Aus: Becker-Textor, I./Textor, M.R.: Der offene Kindergarten - Vielfalt der Formen. Freiburg, Basel: Verlag Herder, 2. Aufl. 1998, S. 35-58
Martin R. Textor
In den letzten Jahren haben sich immer mehr Kindergärten für weitere Altersgruppen als die der Drei- bis Sechsjährigen geöffnet. Beispielsweise wurde in Nordrhein-Westfalen schon vor zwei Jahrzehnten damit begonnen, Kinder im Alter von vier Monaten bis zu sechs Jahren gemeinsam in einer Gruppe zu betreuen. Im Freistaat Bayern ist es seit Mitte der 1990-er Jahre möglich, freie Nachmittagskapazitäten in Kindergärten zur Aufnahme von Schulkindern, vorzugsweise der ersten und zweiten Grundschulklasse, zu nutzen. Dadurch wird einerseits auf die Situation reagiert, dass es aufgrund zurückgehender Kinderzahlen in vielen Regionen schon freie Kindergartenplätze gibt, während andererseits Betreuungsangebote für Schulkinder fehlen. In vielen Bundesländern gibt es inzwischen auch einzelne "Kinderhäuser" mit einer noch weiteren Altersmischung - im Extremfall vom Säuglingsalter bis zu 12 Jahren.
Diese Beispiele deuten schon an, dass es viele Formen einer weiten Altersmischung gibt. Generell lassen sich unterscheiden:
- "kleine" Altersmischung: Kleinst- und Kleinkinder werden gemeinsam in einer Gruppe betreut.
- "große" Altersmischung: Kleinst-, Klein- und Schulkinder (bis hin zu Zehn- oder Zwölfjährigen) leben in einer Gruppe zusammen.
- Einzelintegration andersaltriger Kinder: Bei mit Kleinkindern nicht besetzbaren Kindergartenplätzen werden einzelne Zweijährige oder Erst- (und Zweit-)Klässler aufgenommen, wobei es sich im letztgenannten Fall zumeist um schon zuvor in der Einrichtung betreute Kinder handelt.
- zeitweilige Altersmischung: Ansonsten getrennte Kindergarten- und Krippen- oder Hortgruppen öffnen sich relativ häufig füreinander, so dass unterschiedlich alte Kinder gemeinsam am Freispiel, an angeleiteten Aktivitäten oder Projekten teilnehmen können (vgl. Artikel "Die Öffnung von Gruppen"). Dies ist in der Regel nur möglich, wenn sich die Gruppen bzw. Einrichtungen auf demselben Grundstück oder auf benachbarten befinden. Besuchen sich Kindergarten- und Krippen- bzw. Hortkinder nur gelegentlich, ist darin eher eine Form der Gemeinwesenorientierung zu sehen (vgl. Kapitel "Öffnung nach außen").
In diesem Kapitel werde ich mich auf die beiden erstgenannten Formen der weiten Altersmischung beschränken, da sie die umfassenderen sind. Dabei werde ich weder den in diesem Kontext häufig verwendeten Begriff "Kinderhaus" noch das Wort "Familiengruppe" gebrauchen. Meines Erachtens sollte jede Kindertageseinrichtung ein "Kinderhaus" - oder noch besser: ein "Haus für Kinder und Eltern" (Erwachsene) - sein. Den Begriff "Familiengruppe" lehne ich ab, weil er auf einer romantisch verklärten Vorstellung von der "Großfamilie" beruht. Meist ist unbekannt, dass es in der deutschen Geschichte Familien mit drei Generationen und vielen Kindern nur im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts - also in einer relativ kurzen Epoche - gab und dass in den weitaus meisten dieser Familien die Geschwister keine unbeschwerte Kindheit mit gemeinsamem Spiel und Spaß erlebten, sondern schon früh auf dem Hof, im Haushalt, in Fabriken und Bergwerken arbeiten mussten (vgl. Textor 1993, S. 21-36, S. 43-45). Ferner kann ich folgender Aussage von Professor Erath (1992) nur zustimmen: "Doch die erweiterte altersgemischte Gruppe ist nicht familienähnlich...: Weder sind die Erzieherinnen Ersatzmütter, noch taugt die Gruppe als Familienersatz ..." (S. 110)
1. Zur Entstehung weit altersgemischter Einrichtungen
Wie kommt es nun zur weiten Altersmischung in Kindertageseinrichtungen? Jutta Fetz sendete folgenden Bericht aus Koblenz:
"Der Einstieg in die große Altersmischung war wenig erfreulich.
Die Kindertagesstätte Kemperhof, Betriebskindertagesstätte eines städtischen Krankenhauses, wurde 1974 im leer stehenden Altbau eröffnet. Die Einrichtung umfasste damals eine Kindergartengruppe für 15 Kinder. Sehr bald erhielten wir die Anweisung, die 18 Monate alte Kristin aufzunehmen. Ich war entsetzt. An diesem Abend dachte ich ernsthaft darüber nach, meine Stelle zu kündigen. Denn dazu wollte ich mich nicht hergeben, und Erzieherinnen wurden damals überall gesucht. Aus meiner Ausbildung hatte ich die Überzeugung mitgenommen, dass so kleine Kinder zur Mutter gehören und dass Krippen eher etwas Negatives sind. Ich fand auch nur Literatur, die ausschließlich negative Auswirkungen von Krippenerziehung beschrieb, z.B. die Untersuchungen von René Spitz über Retardierungen und Hospitalismusschäden.
Dann kam Kristin und stellte unsere Kindergartengruppe buchstäblich auf den Kopf. Nichts war vor ihr sicher. Sie jauchzte, wenn sie ein teures Bilderbuch zerriss, freute sich, wenn unter ihren Händen die kunstvollen Legohäuser der Großen zerfielen. Wir Erzieherinnen hatten nur unsere Kindergartenkonzepte in den Köpfen und fanden es ganz toll, dass das gesamte mögliche Angebot an Spielmaterialien in Reichweite der Kinder stand. Wir kamen zuerst überhaupt nicht auf die Idee, die Dinge in der Kindergartengruppe anders zu strukturieren. Wir wussten keine Antworten auf die Fragen, die Kristins Anwesenheit mit sich brachte.
Ich freute mich, dass bald fünf weitere Krippenkinder angemeldet wurden, denn wir glaubten, unsere Probleme lösen zu können, indem wir eine Krippengruppe aufmachen und diese kleinen Störenfriede in sie verbannen könnten. So wurde unsere erste Krippengruppe 1975 eingerichtet.
Wir suchten Kontakt zu anderen Einrichtungen, in denen Kinder unter drei Jahren betreut wurden. Diese Plätze waren aber damals in Rheinland-Pfalz noch dünner gesät als heute. Ich suchte auch nach gesetzlichen Grundlagen und Ausführungsbestimmungen für die Betreuung von Krippenkindern, erhielt aber vom Ministerium für Soziales und Familie die Auskunft, dass nicht daran gedacht sei, Regelungen für Krippen zu erlassen. Rheinland-Pfalz habe zwar als erstes Bundesland ein Kindergartengesetz verabschiedet, aber durch neue Regelungen zur Krippenbetreuung würden ja eventuell Träger ermutigt, solche Einrichtungen anzubieten. Dies sei nicht im Sinne des Ministeriums. Allerdings versprach man mir, dass alle Träger und Leiterinnen von Krippen demnächst zu einem Gespräch in Mainz eingeladen würden, damit gemeinsam über die Zukunft dieser Betreuungsform nachgedacht werden könne. Auf dieses Gespräch habe ich lange umsonst gehofft.
Im Laufe der Jahre wuchs die Einrichtung immer weiter. Längst gab es keine Altersbegrenzung nach oben mehr, weil wir der Überzeugung waren, dass es nicht sinnvoll sein kann, wenn wir Kleinstkinder aufnehmen und nur bis zur Einschulung betreuen. Gerade wenn die Kinder den Eintritt in die Grundschule mit der Umstellung auf neue Klassenkameraden und die Lehrerin verkraften müssen, wollten wir ihnen nicht auch noch den Wechsel in einen Hort zumuten. Ein sehr aktiver Elternausschuss organisierte eine Fahrt zu einer Kindertagesstätte in Nordrhein-Westfalen. Dort konnten wir in der Praxis sehen, wie 18 Kinder in einer Gruppe mit großer Altersmischung betreut wurden. Für uns stand fest: So wollten wir auch arbeiten.
