie wir uns zu den anderen verhalten. So ist etwa der See mit den Bäumen und Häusern ringsherum von Eis und dickem Raureif überzogen. Sein Anblick ruft bei einer Frau den staunenden Ausruf hervor: "Da sieht man richtig den Frost!" Ihr Begleiter dagegen kommentiert nüchtern: "Ich sehe nur, dass der See zugefroren ist." Sieht man einmal von naheliegenden Deutungen wie einer gestörten Beziehung, schlechter Laune oder sprachlichen Spitzfindigkeiten ab (man kann nicht ein Abstraktum wie Frost, wohl aber konkrete, frostige Dinge sinnlich wahrnehmen), scheint diese Szene zunächst typisch zu sein für eine rollenspezifische Arbeitsteilung. Die Frau ist kompensatorisch "als Frau" für romantische Gefühle zuständig, der Mann dagegen "als Mann" für das unmittelbar Praktische und Greifbare. Über alle rollenspezifischen Differenzen hinaus aber leben wir alle bis in den letzten Winkel des Erdglobus und schließlich des gesamten Universums in einer wissenschaftlich-technischen Welt, die allem und jedem nur durch menschliches Messen, Zählen und Wiegen einen Sinn verleiht.

Der Soziologe Max Weber spricht daher in seiner berühmten Rede "Wissenschaft als Beruf" (1917) von einer "entzauberten Welt", in der "prinzipiell keine geheimnisvollen, unberechenbaren Mächte" mehr gelten, sondern "alle Dinge - im Prinzip - durch Berechnen" beherrschbar seien. In ihr bleibt kein Platz mehr übrig für etwas, über das wir wirklich staunen können, einfach so. In der "entzauberten Welt" bleiben für ein zweckfreies Staunen höchstens vereinzelte Momente für Verliebte, Dichter, fromme Seelen, einfache Gemüter oder Spinner und Kinder übrig. Der Realist oder der Mann von Welt dagegen lässt sich durch nichts aus der Fassung bringen. Coolness gilt besonders bei Jugendlichen als Zeichen des Erwachsenseins, der perfekten Selbst- und Weltbeherrschung, wie wir sie uns in den Film- und Computerhelden selber vormachen.

Wir staunen zwar im Alltag über vieles, das wir so nicht erwartet haben, nicht verstehen können oder uns bisher nicht vorstellen konnten, über großartige Rekorde im Sport, Neues aus Wissenschaft und Technik, besondere Leistungen oder spektakuläre Ereignisse. Die Wunder des Alltags aber nehmen wir selten als staunenswert wahr: den zugefrorenen See, den Aufgang und Untergang der Sonne, die weite Landschaft, die hohen Berge, den Sternenhimmel, die blühende Blume, das neugeborene Kind, das Lächeln eines Menschen. Ein Staunen, das uns innehalten lässt und uns zum Nachdenken über den Sinn der Welt und unseres Daseins bringt, hat in unserem Alltag kaum einen Platz. Unser Staunen ist meistens auf Brauchbares und Nützliches eingestellt; wir sind neugierig auf Raritäten und Monströses und suchen einen Kitzel, der uns aus dem Alltagstrott befreien soll. Unser Staunen gilt immer größeren Rekorden und Superlativen, verweilt aber kaum beim Einzelnen und dem zunächst Unscheinbaren. Einfach so staunen, "baff" oder "außer sich sein" und innehalten gilt dem Zeitgeist der aufgeklärten Moderne als sentimentale Spinnerei. Staunen, so scheint es, tun nur die Dummen und die Kinder. Der aufgeklärt Zeitgenosse fragt nur spitz: "Was gibt's denn da zu staunen?"

Dennoch verbirgt sich für viele Erwachsene etwa in den "staunenden Kinderaugen" ein Rest ihrer eigenen, oft verschütteten, durch die so genannte realistische Weltsicht abgeschnittene Sehnsucht nach einer Welt, in der es für ihre Seele wieder etwas zu staunen gibt. Die Sehnsucht gilt den "Gucklöchern der Metaphysik" (Karl Jaspers). Wir suchen im hektischen, durchplanten Alltag, der von Zweck-Mittel-Denken durchherrscht ist, nach Momenten, in denen wir Menschen, Ereignisse oder Dinge "einfach so" oder in ihrem Eigenwert oder als Selbstzweck erfahren können. Wir suchen nach erstaunlichen Phänomene, die sich von sich her zeigen, die trotz ihrer unterschiedlichen Deutungen und subjektiven Zugänge als Eigenwert erlebbar und ausdrückbar sind, in Gedichten, in der Musik, in der Malerei, in der Religion oder in der Philosophie, schließlich im fraglosen "Oh!" eines Gesichts, von Gesten oder einer Stimme.

Das selbstzweckhafte Staunen gehört wesentlich zu unserem Menschsein. Weder Tiere noch Maschinen können staunen. Allein der Mensch ist in der Lage, zu sich zu kommen, indem er außer sich gerät. Ohne selbstzweckhaftes Staunen spuren wir zwar fehlerlos, kaum anfällig für Störungen und Irritationen. Wir finden aber nicht unsere eigene Spur in der Welt und die Spuren eines Sinns in ihr. Wer dagegen "einfach so" zu staunen wagt, hat die Chance, sein Leben zu bereichern und aus einer lähmenden Langeweile auszubrechen, um neu über sich und die Welt ins Philosophieren zu kommen.

Unterdessen beginnt sich der Zeitgeist der "entzauberte Welt" längst zu wandeln. Die Welt der Moderne modert, wie die Künder der Postmoderne in einem spielerischen Akzentwechsel feststellen. Die wissenschaftlich-technische Rationalität stößt an ihre Grenzen, vor allem in der erschreckenden Erfahrung, dass der Mensch durch die Atomenergie sich selbst und alles andere Leben auszulöschen vermag, oder dass er sich anschickt, durch die Biotechnologie sich selbst und alles andere Leben selbst herzustellen oder zu manipulieren. In der Krise der neuzeitlichen Rationalität tut ein selbstzweckhaftes, besinnliches Staunen not. Allerdings kann das Staunen leicht zu einer bloß irrationalen Schwärmerei werden, zu einer Flucht aus der Welt der kruden Nützlichkeit und Sinnlichkeit. Sicher, Staunen tut not. Aber ebenso not tut ein nachdenkliches Staunen, das auch über sich selber nachdenkt. Was ist und soll Staunen eigentlich?

Ich möchte Sie im Folgenden dazu einladen, sich mit mir zusammen auf die Reise als Bildungsprozess des Staunens zu begeben und sich einige Stationen des Staunens genauer anzuschauen, wie die Menschen in unserer europäischen Kulturgeschichte unterschiedlich gestaunt haben. Ich möchte Sie einladen, sich auf das spannende und spannungsreiche Erkenntnis-, Sozio- und Psychodrama des Staunens näher einzulassen und dabei auch die unvermeidlichen Reisestrapazen nicht zu scheuen. Die Reise-Stationen sind im Einzelnen:

  1. der staunende Blick auf die Welt bei Homer, Solon und Thales,
  2. das philosophische Staunen als Aporie und als kontemplative Schau bei Platon und Aristoteles
  3. die lasterhafte "Augenlust" beim Kirchenlehrer Augustinus,
  4. Petrarcas Besteigung des Mont Ventoux als - zunächst vergebliche - Rehabilitierung des sinnlichen Staunens zu Beginn der Renaissance,
  5. Francis Bacons Devise "Wissen ist Macht" als neuzeitliches Forschungsideal der wissenschaftlichen Neugier,
  6. Kants Angst vor metaphysischer Schwärmerei als Angst vor dem Fremdem, dem "Anderen der Vernunft",
  7. die staunende Kinderfrage bei Jaspers als Spur der Sinnfrage,
  8. die Faszination des Ekels als Erfahrung bürgerlicher und existenzieller Leere bei Sartre und schließlich
  9. die Ethik des Staunens zwischen Verantwortung und Gelassenheit.