1978 betreuten wir 120 Kinder: 30 Kinder in drei Krippengruppen, 75 Kinder in drei Kindergartengruppen und außerdem noch etliche Schüler. Die jüngsten waren wenige Monate, die ältesten 12 Jahre alt. Da kam die Kündigung für unsere Räume, weil das Haus abgerissen werden sollte.
1986 zogen wir mit fünf Gruppen in neue Räume um, in einen anderen Teil des alten Krankenhauses. Bei der Planung der Umbaumaßnahmen für die neuen Räume war ich zwar beteiligt, aber ein Umbau für Gruppen mit großer Altersmischung war nicht durchzusetzen. Diese Betreuungsform gab es in unserem Bundesland nicht.
Langfristig vor dem Umzug hatten wir die Schüler und eine Kindergartengruppe aus der Einrichtung herauswachsen lassen. Ich war mit dieser Lösung sehr unzufrieden. Wir betreuten inzwischen verstärkt Kinder Alleinerziehender. Hortplätze waren in Koblenz knapp und nur schwer zu bekommen. Ich fragte die Verantwortlichen immer wieder: 'Was nützt kompensatorische Erziehung in den ersten sechs Lebensjahren, wenn die Kinder genau zum Schuleintritt aus der gewohnten Umgebung heraus müssen und in vielen Fällen kein vernünftiges Betreuungsangebot besteht?'
Von 1990 bis 1992 lief dann in Rheinland-Pfalz der Modellversuch 'Häuser für Kinder'. Die Teilnehmer am Modellversuch arbeiteten mit Gruppen mit großer Altersmischung. Wir durften als Gasthörer an den Fortbildungsveranstaltungen teilnehmen. Jetzt konnten wir endlich unsere Gesamtkonzeption verändern.
In dieser Phase habe ich mich zum ersten Mal als Bremser meines Teams gefühlt. Meine Kolleginnen, die teilweise schon seit vielen Jahren in Krippen-, Kindergarten- und Hortgruppen arbeiteten, waren so begeistert, dass mir angst und bange wurde vor so viel Aktivität. Schließlich einigten wir uns darauf, erst eine Gruppe umzustrukturieren und dann nach und nach die anderen vier Gruppen. In diese Zeit fiel auch die Genehmigung des Trägers für eine erneute Schülerbetreuung.
16 Jahre lang hatten wir auf diese große Altersmischung hingearbeitet. Wir hatten zwar den Übergang von der Krippe zum Kindergarten pädagogisch sinnvoll gestaltet, aber es war und blieb ein Ärgernis für alle Beteiligten. Wir beobachteten immer wieder, dass Kinder größte Probleme mit der Ablösung von ihrer Krippenbezugsperson hatten. Manche Kinder waren vier Jahre alt, bevor sie - als äußeres Zeichen des vollzogenen Wechsels - freiwillig ihre Eigentumskiste aus der Krippengruppe in die Kindergartengruppe umräumten. Wir legten jeweils eine Krippengruppe und die dazugehörige Kindergartengruppe räumlich direkt nebeneinander, und die Kindergartenerzieherinnen besuchten ihre zukünftigen Schützlinge regelmäßig in der Krippe, aber dies waren alles Klimmzüge, die die Situation nicht wesentlich verbesserten. Für die Eltern, die oft bereits während der Schwangerschaft erste Kontakte zu den Krippenerzieherinnen aufgebaut hatten, war der Übergang in die Kindergartengruppe immer wieder ein Beziehungsabbruch. Stellvertretend für die Erzieherinnen zitiere ich hier eine Kollegin: 'Wenn wir die Kinder aus dem Gröbsten 'raushaben, dann müssen wir sie abgeben.'
Eine große Belastung für die Krippengruppen war auch das schnelle Herauswachsen der Kinder und die damit verbundenen häufigen Neuaufnahmen. Ein stabiles Sozialgefüge konnte kaum wachsen. Außerdem kamen auf die Erzieherinnen zu viele Kinder in einem Alter, in dem diese noch sehr stark von ihrer Bezugsperson abhängig sind.
Seit Dezember 1990 arbeiten wir nun mit fünf, seit September 1993 mit sechs Gruppen mit weiter Altersmischung. In Einzelfällen nehmen wir Kinder direkt nach der Mutterschutzfrist auf. Viele Kinder sind bei der Aufnahme sechs bzw. 12 Monate alt, etliche auch zwei Jahre. Ältere Kinder können wir in der Regel nicht aufnehmen, weil sonst die Altersstruktur der Gruppen gestört würde."
Wohl die meisten weit altersgemischten Kindertagesstätten haben sich auf ähnliche Weise aus Regeleinrichtungen heraus entwickelt. Vereinzelt sind sie aber auch neu gegründet worden. Susanne Treffer beschreibt nun, wie im Sozialpädagogischen Zentrum St. Leonhard dieser Prozess verlief:
"Im Kindergartenjahr 1994/95 wurde unter meiner Leitung eine altersgemischte Gruppe in Regensburg eröffnet, die speziell darauf konzipiert ist, 16 Kinder im Alter von ein bis sechs Jahren gemeinsam zu betreuen. Auf diese Weise sollten die allgemein vorherrschenden, separat angebotenen Betreuungsformen wie Kinderkrippe, Krabbelstube und Kindergarten aufgebrochen werden. Die gemeinsame Erziehung der Kleinst- und Kleinkinder sollte alters- und institutionenübergreifend funktionieren.
Mir wurde die Ernsthaftigkeit dieses Neubeginns sofort bewusst. Aus diesem Grund war das Angebot, die Leitung anzunehmen, für mich eine große Herausforderung. Ich wollte meine persönlichen Gedanken, Ideen und Erfahrungen als selbst betroffene Mutter, aber auch meine eigenen pädagogischen Vorstellungen einbringen, die nicht nur auf historischen Vorbildern (z.B. Fröbel, Pestalozzi, Montessori und Freire), sondern auch auf dem Gedankenaustausch mit anderen, mir persönlich bekannten, fortschrittlich denkenden Pädagogen beruhen. Zugleich wollte ich Veränderungen bestehender Strukturen im Kindergartenbereich mitbewirken.
In unserer heutigen Zeit halte ich es für dringend notwendig, eine weite Altersstreuung als zusätzliche Alternative neben den anderen Formen der Kinderbetreuung im Elementarbereich anzubieten. Diese Altersmischung fordert es geradezu heraus, klassische Betreuungsformen, die sich zwar bewährt haben, aber in unserem Sozialsystem nicht mehr als einzigartig zu akzeptieren sind, neu zu überdenken. Dies beziehe ich auch ganz klar auf die pädagogischen Inhalte.
Bei meinen Vorplanungen für das zukünftige Konzept war ich einerseits an die Tradition des Hauses St. Leonhard gebunden, das unter katholischer Trägerschaft durch einen Verein geführt wird. Andererseits ließ mir die Heimleitung einen weiten Handlungsspielraum für mein eigenes pädagogisches Denkmodell. Meine Vorstellungen standen zudem im Einklang mit den Empfehlungen des Staatsinstituts für Frühpädagogik, das im Rahmen eines Modellversuchs unsere Einrichtung begleitete: eine intensivere Elternarbeit aufzubauen, die Auswirkungen der weiten Altersstreuung auf die Kinder zu untersuchen, eine innere und äußere Öffnung zu praktizieren usw.
Als Ausgangspunkt für meine Überlegungen spielten neben oben genannten Gründen auch soziale Hintergründe eine Rolle, insbesondere die gegenwärtige Familiensituation. Es ist eine Tatsache, dass viele Probleme im Familienleben auch gesellschaftlich bedingt sind. Leider leben wir in einer familienfeindlichen Gesellschaft, die kaum noch die Familienstrukturen stabilisiert. Die Instabilität beziehe ich auf die Situation der Kleinfamilie, die mangelnden Ressourcen zur Problemlösung, die Lage der "Nur"-Hausfrauen, die Benachteiligung der Familien mit einer höheren Kinderzahl und natürlich die Situation der alleinerziehenden Mütter und Väter. Die Zusammenhänge mit gesellschaftlichen Problemen liegen auf der Hand, also z.B. mit Arbeitslosigkeit, Wohnungsnot, Krankheit (Suchtverhalten jeder Art), Berufstätigkeit im Schichtdienst, Ausbildungsproblematik, weitere wirtschaftliche Gründe usw. Diese Problemsituationen spiegeln sich im Familienalltag wider und führen vielfach zu Erziehungsschwierigkeiten. Mitbetroffen sind somit die Kinder, die Basis unserer Gesellschaft.
Gerade in der weit altersgemischten Gruppe sehe ich eine Chance, Kindern wieder mehr Stabilität zu geben. Man kann sie als Einrichtung verstehen, die versucht, einen Gegenpol zu dieser Entwicklung zu bilden. Das bedeutet, sich von den festgefahrenen Mustern in der Frühpädagogik zu trennen und stattdessen die Kindertageseinrichtung als familienunterstützendes Angebot zu konzipieren, das sich lebensnah den Familiensituationen anpasst. Die altersgemischte Gruppe soll somit auch eine entlastende Funktion für die Eltern haben. Dazu gehören optimale Betreuungsmöglichkeiten, dem Wunsch der Eltern entsprechende verlängerte Öffnungszeiten, die Mittagsbetreuung und die sozialpädagogische Begleitung der Eltern (sofern notwendig). Zugleich verfolge ich das Ziel, den pädagogischen Alltag gewinnbringend mit und für die Kinder zu gestalten. Die Kinder sollen sich in dem sozialen Netz, dem Haus für Kinder, wohlfühlen. Wird all dies erreicht, dann wirkt die Einrichtung familienergänzend und -unterstützend, werden Familien stabilisiert - egal, um welche Familienform es sich handelt.
Um den Anspruch einer erweiterten Altersmischung nachkommen zu können, war der Träger der Einrichtung von Beginn an darauf bedacht, schon allein aus pädagogischen Gründen die Gruppenkapazität so niedrig wie möglich zu halten. Gleich nach Bekanntwerden des Modellprojektes in der Öffentlichkeit hat es sich bestätigt, dass gerade für Kinder im Alter von ein bis sechs Jahren eine große Nachfrage für diese Betreuungsart besteht, insbesondere in Verbindung mit der langen Öffnungszeit bis 18.00 Uhr. So lagen wesentlich mehr Anmeldungen vor, als Kinder aufgenommen werden konnten.
Ich versuchte, bei den Aufnahmeentscheidungen eine ausgewogene Altersmischung und eine annähernd gleiche Geschlechterverteilung zu erreichen. Aufgrund der Aufnahme von Geschwisterkindern kam es jedoch zu einer geringen Überzahl an Buben. Es wurden insgesamt 16 Kinder im Alter von ein bis sechs Jahren aufgenommen, davon vier Kinder unter drei Jahren.
Für einige Eltern ergaben sich plötzlich vollkommen neue Perspektiven in ihrer persönlichen Familiensituation. Die Möglichkeit, Geschwisterkinder mit einer Altersdifferenz von zwei oder drei Jahren gemeinsam in einer Gruppe betreuen zu lassen, entspricht dem gewünschten familiären Charakter und verleiht den Eltern ein Gefühl von Sicherheit. Durch die Aufnahme von einigen Geschwisterkindern reduzierte sich für uns die Gesamtelternschaft. Ich verband damit die Erwartung, eine intensivere Eltern- und Familienarbeit leisten zu können."
2. Arbeiten und Leben in der weit altersgemischten Gruppe
Die im Extremfall 12 Jahre umfassende Verweildauer der Kinder in weit altersgemischten Gruppen, die lange tägliche Verweildauer (Ganztagseinrichtungen) und die geringe Fluktuation in der Gruppenzusammensetzung (vergleichsweise wenige Neuaufnahmen/ Abmeldungen) bedingen, dass sich sehr enge Beziehungen zwischen den Kindern ausbilden - sie erleben sich fast als Geschwister. Aber auch das Verhältnis zwischen Erzieherinnen und Kindern wird sehr eng. Insbesondere wenn dieselbe Fachkraft ein Kind acht oder zehn Jahre lang begleitet und von diesem positiv erfahren wird, kann sie zu einer der wichtigsten Bezugspersonen in seinem Leben werden - und zu einem bedeutenden Gesprächspartner seiner Eltern. Sie kennt das Kind, seine Lebenssituation, Persönlichkeit, Stärken und Schwächen sehr gut, übernimmt viel Verantwortung für seine Weiterentwicklung und macht sich Gedanken über seine Zukunft.
Eine genaue Kenntnis des jeweiligen Kindes, die durch seine regelmäßige (gezielte) Beobachtung erhärtet werden sollte, ist in weit altersgemischten Gruppen eine noch wichtigere Voraussetzung für eine angemessene Betreuung, Erziehung und Bildung des Kindes als in Regeleinrichtungen. Hier kann man nicht wie bei geringen Altersunterschieden von Kindern davon ausgehen, dass diese auf einem vergleichbaren Entwicklungsstand sind, ähnliche Bedürfnisse haben und deshalb von denselben Angeboten profitieren werden. Vielmehr muss jedes Kind aufgrund der breiten Altersspanne einzeln betrachtet und gefördert werden. In weit altersgemischten Gruppen ist somit eine höhere Sensibilität der Erzieherinnen für die Individualität der Kinder unverzichtbar. Die Fachkräfte müssen den - höchst unterschiedlichen - Entwicklungsstand eines jeden Kindes und seine Entwicklungsbedürfnisse kennen. Nur dann können sie es angemessen fördern - und das heißt zugleich: anders als die meisten anderen Kinder in der Gruppe. Dies bedeutet, dass sie die Entwicklungsstufen von Kindern zwischen null und zehn, zwölf Jahren kennen und verstehen müssen. Sie sollten mit einer sehr großen Bandbreite kindlicher Bedürfnisse, Interessen und Verhaltensweisen zurechtkommen, unterschiedlich anspruchsvolle Spiel- und Erfahrungsmöglichkeiten bieten und pädagogische Angebote für ganz verschiedene Altersgruppen machen können. Weder dürfen ältere Kinder unterfordert noch jüngere überfordert werden.
Somit kommt es zu einer Differenzierung bei vielen von den Erzieherinnen angeleiteten Aktivitäten. Aber auch im Freispiel teilen sich die Kinder aufgrund der großen altersbedingten Unterschiede zumeist in Kleingruppen auf oder beschäftigen sich alleine. Insbesondere die älteren Kinder gesellen sich bevorzugt alters- und geschlechtsgleich; die intensiveren Freundschaften werden in der Regel mit Gleichaltrigen geschlossen. Zu länger andauernden Spielkontakten mit viel jüngeren Kindern kommt es vor allem dann, wenn Gleichaltrige fehlen (wenn z.B. ein einzelnes Schulkind vor Beginn der Schule in der Einrichtung ist). Interaktionen zwischen unterschiedlich alten Kindern werden vor allem im Kuschelbereich, in der Rollenspielecke, bei Mahlzeiten, bei Feiern und Besprechungen beobachtet.
Bei der "großen" Altersmischung werden intensivere Kontakte zwischen unterschiedlich alten Kindern noch dadurch erschwert, dass die Schüler/innen in der Regel erst mittags in die Einrichtung kommen, oft separat ihr Mittagessen erhalten (die jüngeren Kinder haben früher Hunger und benötigen dann ihre Mahlzeit) und anschließend ihre Hausaufgaben machen. Wenn sie dann von jüngeren Kindern in Spiele und andere Aktivitäten einbezogen werden könnten, werden diese oftmals schon von ihren Eltern abgeholt. Klein und Vogt (1995) schreiben über ihre Einrichtung mit "großer" Altersmischung:
"Alle auf einmal sind regelmäßig nur bei folgenden Anlässen anzutreffen: dem täglichen Nachmittagsessen, etwa einmal wöchentlich für 15 Minuten während der Gruppenbesprechung oder einer anderen Form gemeinsamer Planung und Absprache und schließlich bei Festen. Eingeschränkt kommt die komplette Gruppe auch in gemeinsamen Freizeiten, bei Ausflügen und in den Ferien zusammen. Aber auch bei Ausflügen sind altersspezifische Unternehmungen verbreitet, in den Ferien sind selten alle Kinder anwesend." (S. 52 f.)