(1) Der staunende Blick auf die Welt bei Homer, Solon und Thales

Staunen kann ein neugieriges Anschauen von etwas sein, ohne dass man damit ein bestimmtes praktisches Interesse verfolgt. Man schaut sich etwas an, weil man neugierig ist und staunt, rein theoretisch. Das Phänomen des neugierigen Staunens findet man bereits in frühen Dokumenten der europäischen Kulturgeschichte als Ausdruck einer noch nicht "entzauberten Welt" vor dem Beginn wissenschaftlicher, methodisch und planvoll durchgeführter Forschung. Vor allem die frühen griechischen Denker Homer, Solon und Thales sind Beispiele für den staunenden Blick auf die Welt.

Das Staunen der Helden Homers wird von einer Fülle unterschiedlicher Dinge oder Ereignisse ausgelöst und ruft unterschiedliche Reaktionen wie ehrfürchtige Bewunderung und auch Schaudern hervor. Als etwa Achill, der Heerführer der Griechen, seinen Gegenspieler Hektor, den Heerführer der Trojaner, mit der Lanze tödlich getroffen und diese aus der blutigen Wunde herausgezogen hatte, liefen die anderen Kämpfer herbei und "bestaunten den Wuchs und das prächtige Aussehen Hektors" (Ilias XXII,369). Im griechischen Text steht zwar wörtlich lediglich "sie schauten" (etheesanto), aber im "Schauen" (theoria) liegt zugleich eine unwillkürliche Bewunderung. Die typische Wendung für das staunende Anschauen ist bei Homer: "ein Wunder zu schauen" (thauma idesthai). Die erstaunlichen Gegenstände oder Kunstwerke führen einen Glanz des Göttlichen mit sich, etwa die ehernen Radfelgen des Götterwagens (Ilias V,725), die Waffen des Patroklos (Ilias XVIII,83), die selbstbeweglichen Dreifüße des Gottes Hephaistos (Ilias XVIII,377), die hohen Mauern der Phaiaken (Odyssee VII,45), die Gewänder der Aphrodite (Odyssee VIII,366) oder die meerpurpurnen Gewebe der Nymphen (Odyssee XIII,108). "Ein Wunder zu schauen" sind außerdem ungewöhnliche Ereignisse, etwa dass die Lanze, die Achill auf Aineias geschleudert hatte, durch Poseidons Einwirkung vor ihm auf den Boden fällt, Aineias selber aber seinen Augen entschwunden ist (Ilias XX,344); dass Lykaon sich ihm als Gegner stellt, den er doch als Sklaven nach Lemnos verkauft hatte (Ilias XXI,54); dass die Trojaner bis zu den Schiffen der Achaier voranrücken (Ilias XIII,99); oder dass - unter Athenes Einwirkung - die Wände, die Säulen und die Tragbalken im Palast des Odysseus den Eindruck flammenden Feuers erwecken (Odyssee XIX,36).

Ähnlich wie bei Homer ist auch für Solon (etwa 640 bis 594 v.Chr.), dem zweiten Beispiel für das Staunen als Anschauen der Welt, alles Neue, Auffallende und Großartige "ein Wunder zu schauen". Solons Staunen bewegt sich aber nicht mehr im Erfahrungshorizont des Krieges, sondern des Handels und der allgemeinen Lebenspraxis. Sein Interesse an "Theorie" oder seine "Schaulust" wird vom Geschichtsschreiber Herodot als Vorwand für seine Flucht aus Athen verstanden: "Solon von Athen hatte den Athenern auf ihr Geheiß hin Gesetze gegeben und ging danach zehn Jahre außer Landes, um die Welt zu sehn, wie er sagte, eigentlich aber, damit er nicht genötigt würde, von den Gesetze, die er gegeben hatte, eines oder das andere wieder aufzuheben (...) Darum also, und auch wohl um die Welt zu sehn, reiste Solon außer Landes."

Von Herodots Erzählungen der Reisen Solons ist wohl am bekanntesten sein Besuch bei Krösus, dem sprichwörtlich reichen König der Lyder. Nachdem die Diener Solon durch alle Schatzkammern geführt und ihm "alle Herrlichkeiten" gezeigt hatten, fragte ihn der König: "Mein Freund von Athen, man hat uns schon viel von dir erzählt, von deiner Weisheit und deiner Wanderung, wie du, die Welt zu sehn (theories heineken), voll Wißbegierde (philosopheon) umhergereist bist. Nun hab ich großes Verlangen, dich zu fragen, wen du von allen Menschen, die du kennst, für den glücklichsten hältst." Offensichtlich erwartet Krösus von Solon eine besondere praktische Lebenserfahrung - Reisen und staunendes Kennenlernen anderer Länder, anderer Sitten bildet. In seiner Frage setzt Krösus außerdem stillschweigend voraus, dass Glück im Reichtum besteht und dass Solon ihn selber auf Grund seiner Beobachtungen für den glücklichsten Menschen halten müsse. Solon aber hatte auf seinen Reisen vor allem die Vergeblichkeit und Vergänglichkeit menschlichen Handelns und die Unerbittlichkeit des Schicksals mit entsetztem Staunen kennen gelernt. Daher hält er nicht den reichen und mächtigen König Krösus, sondern Tellos von Athen für den glücklichsten Menschen. Als Krösus über seine Antwort "staunt" oder sich wundert (apothomasas), macht Solon ihm deutlich, dass für ihn Glück nicht bedeutet, mächtig und reich zu sein, sondern in einer "blühenden Stadt" zu leben, "edle und vortreffliche Kinder" zu haben und ein "glänzendes Ende" zu nehmen. Genau dies aber trifft auf Tellos zu, nicht dagegen auf Krösus.

Im Unterschied zu Homer und Solon belässt es Thales, das dritte Beispiel, nicht beim fraglosen Staunen, sondern versucht, die bestaunten Phänomene auch zu erklären. In einer Anekdote in Platons Dialog Theaitetos ist Thales in den Augen des Sokrates sogar Beispiel für den Philosophen schlechthin, der wegen seines verwunderten Fragens als weltfremder Sonderling oder Spinner verspottet wird: "Als er einmal, um die Sterne zu betrachten, nach oben schaute und dabei in einen Brunnen fiel, soll ihn eine schlagfertige und tüchtige thrakische Magd mit den Worten verspottet haben, dass er zwar darauf aus sei zu wissen, was am Himmel vor sich gehe, ihm aber verborgen bleibe, was in seiner Nähe und vor seinen Füßen liege." (Platon, Theaitetos 174a). Thales war nicht nur praktisch als Staatsmann und Ingenieur in Milet tätig, sondern er interessierte sich auch für Mathematik und Geometrie, die er wahrscheinlich auf seinen Reisen nach Ägypten kennen gelernt hatte. Er soll sogar, vermutlich auf Grund der Berechnungen babylonischer Priester, für den 28. Mai 585 v.Chr. eine Sonnenfinsternis vorausgesagt haben. Es ist daher durchaus denkbar, dass sein angeblicher Sturz in den Brunnen in Wirklichkeit ein geplantes methodisches Vorgehen war, um aus dem Schatten des Brunnens heraus mit Hilfe bestimmter Winkelkonstellationen die Sterne zu vermessen. Bei Thales hat das neugierige Staunen allerdings noch nicht die Funktion, die Welt restlos zu begreifen, nur um daraus einen Nutzen zu ziehen. Sein Hauptmotiv ist vielmehr Freude am Erkennen und Bestaunen der Welt.

Als Fazit für das Erkenntnis-, Psycho- und Soziodrama der ersten Staunens-Station kann man ziehen: der Mensch begreift sich selbst als eingebettet in ein sinnvolles Ganzes und hat Freude am Innewerden des Ganzen in seiner Vielfalt.