So empfehlen Klein und Vogt die Pflege von Zugehörigkeitsgefühlen, z.B. durch das Anlegen von Gruppentagebüchern, Fotoalben oder Chroniken.
Üblicherweise findet sich in weit altersgemischten Einrichtungen also ein Teil der Kinder in freien Spielgruppen zusammen, gehen andere Einzelaktivitäten nach und nehmen die übrigen an einem Angebot der Erzieherin teil. Die Fachkräfte stehen mehr am Rande des Geschehens als in dessen Mittelpunkt und greifen nur ein, wenn es bestimmte Situationen erfordern. Sie machen weniger Bildungsangebote (z.B. nach einem Rahmenplan) als in Regeleinrichtungen und arbeiten wegen der unterschiedlichen Bedürfnisse und Interessen der Altersgruppen sehr viel seltener mit der ganzen Gruppe. Allerdings werden oft Projekte durchgeführt, da sich an ihnen Kinder mit ganz unterschiedlichen Fähigkeiten und Fertigkeiten beteiligen können. Bei großen Altersunterschieden werden hier aber die Kleinst- (und Klein-) Kinder häufig in eine Beobachterrolle gedrängt. So beschränkt z.B. das Kinderhaus "Carlo Steeb" in Tübingen auch bei Projekten die Beteiligung auf Kinder mit einem ähnlichen Entwicklungsstand. Die Erzieherinnen in weit altersgemischten Einrichtungen arbeiten also überwiegend mit Kleingruppen - mit Kindern, die sie gerade gebrauchen oder mit denen sie sich gezielt beschäftigen möchten. Aufgrund der Verschiedenartigkeit der Kinder müssen sie ganz unterschiedliche Aktivitäten anbieten - was ihnen zugleich viele Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung eröffnet: "Interessenbereiche werden neu entdeckt und ausgebaut. Fußballtraining, Seidenmalerei, der Umgang mit Gießton, die Einrichtung einer Hausbücherei und die Beschäftigung mit Kinderliteratur, Gartenarbeit, das Leiten einer Forschergruppe, autogenes Training mit Kindern, der Umgang mit Holz oder die langfristig angelegte Beschäftigung mit dem Leselernprozess bei Kindern sind solche Bereicherungen im Tätigkeitsfeld der Erzieherin." (Klein/Vogt 1995, S. 92)
Insbesondere in vielen Kindertagesstätten mit "großer" Altersmischung wird mehr Wert auf die Gestaltung des alltäglichen Zusammenlebens und die gemeinsame Haushaltsführung gelegt als in Regeleinrichtungen: "Die Kinder sind in den Ablauf eines Haushaltes gestellt, erleben und gestalten ihn nach ihrem Vermögen und Bedürfnis mit. Sie beteiligen sich an allen anfallenden Haus- und Gartenarbeiten, die von den Betreuern im Laufe des Tages getan werden, wie Kochen, Waschen, Putzen, Bügeln, kleinere Reparaturarbeiten usw." (Gründel 1995, S. 15). Das bedeutet natürlich auch, dass hier die Fachkräfte mehr hauswirtschaftliche und pflegerische Tätigkeiten übernehmen als z.B. im Kindergarten. Wenn morgens die Schulkinder noch nicht anwesend sind, nimmt eine Erzieherin auch einzelne Kinder mit zu Besorgungen und Einkäufen.
Nachstehendes Beispiel von Jutta Fetz (Kindertagesstätte Kemperhof in Koblenz) verdeutlicht sehr gut, welche kognitiven und lebenspraktischen Herausforderungen allein im Tischdecken liegen:
"Neulich kam ich dazu, als die fünfjährige Carmen und der dreijährige Fritz den Esstisch deckten. Sie gingen zunächst zu dem Speiseplan im Eingangsbereich des Hauses und betrachteten die Fotos von den angekündigten Speisen. Dann berieten sie, welches Besteck für die Speisen gebraucht würde. Anschließend diskutierten sie, ob flache oder tiefe Teller benötigt würden, und stellten fest, dass auch noch Salatteller geholt werden müssten. Alle benötigten Gegenstände wurden auf einem kleinen Abstelltisch zurechtgelegt. Als letztes suchten sie noch das erforderliche Vorlegebesteck zusammen, stellten Kerzen und Servietten auf den Tisch.
Jetzt musste die Tischordnung festgelegt werden, und das war gar nicht so einfach: Carmen wollte Nina füttern. Deshalb musste sie neben einem Tripp-Trapp sitzen. Nina sollte zusätzlich einen kleinen Plastiklöffel bekommen, denn sie versucht bereits, selbst zu essen. Gudrun, eine Erzieherin, musste zwischen zwei Tripp-Trapps gesetzt werden, denn sie ist die Bezugsperson der Zwillinge Mona und Lisa und muss beide füttern. Florian und Angelo essen noch nicht lange selbständig. Sie bekommen einen Plastiklöffel. Petra isst mit einer Kuchengabel, weil die normalen Gabeln für sie noch zu groß sind. Sylvia, eine andere Erzieherin, muss so sitzen, dass sie von der Kuschelecke aus gesehen werden kann, denn dort liegt Manuel, fünf Monate, der bereits gegessen hat, weil er schon vorher Hunger hatte.
Ich kenne diese Arbeit ja nun schon seit 22 Jahren, aber ich staune immer wieder, wie Kinder eine solch komplexe Aufgabe mit Konzentration und Ausdauer lösen."
Ansonsten konzentrieren sich die Fachkräfte auf die Schaffung einer anregenden Umwelt, in der alle Altersstufen entwicklungsfördernde Anreize und Materialien vorfinden. Sie lassen den Kindern viel Raum zur Selbsttätigkeit und Eigenaktivität, geben ihnen viel Verantwortung für die Gestaltung ihres Alltags und fördern ihre Selbständigkeit. Beispielsweise legen die Mitarbeiterinnen der weit altersgemischten Kindertagesstätte in Oberföhring großen Wert darauf, dass die Kinder Spielkonstellationen und Spielinhalte selbst organisieren. Die Erwachsenen halten sich im Hintergrund und beobachten die Kinder, die sie bei der Verwirklichung ihrer Ideen im Bedarfsfall unterstützen. Das Lernen in weit altersgemischten Gruppen erfolgt also überwiegend selbst gesteuert und eigenständig, wobei die Kinder ihrem individuellen Rhythmus folgen können. Die Kinder lernen unabhängiger von der Person der Erzieherin und ihren pädagogischen Angeboten als in Regeleinrichtungen.
Aufgrund der weiten Altersspanne lernen die jüngeren Kinder mehr von den älteren als in Krippe, Kindergarten oder Hort. Letztere sind in ihrer kognitiven, motorischen, sozialen und Sprachentwicklung weit fortgeschritten, so dass erstere auf dem Wege des Modelllernens von ihnen profitieren. Die jüngeren Kinder können die älteren leichter nachahmen, da deren Verhalten weniger komplex als das der Erwachsenen ist. Hinzu kommt, dass Lernerfolge von den älteren Kindern verstärkt werden. Diese leiten auch das Spiel der jüngeren an, geben Spielideen, Beschäftigungen und eine Fülle anderer Anregungen an sie weiter. Immer wieder kann beobachtet werden, dass jüngere mit etwas älteren Kindern spielen wollen, da das Spiel mit einem erfahreneren Partner in der Regel interessanter und abwechslungsreicher ist. Auch konfrontieren ältere Kinder die jüngeren mit Situationen, Themen und Gegenständen, denen letztere in Regeleinrichtungen nicht begegnen würden. Beispielsweise führt die Anwesenheit von Schulkindern in der Gruppe dazu, dass Schulanfänger schon vor ihrem ersten Schultag bestens Bescheid wissen, was auf sie zukommt. Außerdem beobachtete z.B. das Team des "Hauses für Kinder" in Hanau, dass die älteren Schulkinder ein gerade eingeschultes Gruppenmitglied auf dem Schulweg begleiteten und auf es warteten, bis der Unterricht vorbei war. Es profitieren jedoch nicht nur die jüngeren Kinder von der weiten Altersmischung, sondern auch die älteren: Sie "lernen durch Lehren", wenn sie den anderen etwas erklären oder vormachen und dabei ihre Kenntnisse vertiefen und Fertigkeiten verbessern. Zugleich gewinnen sie an Selbstvertrauen. Auch führt die Anwesenheit kleinerer und schwächerer Kinder dazu, dass die älteren soziale Verhaltensweisen wie Hilfsbereitschaft, Rücksichtnahme und Einfühlungsvermögen entwickeln. Schließlich werden sie durch den spontanen Körperkontakt mit Kleinkindern emotional bereichert und lernen, wie man auf deren Bedürfnisse - und diejenigen von Säuglingen - reagiert.