(2) Das philosophische Staunen als Aporie und als kontemplative Schau bei Platon und Aristoteles

Für Platon und Aristoteles, so kann man in allen gängigen Philosophiegeschichten nachlesen, ist das Staunen der Anfang oder Ursprung der Philosophie. Dabei beruft man sich vor allem auf Platons Dialog Theaitetos: "Dieser Zustand kennzeichnet deutlich einen Philosophen, das Staunen (to thaumazein); denn es gibt keinen anderen Anfang der Philosophie als diesen" (155d 2-4). An der zweiten klassischen Stelle bei Aristoteles liest man ähnlich: "Denn wegen des Staunens (to thaumazein) haben die Menschen jetzt wie auch früher angefangen zu philosophieren" (I 1, 982b 11-12). Häufig wird die formelhafte Wendung vom Staunen als Anfang der Philosophie allerdings in der Weise missverstanden, als ob damit ein unmittelbares Bestaunen der Welt wie bei den frühgriechischen Denker gemeint sei. Für Platon wie Aristoteles war das Staunen über die Welt aber gerade zum Problem geworden, das ein verwundertes Nachdenken herausfordert und erst als Ergebnis des Nachdenkens zur Bewunderung der Welt zurückführt.

Das staunende Anschauen der Welt bei Homer, aber auch Solons Weltoffenheit und Thales' Forscherneugier sind Ausdruck einer funktionierenden Lebensorientierung im Einverständnis mit der Welt als "Kosmos", als (wörtlich) Schmuck und Ordnung. Platons Philosophie dagegen setzt in einer Situation ein, in der das Staunen über den Kosmos seine orientierende Kraft verloren hatte. Die Erfahrungen der zahlreichen Handelsreisen, die Wirren des Peloponnesischen Krieges sowie die Konkurrenz der mythologischen Weltdeutung mit einer mathematisch-empirischen Betrachtungsweise hatten zur Folge, dass die eine geordnete und schöne Welt in viele instabile und verwirrende Welten zerfiel. Der Wechsel vom ungebrochenen Staunen über den Kosmos zur Erschütterung über das Chaos der Welt markiert geradezu einen Epochenwandel. An die Stelle eines fraglosen Staunens über die Welt tritt die Frage, ob die Welt überhaupt staunenswert sei.

Das Spannungsverhältnis von fragloser Bewunderung und fragender Verwunderung wird besonders deutlich im Stufengang des Schönen in Platons Dialog Symposion sichtbar. Der Dialog beschreibt ein Trinkgelage, auf dem der Dichter Agathon wegen seines Sieges in einem Dichterwettstreit gefeiert wird. Die Teilnehmer einigen sich darauf, reihum eine Lobrede auf den Eros zu halten. Als Sokrates an der Reihe ist, nehmen die bisher gehaltenen Lobreden eine überraschende Wende. Während für die anderen Lobredner Eros ein Gott ist, der die vollkommene Schönheit und Liebe verkörpert, begehrt Eros nach Sokrates erst beides, weil er es nicht selber ist oder besitzt. Eros verkörpert für Sokrates nicht den Besitz, sondern das Streben nach Vollkommenheit und ist damit das Urbild der Philosophie als Streben nach dem im höchsten Maße "staunenswerten" Schönen (210e), das nur in seltenen Ausnahmen geschaut werden kann. Die Welt, in der wir leben, ist nicht fraglos schön, sondern Schönheit oder Harmonie ist zum Problem geworden und fordert philosophisches Denken heraus.

Seine Überzeugung von der wahren Natur des Eros und dem Wesen der Philosophie trägt Sokrates als Lehre der weisen Priesterin Diotima vor, die ihn in die wahre "Liebeskunst" eingeführt habe. Philosophie ist danach wesentlich die Sehnsucht nach dem verlorenen Staunen als Innesein mit dem wahrhaft Schönen oder mit den Ideen. Sie beginnt als Liebe zum sinnlich Schönen, steigert sich als Liebe zu den schönen Seelen, bis man schließlich "plötzlich ein von Natur staunenswertes Schönes erblickt (ti thaumaston ten physin kalon), um dessen willen man alle bisherigen Anstrengungen gemacht hat" (210e). Philosophie gehe "gleichsam stufenweise von einem zu zweien und von zweien zu allen schönen Gestalten, und von den schönen Gestalten zu den schönen Sitten und Handlungsweisen, und von den schönen Sitten zu den schönen Kenntnissen, bis man von den Kenntnissen endlich zu jener Kenntnis gelangt, welche von nichts anderem als eben von jenem Schönen selbst die Kenntnis ist, und man also zuletzt jenes Schöne selbst, was schön ist, erkenne" (211c).

Dass auch bei Aristoteles Staunen im Sinne von Verwunderung oder Aporie die Initialzündung für Philosophie als Erkenntnisarbeit ist, geht unmissverständlich aus der Begründung hervor, die an die bereits zitierte Stelle in der Metaphysik anschließt: "Denn wegen des Staunens (to thaumazein) haben die Menschen jetzt wie auch früher angefangen zu philosophieren, indem man anfangs über die unmittelbar sich darbietenden unerklärlichen Erscheinungen sich verwunderte, dann allmählich fortschritt und auch über Größeres sich in Zweifel einließ, z.B. über die Erscheinungen an dem Monde und der Sonne und den Gestirnen und über die Entstehung des Alls. Wer aber in Zweifel und Verwunderung über eine Sache ist (aporon kai thaumazon), der glaubt sie nicht zu kennen" (Metaphysik I 2, 982b 12-17).

Aristoteles greift damit deutlich fast wörtlich auf Platons Bemerkung zum Staunen als Ursprung der Philosophie im Theaitetos zurück. Staunen ist in einem doppelten Sinn das Hauptmotiv der Philosophie, zum einen als Auslöser im Sinne der Verwunderung, zum anderen als Ziel im Sinne der Bewunderung. Auch für Aristoteles bewegt sich die Philosophie im Zwischenbereich von Menschen und Göttern, zwischen Verwunderung und Bewunderung, und gelangt nur für wenige Menschen in wenigen Augenblicken an ihr Ziel. Als höchste Erkenntnis richtet sie sich auf das Höchste und ist somit als Vollzug und als Gegenstand "göttlich": "Denn einmal ist die Wissenschaft göttlich, welche der Gott am meisten haben mag, und dann die, welche das Göttliche zum Gegenstand hat" (983a 6-7).

Als Fazit lässt sich aus der zweiten Station ziehen: der Mensch versteht sich als zweifelnd, aber nicht verzweifelt, und versucht sich selbst im göttlichen Weltganzen zu erkennen.

(3) Die lasterhafte "Augenlust" beim Kirchenvater Augustinus

Platon ist keineswegs ein weltfremder oder sogar weltverachtender Platoniker, wie ihn eine christlich gefärbte Rezeptionsgeschichte häufig darstellt, sondern verbindet vor allem im Symposion das Staunen über die Schönheit der göttlichen Ideenwelt mit dem Staunen über die Schönheit der Sinneswelt. Noch deutlicher betont Aristoteles die Einheit der Sinneswelt mit den göttlichen Strukturen der Welt. Erst der Kirchenlehrer Augustinus macht aus der Tugend des Staunens ein Laster, indem er das sinnliche Staunen gegenüber der metaphysischen Bewunderung des Göttlichen abwertet.

Die Umwertung des Staunens von einer Tugend zu einem Laster ist bei Augustinus (354-430 n. Chr.) nicht nur eine theoretische Umdeutung, sondern zugleich eine praktische Umorientierung. Sie markiert seine doppelte Bekehrung von einer heidnischen zu einer philosophischen und schließlich zu einer christlichen Lebensweise. Augustinus führte in seiner Jugend zunächst ein äußerst sinnenfrohes, sogar ausschweifendes Leben. Durch die Lektüre von Ciceros Hortensius aber wurde er zur Philosophie als Suche nach der Wahrheit bekehrt. Aber auch das philosophische Wahrheitsstreben genügte ihm schließlich nicht mehr. In seinen autobiographischen Bekenntnissen (Confessiones) beschreibt Augustinus, wie er aus einem unbefriedigenden philosophischen Staunen aufwachte und in Gott das wirklich Staunenswerte erkannte. Er wendet sich dagegen, in "eitler und flüchtiger Neugierde" die Schönheit und Ordnung des Himmels, der Gestirne und Jahreszeiten anzuschauen. Stattdessen verlangt Augustinus, "stufenweise zum Unsterblichen und immer Gleichbleibenden" hinaufzusteigen (XXIX,144).