Bei einer "großen" Altersmischung verlaufen nicht nur Schulvorbereitung und der Übergang zur Schule anders als in Regeleinrichtungen (eher nebenher), sondern auch die Eingewöhnung neuer Kinder. Da jedes Jahr nur zwei oder drei (Kleinst-) Kinder aufgenommen werden, werden sie von der Gruppe freudig erwartet, liebevoll umsorgt und von Anfang an als einzigartige Individuen wahrgenommen. Die älteren Kinder betreuen sie mit und entlasten auf diese Weise die Erzieherinnen. Zugleich werden sie im weitesten Sinne zu "Bezugspersonen", in deren Nähe sich auch ein Säugling sicher und geborgen fühlt, wenn die Fachkraft für kurze Zeit den Raum verlässt. Allerdings müssen viele ältere Kinder erst lernen, dass Kleinstkinder keine "niedlichen Püppchen" sind und entsprechend behandelt werden können. Auf jeden Fall sollte sichergestellt werden, dass ein neu aufgenommener Säugling von Anfang an eine bestimmte erwachsene Bezugsperson hat, die sich kontinuierlich um ihn kümmert und die Befriedigung seiner Bedürfnisse sicherstellt.
Die weite Altersmischung kann sich für Kinder in bestimmten Lebenslagen besonders positiv auswirken. Beispielsweise kommen Einzelkinder mit viel jüngeren und älteren Kindern zusammen, erleben sich zunächst als das kleinere und schließlich als das größere Kind. Diese Erfahrungen können das Fehlen von solchen mit Geschwistern kompensieren. Auch können Einzelkinder in der Gruppe lernen, was es heißt, wirklich helfen zu können. Dadurch wird u.a. ihr Selbstbewusstsein gestärkt. Auch kann beobachtet werden, "dass ein unsicheres, schüchternes und zurückhaltendes Kind sich zunächst einmal nur dem jüngsten Kind der Gruppe zuwendet und nähert. Dort erfährt es die nötige Anerkennung und Bestätigung, es spürt keine Konkurrenz. Durch den Umgang mit dem jüngeren Kind gewinnt es nach und nach mehr Sicherheit und Selbstvertrauen. Irgendwann wird der Schritt zur Annäherung an die Gleichaltrigen leichter und der gewünschte Kontakt zu älteren Kindern aus eigener Initiative hergestellt." (Will 1991, S. 346) Ähnliches gilt für entwicklungsverzögerte oder gar behinderte Kinder, die sich gegenüber sehr viel jüngeren Kindern nicht unterlegen fühlen müssen, sondern diesen oft sogar etwas beibringen können. Jutta Fetz von der Kindertagesstätte Kemperhof meint hierzu:
"Familiengruppen bieten einem behinderten und auch einem stark retardierten Kind die hervorragende Chance, immer wieder Situationen zu erleben, in denen Kinder beteiligt sind, die noch weniger können als es selbst. Gleichzeitig aber hat das behinderte Kind alle Lernanreize zur Verfügung, die sich aus der Altersmischung ergeben. Der Betreuungsaufwand ist vergleichbar mit dem Betreuungsaufwand für einen Säugling und so individuell planbar.
Bert sprach mit 22 Monaten noch kein verständliches Wort, Jo konnte mit 24 Monaten noch nicht krabbeln, Grit ist geistig behindert, Katrin fehlt ein Teil des Arms. Sie alle leben in unserem Haus und - soweit dies zur Zeit zu beurteilen ist - entwickeln sich gut.
Wir suchen, nicht nur in diesen vier Fällen, Kontakt zu den einzelnen Therapeuten unserer Kinder und konnten zu manchen Beratungs- und Therapieeinrichtungen gute Beziehungen aufbauen."
Das Vorbild der größeren Kinder und das Bestreben, so wie sie sein zu wollen, führen dazu, dass jüngere Kinder schnell selbständig werden. Zudem werden sie von den älteren unterstützt, wenn sie sich einer fürsorglichen Überwachung entziehen wollen. Da die Erzieherinnen die Kinder aufgrund der langen Verweildauer in der Gruppe gut kennen, können sie relativ gut beurteilen, welche Freiräume sie ihnen bereits geben dürfen. Zudem sind leichter individuelle Regelungen möglich, wenn ein Altersjahrgang nur durch wenige Kinder vertreten ist.
Die frühe Selbständigkeit der Kinder, die hohe Selbstorganisationsfähigkeit von Schulkindern und die Unterstützung durch ältere Kinder bei Versorgungs- und Betreuungstätigkeiten entlasten die Erzieherinnen. Diese gewinnen dadurch Zeit, um sich intensiv Kleingruppen, entwicklungsverzögerten Kindern oder Eltern zuwenden zu können. Vor allem aber können sie sich Säuglingen und Kleinstkindern mit ihrem hohen individuellen Betreuungsbedarf widmen. Sie können deren aktuellen Bedürfnisse nach Nahrung, Pflege und Zuwendung verlässlich erfüllen, ihnen Wartesituationen ersparen, mit ihnen spielen und ihnen ihre ungeteilte Aufmerksamkeit zukommen lassen.
So ganz unproblematisch wie bisher beschrieben ist aber das Zusammenleben in altersgemischten Gruppen nicht. Insbesondere die älteren Kinder wollen oft ungestört bleiben, sich untereinander austauschen. Ähnliches gilt für Kleinkinder, die sich wehren, wenn Kleinstkinder stören oder Geschaffenes kaputtmachen. So müssen die jüngeren Kinder lernen, dass die älteren nicht ständig Rücksicht auf sie nehmen und mit ihnen spielen wollen, sondern dass sie häufig ihre Ruhe haben möchten. Dies bedeutet auch, dass in weit altersgemischten Gruppen Rückzugsmöglichkeiten für die älteren Kinder geschaffen werden müssen.
Hinzu kommt, dass Schulkinder Gleichaltrige und Gleichgeschlechtliche als Freunde und Spielkameraden bevorzugen - die Auswahl in der altersgemischten Gruppe aber sehr klein ist. Für diese Problematik wurden verschiedene Lösungen gefunden: Befinden sich mehrere altersgemischte Gruppen in einer Einrichtung, so können sie sich füreinander öffnen und älteren Kindern mehr Kontaktmöglichkeiten bieten (vgl. Kapitel "Öffnung von Gruppen"). Auch kann sich die Kindertagesstätte nach außen hin öffnen und es den Schulkindern gestatten, Klassenkameraden mitzubringen. So hat beispielsweise eine siebengruppige Einrichtung einen "Schülerclub" geschaffen, in dem die älteren Kinder ungestört "Außenstehende" treffen können (Haberkorn 1994). Regeln, Aktivitäten, besondere Projekte usw. werden in einer "Schulkinderkonferenz" festgelegt. Schließlich kann man Schulkindern eine größere Selbständigkeit und Unabhängigkeit zugestehen und ihnen erlauben, sich mit Gleichaltrigen auch außerhalb der Kindertageseinrichtung zu treffen. Dies sollte aber nur in Absprache mit den Eltern ermöglicht werden.