Auf dem Stufenweg zu Gott als Vollendung jeder Schönheit und Ordnung ist auch nach Augustinus ein gestuftes neugieriges Staunen zunächst durchaus legitim. Augustinus kann sogar einem "Lob des Wurmes" oder einem "Lob der Asche und des Mistes" positive Seiten abgewinnen: "Wir müssen freilich gestehen: Ein weinender Mensch ist besser als ein fröhlicher Wurm, doch könnte ich auch zum Lob des Wurmes, ohne zu lügen, vielerlei vorbringen. Man braucht ja nur seine hübsche Färbung zu betrachten, die rundliche Gestalt seines Körpers, wie sein Vorderteil zur Mitte und diese wieder zum Hinterteil stimmt und wie alles der Niedrigkeit des Geschöpfes entsprechend nach Einheit strebt. Da gibt es nichts auf der einen Seite, dem nicht auf der anderen ein gleichgeformtes Gegenstück entspräche. (...) Andere haben sogar mit Recht und lang und breit das Lob der Asche und des Mistes besungen. (...) Jedes Wesen, und sei es das letzte und niedrigste, wird, verglichen mit dem Nichts, von Rechts wegen gelobt" (XLI,217-220).

Trotz seiner relativen Anerkennung eines innerweltlichen, sinnlichen Staunens rückt Augustinus allerdings das Staunen insgesamt in die Nähe bloßer Angafferei von "Schau- und Gaukelspielen" und grenzt sich damit vom Stufengang des Staunens bei Platon ab, das sinnliches und übersinnliches Staunen miteinander verbindet. Er akzeptiert das Staunen nur, insofern es auf eine "Freude am Erkennen" des Höchsten abzielt. Staunen als ästhetischen Genuss dagegen lehnt Augustinus als Selbstzweck kategorisch ab und akzeptiert es lediglich als Mittel für Höheres. Wer sich dem sinnlichen Staunen über die Außenwelt hingibt, vergisst die Innenwelt, wo er sich selber in Gott findet: "Und da gehen die Menschen hin und bewundern die Höhen der Berge, das mächtige Wogen des Meeres, die breiten Gefälle der Ströme, die Weiten des Ozeans und den Umschwung der Gestirne - und verlassen dabei sich selbst" (X.8).

Schließlich fasst Augustinus seine allgemeinen Überlegungen in alltagspraktischen Erfahrungen zusammen: "Wer möchte es aber zählen, wie viele lächerlich geringe Anlässe unserm Fürwitz tagtäglich zur Versuchung werden und wie oft wir auch dabei straucheln! (...) Oft, wenn ich zu Hause sitze, kann ich gespannt einer Eidechse zuschauen, wie sie Fliegen fängt, einer Spinne, die sie umwickelt, wenn sie ihr ins Netz geraten sind. Kleine Tierchen, gewiss, aber ist die Sache nicht die gleiche? Wohl gehe ich von solchen Eindrücken dazu über, Dich zu preisen, wunderbarer Schöpfer und Ordner der Dinge all und all, aber das war nicht von Anfang gleich der Grund, mich ihnen hinzugeben. Ein anderes ist es, schnell wieder hochzukommen, ein anderes, überhaupt nicht zu fallen" (X.35). Augustinus endet seine Überlegung mit der Mahnung: "Wenn unser Herz zum Speicher für derlei Dinge wird und ein dichtes Geschwirr von Nichtigkeiten mit sich herumträgt, so zerreißt und verwirrt dies oft auch unsere Gebete" (X.35).

Als Fazit aus der dritten Station des Staunens-Dramas lässt sich ziehen: als Sinneswesen haben wir Menschen keinen Wert; unser Streben soll allein Gott als Sinn der Welt gelten.

(4) Petrarcas Besteigung des Mont Ventoux als - zunächst vergebliche - Rehabilitierung des sinnlichen Staunens zu Beginn der Renaissance

Den Versuch, Staunen als Sinnenlust gegen das Verdikt eines Augustinus zu rehabilitieren, hat der Jurist, Theologe, Philosoph und Dichter Francesco Petrarca (1304-1374) unternommen, als er am 26. April des Jahres 1336 zusammen mit seinem jüngeren Bruder, einem späteren Kartäusermönch, den Mont Ventoux bestieg. Petrarca fasst seine Schilderung in Form eines gelehrten Briefes ab, den er an seinen ehemaligen Lehrer Francesco Dionigi richtet, Augustinermönch, Professor der Theologie und Philosophie. Der Mont Ventoux ist für Petrarca nicht nur als "höchster Berg in dieser Gegend" attraktiv, sondern dürfte für ihn, ähnlich wie der Olymp als antiker Göttersitz, ein numinoser, mit ehrfürchtigem Schrecken besetzter Ort des "Heiligen" gewesen sein. Und auch heute noch zieht der Berg die Wanderer geheimnisvoll an, wie es in einer Reportage heißt: "Der Mont Ventoux in der Provence ist nur 1912 Meter hoch, aufgrund seiner majestätischen Alleinlage und der bleichen Mondlandschaft aus Kalkstein auf dem Gipfelplateau aber von alters her ein sagenumwobener Ort. Heute führen Straßen auf den Gipfel, gern genutzt als Bergetappe der Tour de France."

Bei seiner Bergbesteigung setzt sich Petrarca im Geist der beginnenden Renaissance bewusst über vorgegebene Normen und Bedenken gegen ein bloß sinnliches Staunen hinweg, wenn er seine ungewöhnliche Unternehmung "allein aus Schaulust" rechtfertigt. Nach mehreren Umwegen und unter etlichen Strapazen erreichen Petrarca und sein Bruder schließlich den Berggipfel und lassen sich auf einem kleinen Plateau nieder. Seinen Zustand des genussreichen Staunens bezeichnet Petrarca als Betäubtsein: "Zuerst stand ich, durch den ungewohnten Hauch der Luft und die ganze freie Rundsicht bewegt, einem Betäubten gleich da. Ich schaue zurück nach unten: Wolken lagen zu meinen Füßen, und schon wurden mir der Athos und der Olymp weniger sagenhaft, wenn ich schon das, was ich über sie gehört und gelesen, auf einem Berg von geringerem Ruf zu sehen bekomme".

Noch ganz unter dem Einfluss der sinnesfeindlichen Tradition des Augustinus kann sich Petrarca allerdings nicht ungeteilt am Ausblick vom Gipfel des Berges erfreuen, sondern schwankt zwischen sinnlichem und metaphysischem Staunen: "Während ich dies eins ums andere bestaunte und bald an Irdischem Geschmack fand, bald nach dem Beispiel des Körpers die Seele zu Höherem erhob, kam ich auf den Gedanken, in das Buch der Bekenntnisse des Augustinus hineinzuschauen". Das wie zufällig aufgeschlagene (bereits erwähnte) Zitat, in dem Augustinus unter anderem das sinnliche Staunen über "die Höhen der Berge" kritisiert, wird für Petrarca zum Anstoß, sich vom sinnlichen Staunen zu distanzieren. Petrarcas missglückter Versuch, das sinnliche Staunen zu rehabilitieren, macht deutlich, mit welcher Hypothek die beginnende Renaissance als Aufbruch in neue Zeiten noch belastet ist. Allerdings hat sich in der Renaissance schließlich das Individuum in seiner irdischen Weltorientierung doch behauptet.

Als Fazit aus der vierten Station des Staunens lässt sich ziehen: der Mensch der Renaissance versteht sich allmählich als genussreiches Sinneswesen in der irdischen Welt.

(5) Francis Bacons Devise "Wissen ist Macht" als neuzeitliches Forschungsideal der wissenschaftlichen Neugier

Während Petrarcas Versuch, das neugierige Staunen als sinnliche Lust zu rehabilitieren, vorerst scheiterte, unternahm Francis Bacon (1561-1626) in seinem Werk Das neue Organon (Novum Organum, 1620) einen zweiten, diesmal erfolgreicheren Versuch, Staunen positiv zu sehen. Dabei setzte er einen neuen Akzent. Staunen ist für ihn weder metaphysisches Glück noch ästhetisches Vergnügen, sondern ein nützliches Mittel der Weltbemächtigung. Im Einklang mit den Erneuerungsbestrebungen der Renaissance und als Konsequenz zahlreicher technischer Neuentdeckungen begründet Bacon mit seiner Devise "Wissen ist Macht" als Erster programmatisch das neuzeitliche Forschungsideal: Wissen und Erkennen stützen sich auf Beobachtungen und Experimente und stehen im Dienst des allgemeinen menschlichen Wohlergehens.