Hier wird deutlich, dass ältere Kinder andere Rechte, besondere Privilegien und größere Freiräume benötigen als jüngere. Die Erzieherinnen müssen ihnen mehr Selbständigkeit, Eigenverantwortung und Mitbestimmung über die Gestaltung des Tagesablaufs in der Gruppe ermöglichen. Das führt natürlich immer wieder zu Auseinandersetzungen mit jüngeren Kindern darüber, wieso nicht für alle dieselben Regeln gelten. In vielen Einrichtungen mit weiter Altersmischung gibt es deshalb regelmäßig Gruppenbesprechungen bzw. Kinderkonferenzen. Hier erkennen Kinder schnell, dass aufgrund der unterschiedlichen Entwicklungsstufen verschiedene Alltagsregelungen sinnvoll sind. Gemeinsam werden dann die Regeln festgelegt, wobei natürlich immer die Zustimmung der Fachkräfte notwendig ist. Ferner werden in den Kinderkonferenzen Arbeitsteilung und Alltagsgestaltung diskutiert, Probleme und Konflikte besprochen, besondere Aktivitäten, Projekte und Ausflüge geplant.
Nachstehender Bericht von Susanne Treffer über die altersgemischte Gruppe im Sozialpädagogischen Zentrum St. Leonhard (Regensburg) soll nun das Gesagte illustrieren und ergänzen:
"Durch die lange Verweildauer der Kinder in der Gruppe von 6,5 bis zu 9 Stunden nimmt die altersgemischte Gruppe natürlich einen zentralen Platz im Tagesablauf der Kinder ein und es entstehen intensive Beziehungen zu den Erzieherinnen.
Die Fachkräfte müssen auf eine sehr intensive Betreuungsarbeit eingestellt sein, da die erst drei Jahre alt gewordenen und die unter-dreijährigen Kinder noch keine Kindergartenreife besitzen - bezogen auf die sprachliche Entwicklung, soziale Kompetenz und körperliche Entwicklung. Man darf nicht dem Irrtum erliegen, dass Altersmischung die absolut gleiche Beschäftigung von zwei- bis sechsjährigen Kindern bedeutet.
Der Tagesablauf selbst erfordert eine gut organisierte Struktur und muss auf die Entwicklungsphasen der Kinder abgestimmt sein. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, dass die Kinder trotz der gemeinsamen Erziehung auch nach ihrem Entwicklungsstand bei separat angebotenen und angeleiteten Beschäftigungen aufgeteilt werden. Nur so kann eine wertvolle und pädagogisch sinnvolle Arbeit gewährleistet werden.
Ab 7.00 Uhr morgens öffnen sich die Türen zur altersgemischten Gruppe. Die Kinder werden von der Erzieherin oder pädagogischen Mitarbeiterin begrüßt, die für diesen Tag dienstplantechnisch zum Frühdienst eingeteilt wurde. Die Kinder helfen sehr gerne bei der Vorbereitung für das Frühstück mit, das in der Gruppe gleitend angeboten wird. Schließlich sind gegen 9.00 Uhr, manchmal wird es bei einigen Familien auch später, alle Kinder eingetrudelt. Dann hat der Kleinste der Gruppe bereits seinen ersten Windelwechsel hinter sich.
Die Kinder nutzen sehr gerne so lange wie möglich alle Räumlichkeiten in ihrer Freispielzeit: Gruppenraum mit verschiedenen Funktionsbereichen wie Puppenecke, Autoecke, Lese-/Spielebereich, Tische, Toberaum, Krabbelzimmer usw. In dieser freien Situation macht sich die weite Altersstreuung besonders bemerkbar.
Der Kleinste der Gruppe setzt sein Recht durch, auf Entdeckungsreise zu gehen. Er beobachtet gerne und wird dann plötzlich selbst aktiv. Auch die Spielmaterialien, mit denen gerade die Größeren beschäftigt sind (Karten-, Brett- bzw. Legospiele oder Puzzles), sind für ihn attraktiv und von Bedeutung. Die älteren Kinder verhalten sich in solchen Momenten gegenüber den Kleinstkindern sehr hilfsbereit, zugewandt, kameradschaftlich und fürsorglich. Sie sind bereit, ihr Spiel zu unterbrechen, um gegebenenfalls den Kleinen zu helfen. Dann setzen sie das abgebrochene Spiel zu einem späteren Zeitpunkt fort.
Während eine Mitarbeiterin mit mehreren Kindern in einer konkreten Spielsituation beschäftigt ist (Memory), versucht eine andere Kollegin gerade, den Abschied zwischen einer Mutter und deren Kind zu vermitteln. Während der Freispielzeit treffen sich noch einmal alle Kinder am Esstisch, um ein letztes Mal zu frühstücken.
Im sich anschließenden Gesprächskreis stellen wir unser Angebot vor und bilden entsprechend unserer beabsichtigten Beschäftigungen Kleingruppen. Je nach der pädagogischen Situation, z.B. einer Darbietung nach Kett, werden die Kinder natürlich gefragt, woran sie sich beteiligen möchten, und nutzen ihr Mitspracherecht. Die Kleinstkinder nehmen allerdings nicht regelmäßig an den Gesprächskreisen teil. Die Kinderpflegerin zieht sich dann mit den Ein- bis Zweijährigen in das Krabbelzimmer zurück.
Das Bedürfnis, einfach nur spielen zu wollen, ist sehr groß, so dass wir uns Flexibilität bewahren und einen späteren Zeitpunkt des Tages für die angeleitete Beschäftigung wählen, denn schließlich sind wir bis 18.00 Uhr beisammen.
Unser Toberaum, den wir erst im Nachhinein eingerichtet haben - gerade um dem Bedürfnis der Kinder nach mehr Bewegung nachzukommen -, regt zu vielen phantasievollen Rollenspielen an. Matratzen werden zu Häusern getürmt, Höhlen gebaut und andere gute Ideen in eine Aktivität umgesetzt. Auch wird eine Art Bewegungsbaustelle gestaltet.
Wir betreiben keine konventionelle Arbeit, bei der jede Mitarbeiterin nur für bestimmte Kinder zuständig ist. Schon wegen der langen Öffnungszeit würde eine zugeteilte Betreuungsarbeit nicht funktionieren. Wichtig ist, dass der Informationsaustausch der Mitarbeiterinnen untereinander funktioniert. Unsere Vorgehensweisen für den Tag haben wir wohl schon im Forum abgeklärt, aber es ist notwendig, sich noch einmal jeden Morgen kurz abzusprechen.
Es soll nicht der Eindruck erweckt werden, dass wir mit den Kindern in den Tag hineinleben und ihn vergehen lassen oder unsere Aktivitäten in Tür- und Angelgesprächen absprechen. Natürlich sind wir im Team auf eine gute Planung bedacht und gestalten Wochen- und zur besseren Übersicht für die Eltern auch Monatspläne, die ausgehängt werden. Attraktive Angebote, an denen sich die Kinder mit Freude beteiligen, sind Schwimmen, Töpfern, Jahresthemen wie 'Sonne, Mond und Sterne', Geburtstagsfeste, Turnen im Gymnastiksaal u.a.
Nach dem gemeinsamen Mittagessen beginnt das Mittagsruheritual. Die Kinder gehen geschlossen in den Waschraum, um sich die Zähne zu putzen. Nach einem gemeinsamen Lied, Farben-Erraten oder einem 'Geh in den Schlafraum'-Spiel, kuscheln sich die Kinder auf ihre Matratzen.
Nach der Mittagsruhe ist für jedes Kind wieder Freispielzeit angesagt. Ein kleiner Imbiss wird angeboten. Findet sich eine größere Gruppe zusammen, überraschen wir die Kinder mit einem attraktiven Angebote. Sonst wird vorgelesen, gebastelt oder einfach gespielt.
Auch ist es mir ein Anliegen, den Tagesablauf der Kindergruppe nicht auf die eigenen Räumlichkeiten zu beschränken, sondern die Türen nach außen zu öffnen. Auf diese Weise sollen die Kinder lernen, sich auch mit ihrer Lebensumwelt auseinanderzusetzen. Durch ein breites Angebot verschiedener Außenaktivitäten, die auch in Bezug zu der pädagogischen Projektarbeit stehen, können Kinder neue Erfahrungen sammeln, soziale Kontakte knüpfen und sich am Leben ihres unmittelbaren Umfeldes beteiligen.