Der Aufbruchsgedanke wird auch durch das Titelbild der Erstauflage des Organon versinnbildlicht: Ein Schiff durchfährt die beiden Säulen des Herakles an der Meerenge von Gibraltar und nimmt Kurs auf die Weite des Ozeans. Es gehört zu der 1600 gegründeten East India Company und symbolisiert mit dem Aufbruch zu neuen wissenschaftlichen Entdeckungen zugleich die Eroberung neuer Erdteile und fremder Märkte. Die Säulen ferner weisen darauf hin, dass Bacon die menschlichen Taten der neuen Wissenschaft an den Taten des Zeus-Sohnes Herakles misst, der die Säulen der Meerenge als eine seiner sagenhaften Heldentaten errichtet hat. Die wissenschaftliche Kraft der Neuzeit soll die bloß mythologische Kraft eines Herakles ersetzen, indem sie neue Wege wagt und durch ihre Entdeckungen materiellen Fortschritt ermöglicht.

Bereits Solon konnte auf seinen Schiffsreisen über viele neue und interessante Dinge staunen, die einem nützlich werden könnten. Auch Thales konnte aus seinem theoretischen Staunen durchaus einen praktischen Nutzen ziehen, als er eine gute Olivenernte vorausberechnete, sich durch Aufkauf aller verfügbaren Ölpressen ein Monopol verschaffte und ein gutes Geschäft machte. Allerdings zielten beide nicht auf den Nutzen des Staunens, sondern für sie war die reine "Theorie" oder die Betrachtung der vielen Dinge und Ereignisse in der Welt Selbstzweck. Bacon dagegen steht für den Typ des neuzeitlichen Forschers, der nicht über die an sich staunenswerte, letztlich göttliche Welt als Kosmos staunt, sondern über Interessantes und Verwertbares in der Welt. Erstaunliche Dinge und Ereignisse sind nicht an sich, sondern nur für uns und als Mittel für unsere Ziele staunenswert. Das metaphysisch-religiöse Staunen wird vom innerweltlich-utilitaristischen Staunen abgelöst. Es ist nicht mehr selbstzweckhafter Ausdruck des guten, seligen Lebens, auch kein sinnliches Glück, sondern nur Mittel für ein besseres, erträglicheres Leben.

Vor allem "die kürzlich erfundenen Mikroskope" sind nach Bacons Überzeugung in der Lage, das nutzlose Staunen der Antike über bloß eingebildete Erkenntnisse durch ein begründetes Staunen über wirkliche Entdeckungen abzulösen: "Diese Mikroskope vermitteln uns verborgene, sonst unsichtbare Teilchen der Körper und ihre innere Gestaltung und Bewegung. Sie vergrößern alles, so daß man mit ihnen am Floh, an der Fliege und an den Würmern den Bau und die Linienführung des Körpers, die Farbe und Bewegungen - was vorher alles unsichtbar war - genau und mit großer Verwunderung sehen kann".

Allerdings führte das nützliche Staunen der Forscher nicht nur zu Bewunderung, sondern zog wegen seiner oft nur scheinbaren oder wirklichen Nutzlosigkeit auch Unverständnis und Spott nach sich - heutigen Reaktionen durchaus vergleichbar. So liest sich die Beschreibung der Projekte an der "Großen Akademie von Logado" in Jonathan Swifts zeitkritischem Roman "Gullivers Reisen" (1726) wie eine Satire auf die kurz zuvor im Geiste Bacons gegründete Londoner "Royal Society". Gulliver berichtet von seinem Besuch der Akademie: "Ich wurde von dem Präsidenten sehr freundlich aufgenommen und ging viele Tage lang zur Akademie. Jedes Zimmer beherbergte einen oder mehrere Projektemacher, und ich glaube, ich bin wohl in nicht weniger als fünfhundert Zimmern gewesen." Bei seinem Besuch bekommt Gulliver in der Tat höchst seltsame Projekte zu Gesicht, beispielsweise Versuche, "Sonnenstrahlen aus Gurken zu ziehen", "menschliche Exkremente in die ursprüngliche Nahrung zurückzuverwandeln", "Eis zu Schießpulver auszuglühen", eine "Methode für den Bau von Häusern (...), indem man mit dem Dach anfing und dann bis zum Fundament nach unten baute", oder statt aus Seidenraupen lieber aus Spinnweben Seide herzustellen - ein tatsächlicher Forschungsantrag an der Londoner Royal Society.

Das Fazit aus der fünften Staunens-Station lautet: der neuzeitliche Mensch versteht sich, egal ob Forscher oder Nutznießer im Alltagsleben, als "homo faber", der die Welt, sich selbst und die anderen allein nach Nützlichkeitskriterien fabriziert.

(6) Kants Angst vor metaphysischer Schwärmerei als Angst vor dem Fremden, dem "Anderen der Vernunft"

Für den aufgeklärten Menschen der Neuzeit scheint kaum etwas lächerlicher zu sein als Wunderberichte über Kontakte mit einer jenseitigen Welt. Kants Zeitalter der Aufklärung war allerdings voll von derartigen Berichten. Der Philosoph Immanuel Kant (1724-1804) war durch die Wunderberichte äußerst beunruhigt, weil ihn offensichtlich "das Andere der Vernunft" (G. u. H. Böhme) in seiner gesamten Weltsicht und Lebensweise irritierte. Wunderberichte beschäftigten ihn umso mehr, als er sie zwar für unhaltbar ansah, aber zunächst nicht wirklich widerlegen konnte. Zu Kants Zeit erregten vor allem die Berichte des Stockholmer Naturwissenschaftlers und Bergassessors Emmanuel Swedenborg über seine angeblichen Kontakte mit Geistern im Jenseits großes Aufsehen bei den einfachen Leuten. Während sich die meisten Gelehrten seiner Zeit erst gar nicht mit derartigen Wunderberichten beschäftigten, wurde Kants Vertrauen in die vernünftige Erklärung der Welt durch die Aufsehen erregenden Wunderberichte Swedenborgs derartig infrage gestellt, dass er sich intensiv mit ihnen auseinander setzte und sogar eine eigene Schrift Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik (1766) darüber verfasste.

Kant gesteht, dass er zunächst prinzipiell "sehr geneigt sei, das Dasein immaterieller Naturen in der Welt zu behaupten" (A 25). Als Grund hierfür spricht er vorsichtig und unbestimmt von wahrnehmbaren "Kräften, die das menschliche Herz bewegen", von einem "geheimen Zug" oder einer "in uns empfundenen Nötigung", unser Denken und Handeln insgesamt auf "eine Art von Vernunfteinheit" und "moralische Einheit" auszurichten (A 41f). Ferner ist nach Kant "das Leben in der andern Welt nur eine natürliche Fortsetzung" einer derartigen Einheit der Seelen in dieser Welt (A 46). Schließlich hält Kant auch die Verbindung zwischen der diesseitigen und jenseitigen Geistergemeinschaft durchaus für konsequent, da das immaterielle Leben insgesamt nicht durch den Tod unterbrochen werde. Allerdings besteht Kant darauf, die Berichte über angebliche Kontakte mit einer jenseitigen Geisterwelt einer gründlichen Tatsachenüberprüfung zu unterziehen.

Insgesamt lagen ihm drei Berichte angeblicher Geisterkontakte vor, die ihm von der Quellenlage her einigermaßen zuverlässig erschienen. Als ersten Fall berichtet er, wie eine Fürstin dem Wunderseher Swedenborg einen "geheimen Auftrag" übertragen und von ihm eine Antwort erhalten hat, die er "von keinem lebendigen Menschen" hatte bekommen können; dies habe sie "in das größte Erstaunen versetzt" (A 85). Der zweite Fall handelt von Madame Marteville, die mit Hilfe der Geisterkontakte Swedenborgs in einem Geheimfach ihres verstorbenen Mannes eine verloren gegangene Quittung wiederfand, mit der sie beweisen konnte, dass die Geldforderungen eines Goldschmiedes bereits von ihrem Mann beglichen worden waren. Drittens berichtet Kant, wie Swedenborg in Göteborg "Visionen" von einer Feuersbrunst im weit entfernten Stockholm mitteilte, die zwei Tage später von dort bestätigt wurde.

Alle drei Berichte hält Kant zwar für mehr oder weniger gut durch Augenzeugen bestätigt, kommt aber dennoch wegen der ihm äußerst wirr erscheinenden Argumente in Swedenborgs Werk Arcana caelestia zu dem vernichtenden Urteil: "Das große Werk dieses Schriftstellers enthält acht Quartbände voller Unsinn" (A 98). Seine Ablehnung von noch so gut bestätigten Wunderberichten illustriert Kant durch ein deftiges Zitat des "scharfsichtigen Hudibras": "wenn ein hypochondrischer Wind in den Eingeweiden tobet, so kommt es darauf an, welche Richtung er nimmt, geht er abwärts, so wird daraus ein F-, steigt er aber aufwärts, so ist es eine Erscheinung oder eine heilige Eingebung" (A 72).

Trotz seiner Ablehnung der Wunderberichte Swedenborgs ist Kant allerdings mit seiner Wunderkritik nicht zufrieden. Denn wenn Metaphysik möglich ist, ist auch Geisterseherei möglich. Nun ist aber Metaphysik möglich. Also ist auch Geisterseherei möglich. Für eine endgültige Widerlegung von Wundern und für die Überwindung seiner Angst vor Schwärmerei reicht ihm daher die Prüfung von Einzelfällen nicht aus, sondern hinzukommen muss die grundsätzliche Widerlegung metaphysischer Erkenntnis, die von vornherein Berichte über angebliche Kontakte mit einem Jenseits ausschließt. Seine Angst vor einer unkritischen Schwärmerei konnte Kant erst zufrieden stellend überwinden, als er in der Kritik der reinen Vernunft (1781) mit seiner berühmten kopernikanischen "Revolution der Denkart" eine generelle Grenzbestimmung der menschlichen Erkenntnismöglichkeit unternahm. Danach können wir als raum-zeitlich begrenzte Wesen nicht die Gegenstände an sich jenseits von Raum und Zeit, sondern nur die allgemeinen Formen unseres Erkennens allgemein gültig und sicher erkennen und müssen uns mit empirischen, diesseitigen Erkenntnissen zufrieden geben.

Als Fazit ergibt sich aus der sechsten Station: der neuzeitliche, aufgeklärte Mensch sieht die Welt und die Menschen in ihr als durchweg rational erklärbar an und verbannt "das Andere der Vernunft" in den Bereich des Glaubens oder der irrationalen Schwärmerei.

(7) Die staunende Kinderfrage bei Jaspers als Spur der Sinnsuche

Wer die Gelegenheit hat und sich die Zeit nimmt, Kinder zu beobachten, bewundert oder bestaunt ihre Ausdauer und ihr neugieriges Staunen, wenn sie etwa ein Spielzeugauto, einen Luftballon, Sand, Wasser oder einen anderen Gegenstand betrachten und ausprobieren. Ihr staunendes "Oh!" malt sich auch wortlos auf ihren Gesichtern ab. Kinder sind Weltneulinge, Reisende in einem für sie fremden, faszinierenden und bedrohlichen Land. Für sie gibt es eine Menge zu sehen, zu hören, zu schmecken, zu fühlen, zu tasten und zu fragen, um sich in der Welt zurechtzufinden und in ihr einen Sinn zu erspüren. Die Bedeutung des kindlichen Staunens für die Sinnsuche betont auch der Psychiater und Existenzphilosoph Karl Jaspers (1883-1969). Während sich Erwachsene vielfach selbstvergessen in der gut funktionierenden Welt eingerichtet und die Sinnfrage abschließend beantwortet, und das heißt oft auch, als sinnlos abgetan haben, sind Kinder als Weltneulinge noch neugierig und zum Staunen über Unverstandenes und Ungewöhnliches fähig. Im Staunen von Kindern oder im kindlichen Staunen jenseits eingespielter Sprach- und Denkmuster sieht Jaspers in seiner "Einführung in die Philosophie" den Anfang der Sinnfrage enthalten, wenn auch keineswegs bereits als Sinnfrage in ihrer existenziellen Tiefe.

In der Äußerung eines Kindes beispielsweise "Ich versuche immer zu denken, ich sei ein anderer und bin doch immer wieder ich" sieht Jaspers die Frage nach dem "Seinsbewusstsein im Selbstbewusstsein"; die Frage zur biblischen Schöpfungsgeschichte ferner "Was war denn vor dem Anfang?" bedeutet für ihn die Erfahrung der "Endlosigkeit des Weiterfragens"; in der Behauptung "Wenn er (Gott) nicht wäre, dann wären wir doch gar nicht da" drücke sich das "Erstaunen des Daseins" aus; und die Bemerkung schließlich "Aber es muß doch etwas Festes geben können ... dass ich jetzt hier die Treppe zur Tante hinaufgehe, das will ich behalten" versteht Jaspers als "hilflosen Ausweg" aus der "universalen Vergänglichkeit". Derartige Kinderfragen sind nach Jaspers Beleg für eine "Kinderphilosophie" im Sinne einer genuinen Philosophie von Kindern, die nicht herablassend als Philosophie für Kinder betrachtet werden kann: "Wer sammeln würde, könnte eine reiche Kinderphilosophie berichten. (...) Kinder besitzen oft eine Genialität, die im Erwachsenwerden verlorengeht. Es ist, als ob wir mit den Jahren in das Gefängnis von Konventionen und Meinungen, der Verdeckungen und Unbefragtheiten eintreten, wobei wir die Unbefangenheit des Kindes verlieren."

Allerdings fügt Jaspers dem Staunen als dem erstem Schritt aus dem "Gefängnis der Konventionen" oder aus Platons "Höhle" weitere Schritte hinzu, die zu einem existenziellen Philosophieren führen. Zum Staunen komme der "methodische Zweifel" eines Descartes hinzu, der alle scheinbaren Gewissheiten einer kritischen Prüfung unterziehe und - wenn auch vergeblich - nach letzter Gewissheit des Erkennens suche. Der "tiefere Ursprung" der Philosophie aber ist nach Jaspers die "Erschütterung des Menschen" in "Grenzsituationen": "ich muss sterben, ich muss leiden, ich muss kämpfen, ich bin dem Zufall unterworfen, ich verstricke mich unausweichlich in Schuld." Im normalen Alltag "vergessen" wir unsere höchst fragile menschliche Situation, und wenn wir sie wirklich erfassen und durchleben, verzweifeln wir nahezu. Erst im Zustand der Verzweiflung aber ist die "Wiederherstellung" eines ursprünglichen, fraglosen Zustands möglich. In der "Kommunikation (...) von Existenz zu Existenz" schließlich könne der Mensch zu sich selbst kommen. In ihr können wir das "Umgreifende" jenseits einer Spaltung der Welt in lebendige Subjekte und leblose Objekte erfahren, auch jenseits einer Spaltung der Menschen untereinander und einer Zerrissenheit in ihnen selbst.

Allerdings behauptet Jaspers nicht, dass wir mit der Erfahrung des "Umgreifenden" eine fraglose, durch nichts zu erschütternde Ruhe besitzen könnten. Das Staunen als Sinnsuche beginnt mit den Fragen der Kinder und hört auch mit den Lösungsversuchen der gelehrten Philosophie nicht auf. Als Irritation unserer selbstverständlichen Sicht- und Lebensweisen ist das Staunen aber Voraussetzung für das lebenslange Loslassen von Scheinlösungen unserer existenziellen Erschütterung im Alltäglichen und in außerordentlichen Grenzsituationen und hält die Suche nach Sinn wach. Was die "Kommunikation" oder das "Umgreifende" genauer ist, lässt sich nach Jaspers allerdings nur indirekt oder in Chiffren wie "Liebe" oder "Glaube" umschreiben, vergleichbar der Sprache der Mystik oder dem Stufenweg in Platons "Symposion". Es lässt sich in Jaspers' im weiten Sinne religiöser Existenzphilosophie letztlich ebenso wenig in Begriffe fassen oder durch Denken begründen wie der "Sprung" zum christlichen Glauben bei Kierkegaard, das "Sein" bei Heidegger, die "Absurdität" bei Camus oder der "Ekel" bei Sartre.