Wichtig ist mir auch eine konstruktive Elternarbeit. Bei einer weit altersgemischten Gruppe kann man von den Eltern eine größere Bereitschaft zu einem offenen Umgang miteinander erwarten, weil die Kinder über einen ziemlich langen Zeitraum in der Gruppe verweilen. Dadurch vertieft sich nicht nur die Beziehung der Erzieherin zum Kind, sondern auch zu den Eltern."
3. Rahmenbedingungen
Wohl alle Befürworter und Praktiker einer weiten Altersmischung sind der Meinung, dass diese nur bei besseren Rahmenbedingungen als in Regeleinrichtungen möglich sei. So wird übereinstimmend vertreten, dass 15 Kinder pro Gruppe das Maximum seien - sowohl bei der "kleinen" als auch bei der "großen" Altersmischung. Hinsichtlich der Zusammensetzung der Gruppe ist zu beachten, dass alle Altersgruppen mit annähernd gleichen Zahlen und einem ausgewogenen Verhältnis zwischen Jungen und Mädchen vertreten sind. Bei der "kleinen" Altersmischung ist besonders wichtig, dass nicht zu viele Säuglinge in der Gruppe sind, da dann für sie frustrierende Wartesituationen entstehen können. Auch wären die Fachkräfte durch Pflege- und Versorgungstätigkeiten so belastet, dass sie sich zu wenig der Betreuung und Erziehung älterer Kinder widmen würden. Bei der "großen" Altersmischung sollte es - wie bereits erwähnt - mindestens zwei Gruppen in der Einrichtung geben und möglichst der Kontakt zu Klassenkameraden und Freunden erlaubt sein, die nicht in der Tagesstätte betreut werden. Nur auf diese Weise kann sichergestellt werden, dass insbesondere ältere Kinder genügend Möglichkeiten für altershomogene und gleichgeschlechtliche Freundschaften haben. Da zumindest nach einer wissenschaftlichen Untersuchung die Fluktuation bei Kindern in weit altersgemischten Gruppen relativ groß ist (siehe Ministerium für Kultur, Jugend, Familie und Frauen des Landes Rheinland-Pfalz 1994), sollten beim Ausscheiden von Kindern möglichst Gleichaltrige neu aufgenommen werden, um die Ausgewogenheit der Altersmischung weiter gewährleisten zu können.
Insbesondere bei der Betreuung mehrerer Säuglinge und Kleinstkinder bzw. bei Öffnungszeiten von mehr als acht Stunden wird ein Personalschlüssel von mindestens 2,5 Stellen pro Gruppe gefordert - in der Realität sind es häufig drei und vereinzelt sogar vier Stellen. Zur Begründung schreiben z.B. Merker und Schlüter-Kröll (1991): "Die personelle Besetzung muss für jedes Kind seinen aktuellen, individuellen Bedürfnissen entsprechend Zuwendung und Ansprache durch Erwachsene sichern, außerdem eine Differenzierung der pädagogischen Arbeit zulassen, die den unterschiedlichen Spielbedürfnissen und Interessen der Kinder entspricht." (S. 344) Dies kann auch zu einer gewissen Arbeitsteilung zwischen den Fachkräften führen, wie sie beispielsweise Susanne Treffer für die altersgemischte Gruppe im Sozialpädagogischen Zentrum St. Leonhard (Regensburg) beschreibt:
- Leiterin: verantwortlich für Organisation, Planung, verwaltungstechnische Aufgaben, Kindergruppe der Drei- bis Vierjährigen, Töpfergruppe, Projektangebote, Leitung der gemeinsamen Gruppe am Praktikantentag, Mitdurchführung von Aktivitäten, Öffentlichkeitsarbeit
- 2. Erzieherin: Kindergruppe der viereinhalb- bis sechsjährigen Kinder, verantwortlich für Planung und Organisation der Schwimmgruppe, Projektarbeit mit Vorschulkindern, Organisation und Durchführung von Außenaktivitäten wie Ausflüge oder Besuch des Münchner Planetariums
- Kinderpflegerin: Intensivbetreuung der Kleinstkinder unter drei Jahren, Planung, Organisation und Durchführung aller Geburtstagsfeiern in Verbindung mit der Leiterin und Eltern, Schwimmgruppe, Durchführung und Mitorganisation von Aktivitäten
- Praktikantin: Einteilung des Jahrespraktikums in drei Phasen:
- September bis Januar: ein- bis zweijährige Kinder,
- Februar - April: zwei- bis vierjährige Kinder,
- Mai - Juli: vier- bis sechsjährige Kinder;
- ein Praktikantentag pro Woche als Angebotstag für die altersgemischte Gruppe
- alle Mitarbeiterinnen: Elternarbeit, Elterngespräche usw.
- Deutlich wird, dass eine Arbeitsteilung nur ansatzweise möglich ist. Letztlich müssen alle Fachkräfte Kinder aus allen Altersgruppen bilden, erziehen und betreuen. Dies setzt umfassende entwicklungspsychologische, pädagogische, didaktische und methodische Kenntnisse und Fertigkeiten voraus. Die Fachkräfte sollten sehr flexibel sein, da sie immer wieder auf ganz verschiedene Bedürfnisse, Wünsche, Probleme und Verhaltensweisen reagieren sowie zwischen den unterschiedlich alten Kindern differenzieren müssen. Da somit die pädagogische Arbeit sehr anspruchsvoll ist, besteht ein hoher Bedarf an Fortbildung und Fachberatung, aber auch an Abstimmung innerhalb des Teams. Letzteres ist jedoch im Vergleich zu Regeleinrichtungen nur unter erschwerten Bedingungen möglich: Einerseits ist bei langen Öffnungszeiten Schichtarbeit unvermeidbar (ein gestaffelter Dienstbeginn ist übrigens pädagogisch sinnvoller als Notgruppen). Andererseits entfällt aufgrund der unterschiedlichen Schlafbedürfnisse der Kinder die Mittagspause als Zeitraum für Teambesprechungen. Somit werden an die Dienstplangestaltung hohe Anforderungen gestellt - und natürlich an die Leiterin der Kindertagesstätte.
Je mehr Altersstufen in einer weit altersgemischten Gruppe vertreten sind, umso differenzierter müssen das Raumangebot, die Ausstattung und die vorhandenen Materialien sein. Zumeist wird ein Minimum von drei Räumen pro Gruppe für notwendig erachtet - ein Gruppenraum, ein Nebenraum und ein Säuglings-, Schlaf- oder Hausaufgabenraum. Das "Haus für Kinder und Eltern" in Kempten hat auch gute Erfahrungen damit gemacht, den Hausaufgabenraum gleichzeitig als Schlafraum für die Kleinkinder zu nutzen: Beide Altersgruppen verhalten sich ruhig und nehmen Rücksicht aufeinander; die Schulkinder stören einander nicht beim Erledigen der Hausaufgaben. Insbesondere Einrichtungen mit "großer" Altersmischung verfügen oftmals über mehr als drei Räume pro Gruppe. Hinzu kommen in der Regel Mehrzweckräume sowie vereinzelt Werkstätten, Ateliers, Esszimmer, Turnhallen, Sand- und Matschräume, Lesezimmer und andere gemeinsam genutzte Räumlichkeiten. Beispielsweise verfügt die Kindertagesstätte Kiel-Friedrichsort über einen für alle Kinder zugänglichen "Großraum" mit Spielgeräten, einer Sitzecke und einer Bühne, in dem Kinder aus mehreren Gruppen dem Freispiel nachgehen können und auch größere Veranstaltungen möglich sind.
Ansonsten sollten möglichst alle Gruppenräume auch zum Spielen und für Beschäftigungen nutzbar sein. Schäfer (1993) ergänzt: "Auch wenn es Räume gibt, die vorzugsweise von bestimmten Altersgruppen genutzt werden, müssen diese insgesamt Lebensraum aller Kinder zugleich sein. Allerdings kristallisiert sich mit zunehmendem Alter der Kinder die Notwendigkeit heraus, Tabuzonen zuzulassen und gegebenenfalls zu organisieren." (S. 34) Insbesondere Schulkinder beanspruchen Ecken für sich und möchten diese auch nach ihren eigenen Vorstellungen ausgestalten. Hinsichtlich der Ausstattung der Innen- und Außenräume gilt, dass für alle Altersgruppen entsprechende Tische, Stühle, Spielgeräte, Materialien usw. vorhanden sein müssen. Hier wird deutlich, dass aufgrund des differenzierten Raum- und Ausstattungsbedarfs von weit altersgemischten Gruppen die Investitionskosten höher als in Regeleinrichtungen sind. Die Personalkosten liegen zumeist zwischen denen einer Kinderkrippe und eines Ganztagskindergartens.
4. Vor- und Nachteile der weiten Altersmischung
Schon an mehreren Stellen in diesem Kapitel ist angeklungen, dass die weite Altersmischung - in viel stärkerem Maße als andere Formen des "offenen" Kindergartens - nicht nur mit Vorteilen, sondern auch mit Nachteilen verbunden ist. Dies soll abschließend anhand einiger Beispiele erläutert werden. Positiv zu bewerten ist sicherlich, dass Kinder - und Geschwister - über Jahre hinweg dieselbe Kindertagesstätte besuchen können und ihnen damit Übergangskrisen und Beziehungsabbrüche erspart bleiben. Die "andere Seite der Medaille" wird von der Sozialpädagogischen Fortbildungsstätte Haus am Rupenhorn/Der Senator für Schulwesen, Jugend und Sport Berlin (1993) angedeutet: "Kinder und Erzieher/in müssen über Jahre miteinander auskommen; ohne die Hoffnung, sich - wenn sie sich in der Gruppe nicht wohlfühlen - nach einem Jahr trennen zu können. Außenseiter bzw. 'auffällige' Kinder werden in ihrem Verhalten festgelegt." (S. 45) Ein Kind. das von einer leistungsschwachen, einer einseitig (z.B. rein kognitiv) orientierten oder ihm gegenüber negativ eingestellten Erzieherin betreut wird oder dem bestimmte Rollen ("Gruppenclown", "Assistentin" der Fachkraft usw.) zugeschrieben wurden, hat wenig Chancen, in einer anderen Kindertagesstätte bessere Erfahrungen zu machen. Außerdem gibt es auch in weit altersgemischten Gruppen als schmerzlich erlebte Beziehungsabbrüche, da es hier wie in Regeleinrichtungen einen großen Personalwechsel gibt, oder wenn ein Kind ausscheidet, dass für viele Jahre als "große Schwester" oder "bester Freund" erfahren wurde.
Positiv zu bewerten ist sicherlich, dass ältere Kinder jüngeren als Vorbilder und Verhaltensmodelle dienen, ihnen vieles beibringen, ihre Selbständigkeit fördern, sie emotional stützen sowie eventuell zu einer beschleunigten kognitiven und Sprachentwicklung beitragen. Offensichtlich ist aber auch, dass ältere Kinder jüngere negativ beeinflussen und immer wieder als Spielpartner (da "unfähig") zurückweisen können. Renate Thiersch (1995) meint: "Größere Kinder können kleinere durch abwertende Kommentare durchaus entmutigen und kränken, wenn sie deren Bilder, Bauwerke oder Erzählungen mit bissigen Kommentaren belegen. Größere können Kleineren angst machen, weil sie einfach so viel größer sind" (S. 17), fortwährend ihre Stärke und Überlegenheit ausspielen oder bei Störungen durch sie aggressiv reagieren.
Ein Vorteil der weiten Altersmischung ist sicherlich das Vorherrschen selbstbestimmten Lernens und der Selbsttätigkeit. Auch ist der Leistungsdruck gering, da es im Vergleich zu Regeleinrichtungen weniger Wettbewerb mit Gleichaltrigen gibt. Allerdings erleben die Kinder aufgrund von Individualisierung und Differenzierung - zumindest nach vielen schwedischen Forschungsergebnissen (siehe z.B. Sundell 1994a, b) - weniger Bildungsangebote und direkte Förderung durch die Erzieherinnen. Ältere Kinder fühlen sich leicht unterfordert, da es für sie nur noch wenige Personen in der Gruppe gibt (zumeist Erwachsene), von denen sie lernen können. Auch besteht die Gefahr, dass die Kinder zu wenig auf die Schule, insbesondere auf die Konkurrenz mit einer großen Anzahl Gleichaltriger, vorbereitet werden.
Für die Fachkräfte ist die Arbeit aufgrund der weiten Altersspanne einerseits interessant und abwechslungsreich, andererseits schwer zu planen und vorzubereiten. Da die Gruppen meist klein sind, haben sie viel Zeit für die wenigen Säuglinge und Kleinstkinder bzw. können individueller auf die Lernprobleme der wenigen Schulkinder eingehen. Auch können sie viel mit Klein- und Projektgruppen arbeiten. Es besteht jedoch die Gefahr, dass sie sich auf eine bestimmte Altersgruppe konzentrieren (auf kleinere Kinder, da diese viel Pflege, Aufmerksamkeit und Zuwendung verlangen, oder auf ältere, da die Arbeit mit ihnen vielfältiger ist). Außerdem haben sie oft das Gefühl, ältere Kinder zu unterfordern und ältere zu überfordern sowie zu wenig mit der Gesamtgruppe zu arbeiten (auch weil sie dann oft durch die kleinen Kinder gestört werden). Da die wenigen Schulkinder verschiedene Klassen besuchen, müssen die Fachkräfte den Unterrichtsstoff mehrerer Jahrgangsstufen kennen und Kontakt zu relativ vielen Lehrer/innen halten. Schließlich können sie den einzelnen Kindern nur recht wenig altersentsprechende Spielsachen zur Verfügung stellen, da für jede der vielen Altersgruppen geeignetes Material benötigt wird, Stauraum und finanzielle Mittel aber begrenzt sind.
Ein Vorteil der weiten Altersmischung ist sicherlich, dass eine langfristige Erziehungspartnerschaft mit den Eltern möglich ist. Kindertageseinrichtung und Familie öffnen sich im Verlauf der langen Zusammenarbeit immer mehr füreinander. Beide Seiten lernen einander sehr gut kennen und beeinflussen einander. Da jedes Jahr nur wenige Eltern dazukommen, können sie schnell integriert werden. Mögliche Nachteile können z.B. aus Distanzlosigkeit - wenn Eltern zu Freunden werden - oder aus der Konkurrenz mit ihnen resultieren, wenn sich eine Erzieherin aufgrund des langjährigen und intimen Kontaktes zu den Kindern als die "bessere Mutter" sieht. Auch muss sich die Fachkraft u.U. für bis zu zehn und mehr Jahre mit "problematischen" Eltern (z.B. Quertreibern) auseinandersetzen.
Für die Eltern ist von Vorteil, dass sie ihr Kind - und insbesondere Geschwister - für viele Jahre in derselben Einrichtung unterbringen können und nicht verschiedene Betreuungsarrangements suchen müssen. Auch erscheint ihnen ein Engagement in der Kindertagesstätte aufgrund der langen Zeitperspektive sinnvoller zu sein als bei Regeleinrichtungen. Auch ist die Wahrscheinlichkeit größer, dass sich die Eltern aufgrund des langen Kontakts und der geringen Fluktuation gut kennenlernen, zu einem offenen Gesprächs- und Erfahrungsaustausch gelangen, gemeinsame (Freizeit-) Aktivitäten planen und einander bei Problemen unterstützen (Familienselbsthilfe). Nachteilig kann sich jedoch auswirken, wenn Mütter (in geringerem Maße auch Väter) die Erzieherinnen aufgrund ihrer intensiven Beziehung zu den Kindern als Konkurrentinnen erleben. Auch haben viele Eltern, die sehr kleine oder Schulkinder fremdbetreuen lassen, keine bzw. kaum Zeit für Aktivitäten im Rahmen der Elternarbeit. Da zumeist nur Ganztagsplätze vergeben werden, müssen sie schließlich ihr Kind wieder abmelden, wenn der Betreuungsbedarf geringer geworden ist.
Abschließend ist festzuhalten, dass Erzieherinnen vor der Einführung der "kleinen" oder der "großen" Altersmischung deren Vor- und Nachteile genau abwägen sollten. Nur wenn sie sich über die mit dieser Form der Öffnung verbundenen möglichen Probleme im klaren sind, können sie von Anfang an - konzeptionell und praktisch - daran arbeiten, sie zu vermeiden.