Als Fazit aus der siebten Staunens-Station ergibt sich: die sprichwörtlich "staunenden Kinderaugen" lassen sich als Beginn der Sinnsuche lesen, die schließlich erst in den existenziellen "Grenzsituationen" an Tiefe gewinnen.

(8) Die Faszination des Ekels als Erfahrung bürgerlicher und existenzieller Leere bei Sartre

Das Staunen oder, neutraler gesagt, das Sichwundern über die Welt scheint sich in der Not der Daseinsbewältigung eher als Entsetzen über die bedrohliche Macht der unmittelbaren Natur einzustellen - weniger als Entzücken über ihre Schönheit, und auch weniger als Vertrauen auf den Sinn der Welt und unserer Existenz. So drücken die Höhlenmalereien das Erschrecken und die Faszination gegenüber der Natur als ambivalente Erfahrung der Menschen mit den bedrohlichen und beglückenden Grundgegebenheiten ihres Daseins aus, mit Jagd und Beute, Erfolg und Niederlage, Leben und Tod. Sie sind ein Versuch, das entsetzte Staunen durch künstlerische und religiöse Rituale zu bannen.

Bewunderndes Staunen über die sinnhafte Welt ist in der kulturellen Entwicklung der Menschen und im Leben jedes Einzelnen untrennbar mit der Erfahrung des Chaos der Welt und der eigenen Existenz verbunden. Die Erfahrung und Vorstellung der Welt als Kosmos und einer sinnvollen Existenz dagegen muss der Erfahrung des Chaos erst mühsam abgerungen werden und ist keineswegs selbstverständlich. Die Zwiespältigkeit des Staunens zwischen dem Entsetzen über das Chaos und dem Entzücken über den Kosmos zeigt sich auch in den antiken Deutungsmustern der Welt. Die Vorstellung der Antike als einer einheitlichen Kosmosphilosophie widerspricht nicht nur den widerstreitenden Prinzipien Liebe und Hass bei Empedokles, der Mischung der Elemente bei Anaxagoras sowie Leukipps und Demokrits Welt als blindem Atomwirbel, sondern auch der Philosophie Platons, die im Timaios dem Chaos den Kosmos entgegensetzt.

Besonders in der "entzauberten Welt" der Gegenwart (Max Weber), die für einen Sinn des Ganzen und des Menschen in ihr kaum Sinn zu haben scheint, ist das Staunen über die Welt eher ein Entsetzen als ein Entzücken. Besonders eindrucksvoll beschreibt der atheistische Existenzphilosoph Jean-Paul Sartre (1905-1980) die menschliche Existenz sowie die Welt insgesamt als nichtig. Vor allem sein früher Roman "Der Ekel" (La nausée, 1938) zeichnet in literarischer Form detailliert nach, wie sich in einem konkreten Individuum das Gefühl des Nichts und schließlich des Ekels vor der Welt und seinem eigenen Dasein verdichtet.

Sartre beschreibt in Form von Tagebuchaufzeichnungen des jungen Antoine Roquentin, wie sich bei ihm, ausgehend von alltäglichen Vorfällen, ein zunächst vages Unbehagen einstellt und wie es von ihm schließlich schlagartig als Ekel vor einer sinnlosen "Existenz" des Menschen begriffen wird, der an die Stelle der Bewunderung seiner sinnvollen "Essenz" als einem ewigen, göttlichen Wesen tritt. Das Sichwundern, so wird das kontemplative platonisch-aristotelische Staunen konterkariert, setzt mit dem Aufmerksamwerden auf sperrige Kleinigkeiten im Alltag ein. Der fiktive Tagebuchschreiber notiert: "Am Sonnabend schleuderten die Jungen flache Steine über das Wasser, und ich wollte wie sie einen Kiesel übers Meer hüpfen lassen. Im gleichen Moment habe ich es aufgegeben, ich habe den Kiesel fallen lassen und bin weggegangen. Wahrscheinlich habe ich einen verstörten Eindruck gemacht, denn die Jungen haben hinter meinem Rücken gelacht. Soweit das Äußere. Was in mir vorgefallen ist, hat keine klaren Spuren hinterlassen. Da war etwas, was ich gesehen habe und was mich angewidert hat, aber ich weiß nicht mehr, ob ich das Meer oder den Kiesel ansah. Der Kiesel war flach, auf einer Seite trocken, auf der anderen feucht und schlammig. Ich hielt ihn mit spitzen Fingern am äußersten Rand, um mich nicht schmutzig zu machen. (...) Jedenfalls ist sicher, dass ich Angst oder so etwas ähnliches gehabt habe. Wenn ich bloß wüsste, wovor ich Angst gehabt habe, wäre ich schon einen großen Schritt weiter."

Sein Alltag und die Menschen um ihn herum erscheinen dem Schreiber zunehmend schal und langweilig. Wenige Tage nach dieser Tagebucheintragung notiert der Schreiber zum ersten Mal seine vage Angst und sein Unbehagen aus der anfänglichen Schlüsselszene ausdrücklich als Ekel: "Jetzt begreife ich; ich entsinne mich besser an das, was ich neulich am Strand gefühlt habe, als ich diesen Kiesel in der Hand hielt. Das war eine Art süßliche Übelkeit. Wie unangenehm das doch war! Und das ging von dem Kiesel aus, ich bin sicher, das ging von dem Kiesel in meine Hände über. Ja, das ist es, genau das ist es: eine Art Ekel in den Händen."

Im Gespräch mit dem "Autodidakter", der ihm mit seinem konventionellen Gerede über den Humanismus zunehmend unsympathisch wird, überträgt sich schlagartig der Ekel vor sich selbst auf alle Menschen: "Die Menschen. Man muß die Menschen lieben. Die Menschen sind bewundernswert (admirable). Ich möchte kotzen - und mit einem Schlag ist er da: der Ekel." Plötzlich ist sich Roquentin dessen bewusst, dass sein Ekel in der bloßen, nichtigen Existenz der Welt und seines eigenen Daseins begründet ist, die für ihn jede Verankerung in einem ewigen Wesen, und sei es auch in Form bürgerlicher Konventionen, verloren hat. Jetzt versteht er die Formel in geradezu cartesianischer Klarheit und Evidenz, die er vorher einfach hingeschrieben hatte: "Nichts. Existiert." Und er notiert: "Das also ist der Ekel: diese die Augen blendende Evidenz? Was habe ich mir den Kopf zerbrochen! Was habe ich darüber geschrieben! Jetzt weiß ich: Ich existiere - die Welt existiert -, und ich weiß, dass die Welt existiert. Das ist alles. Aber das ist mir egal. Merkwürdig, dass mir alles so egal ist: das erschreckt mich. Seit jenem berühmten Tag, als ich Steine übers Wasser hüpfen lassen wollte."

An die Stelle des metaphysischen Staunens über den göttlichen Kosmos und das vernünftige Dasein des Menschen tritt der Ekel vor der bloßen Existenz. Der Ekel wird nicht als allgemeines Gefühl begründet und analysiert, sondern leibhaftig von Roquentin erfahren und von ihm konkret beschrieben. Damit schließt sich der Spannungsbogen des Staunens zwischen Entzücken und Entsetzen, der von Platon bis Sartre reicht: "die Existenz hatte sich plötzlich enthüllt. Sie hatte ihre Harmlosigkeit einer abstrakten Kategorie verloren: sie war der eigentliche Teig der Dinge, diese Wurzel war in Existenz eingeknetet. Oder vielmehr, die Wurzel, das Gitter des Parks, die Bank, das spärliche Gras des Rasens, das alles war entschwunden; die Vielfalt der Dinge, ihre Individualität waren nur Schein, Firnis. Dieser Firnis war geschmolzen, zurückblieben monströse und wabblige Massen, ungeordnet - nackt, von einer erschreckenden und obszönen Nacktheit. (...) Dieser Moment war ungeheuerlich. Ich saß da, reglos und eisig, in eine entsetzliche Ekstase versunken. (...) Wie lange dauerte diese Faszination (fascination)? Ich war die Wurzel des Kastanienbaums. Oder vielmehr, ich war ganz und gar Bewußtsein ihrer Existenz. Noch losgelöst von ihr - da ich mir ihrer ja bewußt war - und dennoch in ihr verloren, nichts anderes als sie. Ein unbehagliches Bewußtsein, das sich dennoch mit seinem ganzen Gewicht, aus dem Gleichgewicht gebracht, auf dieses reglose Stück Holz sinken läßt."

Aus der achten und letzten Station des Staunens lässt sich als Fazit behaupten: das metaphysische Staunen über das Weltganze und den Menschen endet nicht selbstverständlich in einem sinnerfüllten Leben im Vertrauen auf ein "Umgreifendes", sondern kann auch zu einem sinnentleerten Leben in heroischer Entschlossenheit führen.

(9) Die Ethik des Staunens zwischen Verantwortung und Gelassenheit

Das Kennenlernen der unterschiedlichen Stationen des Staunens in unserer Kulturgeschichte, so konnte vielleicht deutlich werden, ist keineswegs bloß museal oder eine Beschäftigung mit einer abgetanen Vergangenheit. Vielmehr sind die unterschiedlichen Formen des Staunens bis in die Gegenwart hinein wirksam. Sie fordern aber auch - so abschließend - zu einer moralischen Bewertung heraus. Es sind es vor allem drei Formen des Staunens, die ethische Fragen aufwerfen. Ist Staunen, so erstens, als "Augenlust" (nach Augustinus) wirklich nur Ablenkung von einem "sinnvollen" Staunen und eine bloße Zerstreuung? Oder gehört das sinnliche Staunen, wie andere Sinnesgenüsse auch, einfach zu unserem Leben als Sinneswesen dazu? Ist ferner, so zweitens, das Staunen als neugierige Entdeckerfreude (nach Bacon) lediglich Ausdruck einer unverantwortlichen Welteroberung, die schließlich zur Atombombe und zur Genmanipulation führt? Oder gehört das neugierige Staunen der Entdecker und Erfinder ebenfalls zum menschlichen Dasein und hat auch segensreiche Folgen? Ist schließlich Staunen die Erfahrung der Welt, die als Kosmos, als "Schmuck und Ordnung" verstanden wird (nach Platon und Aristoteles), oder ist Staunen die Erfahrung der Sinnlosigkeit und Verzweiflung an der Welt (so Sartre)? Führt, so drittens, das metaphysische Staunen über die Welt insgesamt eher zu einer Sinnerfahrung oder zu einer Erfahrung des Nichts?

Dürfen wir uns also jeder Form des Staunens, dem sinnlichen, nützlichen und metaphysischen Staunen, schrankenlos hingeben? Sicher, der Affekt des Staunens ist jeweils spontan und wertfrei. Bei einem näheren Hinschauen jedoch erkennt man, dass unser jeweiliges Staunen durchaus von grundlegenden Mustern und Werten geprägt ist, die sich in den unterschiedlichen historischen Stationen wiedererkennen lassen. Unser Staunen ist eben in seiner Vorprägung keineswegs spontan und wertfrei. Daher können wir durchaus unser eigenes Staunen kritisch reflektieren und bilden. Wir können und sollten den zunächst spontanen Affekt des Staunens zu bewerten und zu zügeln versuchen. Dabei geraten wir allerdings in ein Dilemma. Staunen, so haben wir gesehen, ist vor allem unvoreingenommen und selbstzweckhaft, auch wenn es nützlich sein mag. Wird es dann nicht durch ethische Schranken und Bedenken eingeengt und möglicherweise sogar zerstört?

Um dem Einfach-so-Staunen nicht seinen spezifischen Eigenwert zu nehmen, sind die unvermeidbaren ethischen Bedenken auf ein unbedingtes Minimum zu begrenzen. Ein solches unbedingtes ethisches Minimum ist das "Prinzip Verantwortung" (Hans Jonas). Wie für jede andere Tätigkeit auch haben wir für den Akt des Staunens die Verantwortung für die möglichen Folgen zu bedenken und zu übernehmen. Dabei ist bei allen notwendigen Grenzziehungen etwa in der Atom- und Genforschung, aber auch im alltäglichen Staunen, letztlich jeder einzelne selbst für sein Tun und Lassen verantwortlich. Jeder einzelne, aber auch die Gesellschaft insgesamt hat die Grenzen des Staunens als Respekt gegenüber dem Eigenwert der Menschen, der Natur und der Dinge abzustecken. Dabei sind Spannungen zwischen naiv sinnlichem und bloß gafferischem Staunen sowie zwischen nützlicher und unverantwortlicher Forscherneugier oft unvermeidlich und nicht immer ohne einen tragischen Rest aufzulösen. Innerhalb dieser weit gefassten, dynamischen Grenzen der Verantwortlichkeit aber kann sich das Staunen gelassen der Vielfalt und Fülle der Phänomene öffnen. Wir können uns dann durchaus dem sinnlichen Staunen hingeben, aber auch dem nützlichen Staunen der Forscherneugier, den beiden ersten Formen des Staunens.

Was schließlich die Frage nach dem Sinn des dritten, metaphysischen Staunens angeht, können wir dabei beides erfahren, die Schönheit und den Sinn, aber auch das Grauen über uns und die Welt insgesamt. Möglicherweise wird sich ohne eine im weitesten Sinne religiöse Erfahrung die metaphysische Sinnfrage nicht beantworten lassen. So beschreibt etwa der Psychoanalytiker Peter Schellenbaum in seinem neuen Buch "Im Einverständnis mit dem Wunderbaren. Was das Leben trägt" das Staunen als mystisch-religiöse Offenbarung eines Sinns: "Wirklich alles kann zum Träger dieser Offenbarung werden: nicht nur Schönes wie die Augen einer Katze, die ausdrucksstarke, harmonische Geste eines Menschen, der Glanz des Mondes auf dem Wasser, Musik wie die der Zauberflöte (...), sondern auch Hässliches wie die unerwartet entblößte Narbe eines Menschen, eine kreischende Säge, eine öde Industrielandschaft (...) Staunen ist ein religiöses Gefühl. (...) Wer staunt, hat den wichtigsten Schritt schon getan: Er wird in Zukunft anders denken, fühlen und handeln: wird selbst Wunder und Zeichen sein in unserer entzauberten, entgeisterten Welt" (S. 21, 175f.). Auch Schellenbaum allerdings kann ebenso wenig wie der religiöse Existenzphilosoph Jaspers etwa einem Nihilisten wie Sartre gegenüber mit absoluter Sicherheit rational begründen, welcher Erfahrung - die des sinnvollen oder sinnentleerten Staunens - realitätsgerechter oder eben illusionärer ist. Das metaphysische Staunen bleibt, ob als sinnvolles oder sinnentleertes Staunen, ein Rätsel, auf das jeder für sich selbst eine Antwort zu finden versuchen muss.

Wie auch immer man aber die verschiedenen Formen des sinnlichen, nützlichen oder metaphysischen Staunens ethisch bewertet, ist bereits die Bildungsreise durch die spannenden und spannungsreichen Stationen des Staunens eine Übung, sich wieder oder wieder verstärkt auf das Staunen in einem unabschließbaren Bildungsprozess einzulassen. In Abwandlung der Kantschen Aufklärungsmaxime: "Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!" gilt daher: "Habe Mut, dein eigenes Staunen zu schmecken!"

Literatur vom Verfasser

Philosophieren mit Kindern. Eine Einführung in die Philosophie. Stuttgart: Reclam 1999

Der Faden der Ariadne oder Warum alle Philosophen spinnen. Leipzig: Reclam 2000

Ich denke, also bin ich. Grundtexte der Philosophie. München: Beck 3. Aufl. 2003

Vom Staunen oder Die Rückkehr der Neugier. Leipzig: Reclam 2003